1. Kapitel
Einige Anmerkungen zum psychoanalytischen Arbeitsmodell1
Die Schwierigkeit beginnt mit dem Protokoll
In einer ersten Annäherung an diese für mich zentrale Frage von Analytiker-Werden und Analytiker-Bleiben soll vor allem der Blick auf die konkrete analytische Situation gelenkt werden. Eine Besonderheit der Psychoanalyse ist, dass es sich um eine konkrete Praxis – die analytische Situation – handelt, der die Beobachtungen und damit die primären Daten entstammen, aus denen dann Interpretationen, Schlussfolgerungen und weitere Modelle, Konzepte und Theorien abstrahiert werden. Es sei daran erinnert, dass Freud die Methode der Untersuchung unbewusster Prozesse an die erste Stelle seiner Definition der Psychoanalyse gestellt hat und erst in zweiter Hinsicht von der Psychoanalyse als einem therapeutischen Verfahren sprach (Freud 1923); in einem anderen Zusammenhang formuliert er das Junktim von Forschen und Heilen (Freud 1926). Daher bleibt eine wissenschaftliche Grundeinstellung für das psychoanalytische Arbeiten unverzichtbar, wie dies etwa Marianne Leuzinger-Bohleber (2005) als »forschende Grundhaltung« für den Analytiker beschrieben hat; es wurde bereits angedeutet, dass ich selbst diese Haltung als »fragende Grundhaltung« beschreiben würde. Dies bringt allerdings die besonderen Schwierigkeiten aller psychoanalytischen Beobachtungen und Konzeptualisierungen hervor, auf die immer wieder verwiesen wird: Wie werden diese primären Daten gewonnen, welche Aussagekraft und Validität haben sie und wie sind sie an andere Kollegen und Interessierte zu vermitteln? Viele Analytiker2 sind sich meiner Ansicht nach der Kluft zwischen der Erfahrung der unmittelbaren, lebendigen Wirklichkeit der analytischen Sitzung und dem gleichzeitigen oder nachträglichen Versuch, diese Erfahrung sprachlich auf den Begriff zu bringen und entsprechend zu konzeptualisieren, durchaus bewusst.3 Das Problem der klaren und korrekten Beobachtung ist allerdings nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein grundlegendes menschliches Problem. In sehr prägnanter Weise spricht dies der spanische Autor Javier Marías (2012) in einem literarischen Text aus:
»›Das Geschehen erzählen‹ ist unvorstellbar und vergeblich oder aber nur möglich als Erfindung. Auch die Vorstellung des Zeugnisses ist vergeblich, es hat keinen Zeugen gegeben, der seiner Aufgabe wirklich gerecht geworden wäre« (S. 8).
Hier ist also – bezogen auf den protokollierenden Analytiker – die Unmöglichkeit seiner Zeugenschaft formuliert. Noch radikaler drückt dies Thomas Bernhard (2005) auf seine unvergleichliche Weise aus:
»Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein, also sind immer nur Fälschungen und Verfälschungen mitgeteilt worden. Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts. Und eine Zeit, eine Lebens- und Existenzperiode aufzuschreiben, gleich, wie weit sie zurückliegt, und gleich, wie lang oder kurz sie gewesen ist, ist eine Ansammlung von Hunderten und von Tausenden und von Millionen von Fälschungen und Verfälschungen, die dem Beschreibenden und Schreibenden alle als Wahrheiten und als nichts als Wahrheiten vertraut sind […]. Das Beschriebene macht etwas deutlich, das zwar dem Wahrheitswillen des Beschreibenden, aber nicht der Wahrheit entspricht, denn die Wahrheit ist überhaupt nicht mitteilbar« (S. 29).
Einen noch etwas anderen Aspekt betont Max Frisch (1976): das Unsagbare, das mit Worten nur umschrieben werden kann:
»Unser Streben geht vermutlich dahin, alles auszusprechen, was sagbar ist; die Sprache ist wie ein Meißel, der alles weghaut, was nicht Geheimnis ist, und alles Sagen bedeutet ein Entfernen. Es dürfte uns insofern nicht erschrecken, dass alles, was einmal zum Wort wird, einer gewissen Leere anheimfällt. Man sagt, was nicht das Leben ist. Man sagt es um des Lebens willen« (S. 42).
