1 Einleitung
»Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen,
wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen,
aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben,
die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei
des Gewohnten befreien.«
BERTRAND RUSSELL1
Alle haben Familie. Und die Beziehung zur eigenen Familie ist gewiss nicht immer leicht. Kürzlich erst hat mir ein Freund erzählt, wie schwierig sein Verhältnis zu seinen Eltern ist. Er war nicht der Erste und wird sicher nicht der Letzte sein, von dem ich so etwas höre. Mein Freund und seine Frau arbeiten beide gern und viel. Seine Eltern werfen ihm seit einiger Zeit vor, seinem Kind keinen geregelten Alltag zu bieten. Vor allem behaupten sie, der Junge leide unter der Trennung von seiner Mutter, die viel zu oft abwesend sei. Die Mutter meines Freundes kann außerdem nicht verstehen, warum Frauen heutzutage eigentlich immer alles haben müssten.
Mein Freund ist die ständigen Sticheleien leid. Er hat schon überlegt, einfach länger nicht mehr zu seinen Eltern zu fahren. Gleichzeitig will er seinen Eltern ihr Enkelkind nicht vorenthalten, und natürlich sind ihm seine Mutter und sein Vater auch wichtig. Da er ihre Bemerkungen aber einfach nicht mehr erträgt und die Reiserei in die Stadt seiner Eltern sowieso viel Aufwand ist, hat er sich jetzt entschieden, nicht zum achtzigsten Geburtstag des Vaters zu fahren. Seine Eltern sind tief gekränkt, und seine Schwester macht ihm bittere Vorwürfe: Immerhin seien das doch seine Eltern, und der achtzigste Geburtstag sei nicht irgendein Geburtstag. Mein Freund hat ein schlechtes Gewissen: Natürlich hat seine Schwester recht, Eltern sind etwas Besonderes, und er weiß ja auch, wie wichtig es ihnen ist, dass er und seine Schwester zu diesem Fest erscheinen – auch, weil sein Vater an einer beginnenden Demenz leidet und seine Mutter sich für den großen Abend Unterstützung von ihren Kindern erhofft hatte.
Das Ganze ist schlicht zermürbend. Dabei sollte es doch schön sein, eine Familie zu haben! Mein Freund fragt sich: Macht seine Schwester ihm zu Recht Vorwürfe? Ist er hartherzig, wenn er erst einmal vor allem an sich denkt? Muss man sich als Sohn nicht einfach um seine Eltern kümmern?
Ich kenne seine Familie gut. Ich habe auch die Eltern oft getroffen und halte sie für hilfsbereite, freundliche Menschen. Sie mögen manchmal etwas veraltete Vorstellungen haben, was Erziehung und Gleichstellung anbelangt – aber bösartig erschienen sie mir nie. Dennoch finde ich falsch von ihnen, dass sie ihrem Sohn Vorhaltungen zu seiner Lebensweise machen. Aber andererseits: Ist es nicht trotzdem respektlos von meinem Freund, wenn ausgerechnet er als Sohn sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens wie einem hohen Geburtstag allein lässt?
Solche und ähnliche Geschichten gibt es überall. Viele in meinem Umfeld sind beruflich sehr eingespannt, manche arbeiten im Ausland, haben zeitintensive Hobbys oder einen großen Freundeskreis. Die meisten gründen, sind sie erst mal erwachsen, eigene Familien mit Partnerinnen, Partnern und Kindern, die von da an ebenfalls ihre Ansprüche geltend machen. Allein schon aus zeitlichen Gründen verläuft der Kontakt zu den eigenen Eltern oft nicht reibungslos – wobei das sicher nicht das einzige Problem zwischen den Generationen ist, wie dieses Buch zeigen wird.
Und alle fragen sich: Was schulde ich meinen Eltern? Sollte ich meine Eltern öfter besuchen oder wenigstens regelmäßiger anrufen? Ist es etwa falsche Rücksichtnahme von mir, meinem Vater zu verschweigen, dass ich seine lehrerhaften Leserbriefe an seine Lokalzeitung peinlich finde? Oder im Gegenteil das gebotene Maß an Höflichkeit? Müssen längst erwachsen gewordene Kinder den Wunsch ihrer Mutter respektieren, dass sie keine Pflegehilfe möchte, und sich damit abfinden, dass sie im Alter immer ungepflegter erscheint? Müssen sie sich die politischen Ansichten ihrer Eltern immer weiter anhören, auch wenn sie sie abscheulich finden? Dürfen sie den Eltern sagen, dass sie die Einladung in die Ferien großartig finden, aber lieber allein in Urlaub fahren möchten? Dürfen Kinder schließlich ein paar Jahre später die antike Kommode, die ihnen die bereits verstorbenen Eltern vermacht haben, auf Ebay versteigern? Was schuldet jeder von uns seinen Eltern – als deren Tochter, als deren Sohn? Ist allein schon der Umstand, dass wir alle jemandes Kinder sind, auch ein Anlass für eine Verpflichtung diesen Menschen gegenüber?
