1. Lebensvertrauen
»Das Grund-Vertrauen ist der Eckstein der gesunden Persönlichkeit: eine auf Erfahrungen des ersten Lebensjahres zurückgehende Einstellung zu sich selbst und zur Welt.«
Der deutsch-amerikanische Psychologe ERIK H. ERIKSON, führender Vertreter der Jugendpsychologie (»Identity and the Life Cycle«, 1959).
Was ist mir als geistige Grundlage für den Menschen wichtig? Ein Grundvertrauen, ein Lebensvertrauen. Das Vertrauen zum Leben hat in jedem Menschen seine eigene Geschichte. Sie beginnt spätestens in dem Moment, da das Kind das Licht der Welt erblickt.
Der Eckstein einer gesunden Persönlichkeit
Lebensvertrauen freilich ist nicht einfach »da«, es will gelernt sein. Erik Erikson und andere Entwicklungspsychologen haben es empirisch untersucht: Das Kind lernt buchstäblich an der Mutterbrust, dem Leben zu trauen. Für eine gesunde physisch-psychische Entwicklung des Kleinkindes ist der Erwerb von Grundvertrauen von vitaler Bedeutung. Ist ein Kind schon im Säuglingsalter geschädigt – durch psychogene Krankheiten, durch Entzug der Bezugsperson oder durch emotionale Defizite von uninteressierten oder überbeschäftigten Pflegerinnen (der von René Spitz schon früh untersuchte »Hospitalismus«) –, dann kann ein Grundvertrauen gar nicht erst entstehen. Für Erik Erikson ist das erste Stadium in der Entwicklung des kleinen Kindes (ungefähr das erste Lebensjahr) geradezu identisch mit dem Stadium des Grundvertrauens (»basic trust«).
Weitere Forschungen haben gezeigt, dass die Mutter (oder eine entsprechende Ersatzperson) geradezu die Vertrauensbasis bildet für alle Welterforschung des Kleinkindes. Man braucht nicht wie ich fünf jüngere Schwestern und einen jüngeren Bruder gehabt zu haben, um genau beobachten zu können, wie ein Kind, wenn es krabbelnd zur Welterkundung und zum Kontakt mit anderen Personen fähig wird, doch immer wieder den Blickkontakt mit der Mutter sucht und zu weinen beginnt, sobald es ihn verliert. Und wie es im zweiten Jahr, zwar jetzt fähig, sich auch außerhalb der Sicht der Mutter zu bewegen, doch immer wieder zur Mutter zurückkehrt und, falls nicht, Trennungsangst zeigt.
Indem das Kind sich so zunächst der Mutter öffnet, öffnet es sich – unter langsamer Ablösung von der Mutter – den Menschen, den Dingen, der Welt. Neue Forschungen untermauern, wie wichtig die frühe Bindung für ein starkes Ich ist. Je unsicherer ein Kind in seiner Mutterbindung, desto mehr ist es im Aufbau von Beziehungen zu anderen Menschen blockiert, da es ganz damit beschäftigt ist, mindestens eine zuverlässige Mutterbindung aufzubauen. Und umgekehrt: Vom Vertrauen zur Mutter (oder ihrer Ersatzperson) her bildet sich in einem komplexen Prozess – auf die Stellung des Vaters und so manches andere gehe ich hier nicht ein – das zunächst naiv-fraglose Grundvertrauen des Kindes, das ihm einen Stand im Leben ermöglicht, aber ständig gefährdet ist und auf die Probe gestellt wird. Und ich selber?
Lebensvertrauen auf dem Prüfstand
Ich gehöre zu den zahllosen Menschen, die aufgrund einer keineswegs problemlosen, aber intakten Beziehung zu Mutter, Vater und anderen Bezugspersonen ein starkes Lebensvertrauen mitbekommen haben. Doch auch mein Vertrauen wurde immer wieder vom Leben selbst auf die Probe gestellt. Von Anfang an lernen wir Menschen nicht nur durch Erziehung, sondern durch eigenes Erfahren und oft auch persönliches Erleiden. »Gebranntes Kind scheut das Feuer« heißt nicht zufällig ein altes Sprichwort.
Als vielleicht frühestes Erlebnis am eigenen Leib bleibt mir: Als Drei- oder Vierjähriger stecke ich meinen linken Zeigefinger in eine Brotschneidemaschine, um ein kleines Brotfetzchen herauszuklauben und drehe gleichzeitig mit der rechten Hand die Kurbel – die Fingerkuppe samt Nagel liegt abgeschnitten in der Maschine. Damals war ein hervorragender Hausarzt noch fähig, die Kuppe mit Hilfe von Haut vom Bein meines Vaters wieder an meinen Finger anzunähen, sodass man heute kaum einen Unterschied bemerkt.
Auch die erste Tote blieb mir, dem damals Sechsjährigen, in ständiger Erinnerung: Meine Großmutter, umgekommen bei einem tragischen Autounfall, mein Großvater war am Steuer. Bleich, ruhig und schön lag sie da; nur ein kleiner roter Punkt von Blut auf der Stirn zeugte von ihrer Verletzung. Man sagte mir, sie sei jetzt »im Himmel« … Doch solche und viele andere Erfahrungen haben bei mir kein psychisches Trauma hinterlassen und konnten mein Lebensvertrauen nicht erschüttern.
