Gewalttaten erfolgreich überstehen
Selbstverteidigung besteht nicht nur aus dem Erlernen von Techniken. Gewalterfahrungen sind vom Wesen her furchterregend, sie erschüttern bis ins Mark und rufen auf mehreren Ebenen extreme Reaktionen hervor: auf der emotionalen/psychischen Ebene und auf der physiologischen Ebene. Gutes Training bereitet auch auf diese Aspekte der Gewalt vor.
Emotionale Reaktionen
Zu den emotionalen Reaktionen auf eine Gewalterfahrung (oder auch nur drohende Gewalt) zählen sämtliche naheliegenden Extreme der Angst (um sich selbst und um andere) und der Wut (darüber, in Gefahr geraten zu sein). Die Ehefrau eines der Autoren wurde einmal im Auto entführt und erinnert sich daran, nicht nur Angst, sondern auch Empörung und Verwirrung gespürt zu haben. Immer wieder fragte sie den Entführer: »Wieso machen Sie das? Wieso?« Sie erwartete keine Antwort, aber ihre Empörung verlangte danach (mehr dazu weiter unten). Einer der Autoren sah sich einmal mit der Schusswaffe bedroht (bevor er Krav Maga lernte) und weiß noch, dass ihn nicht nur die Angst packte, sondern auch Wut und der Widerwille, den Räuber gewähren zu lassen.
Aber emotionale Reaktionen sind in der Regel Probleme, mit denen man sich im Nachhinein beschäftigt, wenn man sich selbst oder andere Traumatisierte therapiert. Während der Konfrontation selbst sind emotionale Reaktionen meist Symptome starker körperlicher oder psychischer Reflexe und mit eben diesen werden wir uns im Folgenden befassen.
Kampf oder Flucht
Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion, auch »akute Stressreaktion« genannt, wurde in den 1920er-Jahren erstmals von Dr. Walter Cannon erforscht. Bei der Kampf-oder-Flucht-Reaktion pumpt das Nervensystem Adrenalin und Noradrenalin ins Blut, wodurch die Herzfrequenz angetrieben, die Blutgefäße verengt und die Muskeln angespannt werden. Auf diese Weise macht sich der Körper für einen plötzlichen Ausbruch extremer körperlicher Anstrengung bereit. Interessant ist übrigens (besonders für eine instinktbasierte Methode wie Krav Maga), dass eine hohe Konzentration bestimmter Hormone (Katecholamine) an Neurorezeptoren den Körper dazu bringt, spontanen und intuitiven Impulsen zu folgen, die in Kampf- oder Fluchtsituationen oft hilfreich sind.1
Aber was passiert genau während der Kampf-oder-Flucht-Reaktion? Im Folgenden sind einige der häufigsten körperlichen und psychischen Reaktionen beschrieben.
Physische Reaktionen
Grob gesagt steigt die Körperkraft in intensiven Stressphasen stark an, während die Geschicklichkeit stark nachlässt. Man erlebt eine sehr kurze Zeitspanne extremer körperlicher Leistungsfähigkeit (was jedoch leider keinen Spaß macht!), allerdings ohne viel Feinmotorik. Aus diesem Grund müssen alle eingesetzten Abwehrtechniken ohne präzise Bewegungen auskommen. Zusammengefasst geschieht Folgendes:
•Herzfrequenz steigt,
•Blutdruck steigt,
•Atemfrequenz steigt,
•Schmerzempfindlichkeit sinkt,
•Körperkraft steigt (und fällt danach drastisch),
•Schnelligkeit steigt,
•Feinmotorik verschlechtert sich drastisch.
Psychische Reaktionen Einige der interessantesten (und problematischsten) Reaktionen auf Stress- und Gewalterfahrungen sind psychisch begründet. Hier sind die häufigsten:
Tachypsychie: Tachypsychie bezeichnet die veränderte Zeitwahrnehmung des Hirns unter Stress. In Belastungssituationen schaltet das Gehirn in den Turbo-Modus und verarbeitet Informationen rascher. Als Folge scheint alles in Zeitlupe zu passieren, obwohl man sich wahrscheinlich sehr schnell bewegt (und der Gegner auch). Tachypsychie kann auch andersherum wirken, sodass ein vom Angriff überraschtes Opfer vom Tempo der Ereignisse überwältigt wird.
Tunnelblick: Vor lauter Konzentration auf die Bedrohung blendet das Gehirn alles andere aus. Die Ränder des Sichtfelds werden kaum oder gar nicht wahrgenommen, man blickt wie durch eine Röhre oder einen Tunnel. Um Dinge außerhalb des engen Sichtfelds zu sehen, bedarf es einer Willensanstrengung. Im Sinne des Überlebensinstinkts ist der Tunnelblick nützlich, denn er fokussiert die Aufmerksamkeit auf die unmittelbare Bedrohung. Allerdings kann er zum Problem werden, wenn man es mit mehreren Angreifern oder einer unberechenbaren Umgebung zu tun hat.
Selektives Hören: »Tunnelgehör«, wenn man so will. Es handelt sich um die auditive Version des Tunnelblicks und um eine Extremform des Cocktailparty-Effekts, der Hintergrundgeräusche unterdrückt. Das Gehirn blendet alles aus, was nicht unmittelbar überlebensrelevant erscheint. Der Nachteil des selektiven Hörens ist, dass man möglicherweise Zurufe von Verbündeten überhört, die auf Gefahr von hinten oder auf Fluchtmöglichkeiten hinweisen.