Dieses Buch geht diesen Fragen auf den Grund. Es untersucht, ob Kinder sich, wenn sie erst einmal erwachsen sind, speziell um ihre Eltern kümmern müssen, und zwar allein deshalb, weil sie ihre Kinder sind. Diese Frage ist zugegebenermaßen unbequem. Sie auch nur aufzuwerfen, klingt undankbar – als würde man sich darüber unterhalten, ob man dem Kellner wirklich ein Trinkgeld schuldet, und damit bereits signalisieren, dass man mit seinen Diensten nicht zufrieden war. Eltern jedoch haben in aller Regel reichlich in die ›Dienste‹ an ihren Kindern investiert – ja, ohne ihr Zutun gäbe es die Kinder nicht einmal. Doch die Frage zu stellen, ob wir unseren Eltern überhaupt zu etwas verpflichtet sind, muss nicht Ausdruck von fehlender Dankbarkeit sein und schon gar nicht eine Absage an die Beziehung zu ihnen.
Dabei stimmt natürlich, dass wir in persönlichen Beziehungen meist erst dann nach unseren Pflichten fragen, wenn Sand im Getriebe knirscht. Frisch Verliebte fragen eher nicht, was sie sich schuldig sind, sondern lesen sich die Wünsche gegenseitig von den Lippen ab. Und auch enge Freundinnen und Freunde werden sich selten fragen, was sie einander schulden – und tun sie es doch wiederholt, ist das meist ein Anzeichen dafür, dass sie sich der Verbindung zueinander nicht ganz sicher sind. Der deutsche Philosoph Rüdiger Bittner hat deshalb Pflichten und Rechte im Fall von Beziehungen als »Störungsbegriffe« bezeichnet: Wir nehmen erst Bezug auf die Sprache der Moral, wenn es in Beziehungen nicht rund läuft – beispielsweise, wenn wir uns im Stich gelassen fühlen oder uns das Verhalten des Gegenübers irritiert. Möglich, dass bereits die Frage, was genau wir eigentlich unseren Eltern schulden, auf eine solche Störung hinweist. Doch Beziehungen, und gerade Familienbeziehungen, sind eben nicht ausschließlich Schönwetterveranstaltungen. Der Familienstreit gehört zur Familie ebenso dazu wie das Familienglück. Und weil wir alle früher oder später auch mit den schwierigen Seiten von Familien konfrontiert werden können, lohnt sich die Auseinandersetzung mit der Frage, wozu Familie moralisch verpflichtet, auf jeden Fall.
Natürlich ist es auch möglich, dass man das Verhältnis zu den eigenen Eltern durchaus als intakt empfindet – sich aber dennoch etwa die Frage stellt, ob man sich mehr um sie kümmern sollte, ob man sie zu oft für die Betreuung der Enkel einspannt oder sich in Konflikten loyaler zeigen müsste. Die Klärung der Frage, ob Familienmitglieder einander etwas schulden, muss also nicht zwingend auf einen schwelenden Konflikt hinweisen. Ebenso gut kann sie Ausdruck des redlichen Bemühens sein, für sich selbst Klarheit darüber zu bekommen, was eigentlich in einer Familie von einem verlangt ist. Denn in der Regel wollen letztlich die Allermeisten in einem moralischen Sinn anständig leben. Und für sich selbst Gewissheit haben, dass sie ihrer Verantwortung nachkommen und niemanden zu Unrecht übergehen.
Gerade in Familien sieht man sich aber leicht mit diffusen Erwartungshaltungen konfrontiert – von den Eltern, von sich selbst, von Dritten. Wir denken, wir dürften uns gewisse Freiheiten nicht nehmen, und sind gleichzeitig verstimmt, weil wir die Ansprüche des Gegenübers als übertrieben empfinden. In diesem Zwiespalt wollen wir unser schlechtes Gewissen gern ablegen und Vorwürfe gelassen kontern können. Sind wir wirklich der liederliche Sohn, die unnütze Tochter, für die uns andere vielleicht halten? Gehen wir zu Recht so hart mit uns ins Gericht, wenn wir uns Freiheiten herausnehmen, die Mutter und Vater missfallen? Die Empörung, mit der andere auf unser Verhalten reagieren, kann manchmal durchaus ein Hinweis darauf sein, dass wir moralische Fehler begehen und unser Verhalten ändern sollten. Unser eigenes schlechtes Gewissen hat eine ähnliche Funktion: Als eine Art »internalisierte Empörung«2 kann es uns selbst zur Ordnung rufen, indem es uns signalisiert, dass wir eine Grenze zum Unrecht überschritten haben. Doch ist ein schlechtes Gewissen – und ebenso sein Ausbleiben – nicht immer die verlässlichste Partnerin, wenn es darum geht, abschließend zu beurteilen, ob und wie wir gut und richtig handeln. Nur weil sich in uns oder in anderen Widerstand regt, heißt das noch nicht, dass wir auch tatsächlich etwas falsch machen, sondern es bedeutet erst einmal nur, dass wir nachfragen und darüber nachdenken müssen, ob die Empörung auch begründet ist. Finden wir keine Gründe, besteht vielleicht auch gar keine Pflicht. Nach unseren moralischen Pflichten zu fragen, heißt deshalb immer auch, vertraute Konventionen zu hinterfragen und tiefer zu bohren nach dem Fundament, von dem aus Ansprüche geltend gemacht werden, mit denen wir uns konfrontiert sehen oder andere konfrontieren.
Die Tiefenbohrung in diesem Buch gibt eine klare Antwort auf die Frage, was Kinder ihren Eltern schulden – nämlich nichts. Die Meisten gehen allerdings ganz im Gegenteil davon aus, dass allein die Tatsache, dass jemand mein Vater, meine Mutter ist, mich in besonderer Weise moralisch verpflichtet. Ich will zeigen, dass das in dieser Form nicht zutrifft. Was natürlich nicht heißt, dass wir unsere Eltern...