Aufgrund vieler persönlicher Erfahrungen bin ich deshalb – bei aller Hochschätzung der Psychotherapie – zurückhaltend gegenüber jenen Psychoanalytikern, die bei allzuvielen späteren Problemen ein frühkindliches Trauma entdecken wollen. Natürlich weiß ich, dass es schon früh und immer mehr zu schweren Vertrauenskrisen kommen kann: durch Versagen in Schule, Ausbildung und persönlichen Beziehungen. Dann aber auch durch eine aussichtslose Zukunft, durch Arbeitslosigkeit, verratene Freundschaft und erste große Enttäuschung in der Liebe. Schließlich durch Scheitern im Beruf, Verlust der Gesundheit, die oft unerträgliche Last des Daseins …
So muss beim einen früher, beim anderen später aus dem fraglosen, vorbehaltlosen, unwillkürlichen Vertrauen des zunächst ganz von der Mutter abhängigen Kindes durch Krisen hindurch ein gereiftes, verantwortetes Grundvertrauen wachsen: das überlegte, kritische Vertrauen des selbständig gewordenen Erwachsenen zur undurchsichtigen, schwer fassbaren Wirklichkeit von Welt und Mensch. Echtes Selbstvertrauen ist Voraussetzung für eine starke und mitfühlende Persönlichkeit. Und je länger, desto weniger kommt man um eine bewusste Grundentscheidung herum, wie man sich zum Leben, zu den Mitmenschen, zur Welt, zur Wirklichkeit einstellt. Ohne ein gereiftes Grundvertrauen, ein Lebensvertrauen, kann man Lebenskrisen kaum bestehen.
Eine scheinbar sichere philosophische Basis
Zwei Jahrzehnte bevor ich zum ersten Mal ein Wort von Erik Erikson las, hatte ich mich – Theologiestudent am von Jesuiten geleiteten päpstlichen Collegium Germanicum in Rom – mit der Frage nach einem sicheren Standpunkt und einer sicheren Wissensbasis herumgeschlagen. Sechs Semester Philosophie mit einer Philosophiegeschichte, die hervorragende Einführungen in das Denken von Kant und Hegel mit einschloss. Mit einer Lizentiatsarbeit über Jean-Paul Sartres Existentialismus als Humanismus – in den 50-er Jahren à la mode – schloss ich mein Philosophiestudium ab.
In Rom gelernt habe ich, worauf ich bis heute keinesfalls verzichten möchte: lateinische Klarheit, terminologische Präzision, in sich kohärente Beweisführung und überhaupt strenge Arbeitsdisziplin. Und so war ich nach drei Jahren fest davon überzeugt, für mein Leben einen Standpunkt, für meinen Lebensweg eine absolut sichere wissenschaftliche Basis gewonnen zu haben, die ich jederzeit rational verantworten konnte.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich in Rom nach dem Lizentiat in Philosophie mit einem Schweizer Freund vom Pontificium Collegium Germanicum zum Pincio, Roms großem Park, hinaufspazierte. Wir fanden es großartig, dass wir uns, mühselig genug, ein klares, durch und durch rationales philosophisches Fundament für die Theologie erarbeitet hatten: eine natürliche Basis evidenter Seinsprinzipien und in methodischer Strenge abgeleiteter Schlussfolgerungen. Auf dieser natürlichen Basis von Vernunft und Philosophie bräuchten wir jetzt nur mit derselben Gründlichkeit den übernatürlichen Überbau des Glaubens und der Theologie aufzubauen. So wären wir für das Leben gerüstet: für den Umgang mit uns und mit den anderen Menschen, für unsere Arbeit, unser Weltverständnis, unsere Zeitgestaltung. Dachten wir. Aber gerade dieses Stockwerk-Schema von Vernunft und Glauben erwies sich als trügerisch. War diese neuscholastische »Philosophia perennis«, so zweifelte ich immer mehr, eine wirklich tragfähige, sichere Basis?
Woran ich zweifle
Einen letzten Zweifel, zunächst nicht sehr ernst genommen, hatte ich nie richtig ausgeräumt. Nun gehören Zweifel zum Denken. Es gibt dumme oder oberflächliche Zweifel, die sich leicht durch Information beseitigen lassen. Doch es gibt intelligente Zweifel, die tiefer gehen und sich in uns festsetzen. So wurde ich mir schon in meinen römischen Tagen klar darüber, dass ich nie so sanftmütig und »ausgeglichen« werden könne wie unser beispielhafter Mitstudent und Präfekt, der es später freilich zu einem höchst engstirnigen Bischof einer großen deutschen Diözese bringen sollte.
Auf der intellektuellen Ebene schien mir alles kristallklar, aber auf der existentiellen Ebene blieb eine verdrängte Ungewissheit. Sie drängte sich auch während der ersten theologischen Semester immer wieder auf und ließ mich bezweifeln, dass alles letztlich einleuchtend, abschätzbar und beweisbar sei: Ist es wirklich so klar, so einleuchtend, dass mein Leben einen Sinn hat? Warum bin ich so, wie ich bin? Ich habe Schwächen und Fehler, die ich nicht einfach wegwünschen kann. Warum muss ich mich so annehmen, wie ich nun einmal bin, mit meinen positiven und negativen Seiten? Die Annahme meiner selbst aufgrund vernünftiger Argumente erschien mir schwierig.
Und was will ich eigentlich? Was ist der Sinn meiner Freiheit? Warum ist sie nicht einfach auf das Gute ausgerichtet? Was treibt mich? Warum ist Schuld möglich? Und fällt die Möglichkeit des Versagens, Verfehlens, Schuldigwerdens nicht auf den zurück, der den Menschen so gewollt hat, sodass ich selber...