Vertauschte Prioritätenhierarchie: Das Gehirn speichert
Erinnerungen in falscher Reihenfolge ab und dabei erhalten kleine Details (die Farbe von Schnürsenkeln, die Richtung eines Scheitels) große Bedeutung, während wichtige Informationen (Schusswaffenmodell, Augenfarbe, Nummernschild) verblassen und verschwinden.
Leugnung: Das Gehirn weigert sich einfach, die Gefahr wahrzunehmen (dies passt zur erwähnten Erstarrungsreaktion) oder schaltet angesichts drohender Verletzung auf Durchzug.
All diese Reaktionen geschehen instinktiv. Sie sind im Gehirn und im Körper fest verdrahtet und lassen sich nicht völlig ausschalten, egal, wie viel man trainiert. Allerdings können effektive Trainingsmethoden die schädlichen Seiten dieser Mechanismen (selektives Hören, Leugnung und Ähnliches) eingrenzen und nützliche Nebenwirkungen wie die Tachypsychie verstärken (sodass alles langsamer und beherrschbarer erscheint). Durch Training lässt sich auch die feinmotorische Leistungsfähigkeit erhöhen, da der Körper lernt, den mit einem Angriff verbundenen Adrenalinschub wegzuregeln.
Übungen zur Verbesserung unwillkürlicher Reaktionen
Richtig durchgeführte Stressübungen sollen den Lernenden an den physischen und psychischen Stress einer gewalttätigen Konfrontation gewöhnen. Selbstverständlich kann keine Übung jemals die Gefahr und den Stress einer echten lebensbedrohlichen Situation auf ungefährliche Weise simulieren. Aber immerhin können wir durch Übungen die typischen Empfindungen in geringerem Ausmaß nachbilden oder ein oder zwei Stresselemente hervorrufen. Nehmen wir zum Beispiel Tunnelblick und selektives Hören. Man kann ohne Weiteres den Schüler in einer Übung unter Stress setzen und ihm dann beibringen, weiterhin die Umgebung wahrzunehmen.
1. Beispiel: Für diese Übung braucht man drei Teilnehmer (einen Verteidiger und zwei Angreifer) und ein Schlagpolster. Der Verteidiger muss einfache Kampftechniken und mindestens eine Abwehrtechnik beherrschen (zum Beispiel den Würgegriff von vorn, Seite 136). Der Verteidiger steht mit geschlossenen Augen in neutraler Haltung (nicht in Bereitschaft). Sobald er die Augen schließt, bewegt sich der Angreifer mit dem Polster auf eine neue Position. Der unbewaffnete Angreifer greift mit einem Würgegriff von vorn an. Nun muss der Verteidiger wirksam und entschlossen reagieren und gleichzeitig mit den Augen den zweiten Angreifer suchen. Sobald sich dieser nähert, stößt sich der Verteidiger vom ersten Angreifer weg und wendet sich der neuen Bedrohung zu.
Anmerkung: Anfänger tendieren dazu, Kraft und Wirkung ihrer Gegenangriffe zu mindern, um nach dem zweiten Angreifer Ausschau halten zu können. Das darf nicht sein! Der Verteidiger soll lernen, explosiv zu kontern, den ersten Angreifer auszuschalten und gleichzeitig die Umgebung wahrzunehmen.
2. Beispiel: Um uns das selektive Hören abzugewöhnen, machen wir oft Stressübungen, bei denen der Verteidiger auf Anweisungen hören muss, die entweder vom Kursleiter oder einem Trainingspartner kommen. Auf die Tätigkeit kommt es dabei nicht an – es kann etwas Einfaches sein wie ein Sprint zum anderen Ende des Raums und zurück oder etwas Komplizierteres, wie das Ausführen einer neuen Schlagkombination auf Zuruf oder die schnelle Bewegung zu bestimmten Stellen im Raum. Entscheidend ist der kognitive Akt des Hörens und Verstehens. Er muss stattfinden, auch wenn man mit einer direkten Bedrohung beschäftigt ist.
3. Beispiel: Um neue Schüler an das Gefühl zu gewöhnen, geschlagen zu werden und trotzdem weiterzukämpfen, gibt es eine einfache Stressübung, bei der der Schüler eine Pratze treffen muss, während ihn ein zweiter Partner mit der Faust oder der offenen Hand traktiert. Anfangs sind die Schläge nur schwach, damit der Anfänger nicht aufgibt, aber sobald er sich daran gewöhnt, steigert man die Schlagkraft bis zu einem verkraftbaren Grad. Das ist zwar unangenehm, aber immer noch besser, als in einem echten Kampf durch den Schmerz eines Treffers in Schockstarre versetzt zu werden.
Wie gesagt sind diese Übungen nicht mit einer echten Gewalterfahrung zu vergleichen, aber sie simulieren einzelne Aspekte eines echten Kampfes. Polizeibeamte haben uns nach einigen unserer intensiveren Stressübungen mitgeteilt, dass sie während der Übung emotional genau so reagiert hätten wie angesichts der Gewalt, die sie im Dienst erlebt hatten. Je mehr sie unter Stressbedingungen trainieren, desto effektiver können sie in einer echten Gewaltsituation handeln. Diese Art von Training hilft ihnen, ihr eigenes Leben oder das anderer Menschen zu retten.
Visualisierung
Inzwischen werden Sie sicherlich gemerkt haben, dass Krav Maga nichts mit »Zen« zu tun hat. Weder meditieren wir, noch...