Bezogen auf das analytische Protokoll bedeutet dies die Begrenzung der Möglichkeit, die lebendige Wirklichkeit einer analytischen Sitzung schriftlich wiederzugeben oder festzuhalten. Diese Tatsache wird manchmal in den in dieser Hinsicht eher naiv wirkenden Fallberichten nicht ausreichend gewürdigt. Im Sinne dieser unauflösbaren Paradoxie empfinde ich einen Vergleich der Protokolle und Erzählungen über die analytischen Sitzungen mit dem Traumgeschehen hilfreich, bei dem man mit Moser & von Zeppelin (1996) den geträumten, den erinnerten und den erzählten Traum unterscheiden kann. Danach gäbe es die erlebte Sitzung, die erinnerte Sitzung und die erzählte oder verschriftlichte Sitzung. Ähnlich wie beim Träumen empfindet man leicht die Kluft zwischen der real erlebten und der erinnerten und erzählten Stunde. Das auch alltagspsychologisch vertraute, schmerzliche Gefühl dem Schwer- oder Unaussprechlichen gegenüber und die Einsicht, dass das vertraute Sprachspiel die präsentische Traumerfahrung oder die erlebte, unmittelbare analytische Situation oft über Gebühr reduziert, wenn nicht sogar verzerrt – die »Wahrheit« also eine »Lüge« ist –, kann aber gleichzeitig als Stimulus dienen, sich um begriffliche Präzisierung zu bemühen, also unverzagt den Versuch zu machen, sich dieser komplexen Erfahrung anzunähern, wenn auch in dem Bewusstsein, ein unerreichbares Ziel vor Augen zu haben.4
Wie viel kann ich von meiner Erfahrung als Analytiker erzählen oder berichten, wenn ich unvermeidlich die Wahrheit verfehle? Einer der Gründe für das Verfehlen der Wahrheit ist der, dass ich unvermeidlich der Dynamik von An- und Abwesenheit unterliege, also nur begrenzt wahrnehme, zuhöre, konzipiere, erinnere, ich also letztlich immer nur begrenzt »da« bin. Die Kluft zwischen dem, was in der Stunde wirklich geschieht, und dem, was ich davon festhalten und worüber ich berichten kann, bleibt unüberbrückbar. Vielleicht macht die Klage darüber auch einen zu hohen, möglicherweise idealen Anspruch erkennbar: es bleiben der Wille zur Wahrhaftigkeit und die schmerzliche Erkenntnis der Begrenzung und der möglichen Selbsttäuschung. Da die Entwicklung der Psychoanalyse wesentlich von den Erzählungen und Berichten über die Behandlungen abhängt, ist die hier angeschnittene Thematik von genereller Bedeutung. In diesem Sinne soll also die Thematik des anwesenden und abwesenden Analytikers in ihrer komplexen Dimension erörtert werden: Die Präsenz des Analytikers in den Stunden mit seinen Patienten und die dabei entstehenden Einsichten, die vor allem mit Hilfe des Durcharbeitens der Übertragungen und Gegenübertragungen gewonnen werden, entscheiden auch darüber, was berichtet und mit Kollegen und Kolleginnen diskutiert werden kann. Die psychoanalytischen Modelle, Konzepte und Theorien entstehen auf diese Weise, und auf die gleiche Weise werden sie in der psychoanalytischen Situation verifiziert oder falsifiziert. Dass die Modelle, Konzepte und Theorien der Psychoanalyse auf Erzählungen der Analytiker basieren, in denen sie über ihre Erfahrungen in der analytischen Situation berichten und mitteilen, wie sie diese Erfahrungen verstanden und wie sie gehandelt haben, macht verständlich, dass es keine neutrale, objektive und einheitliche Theoriebildung geben kann. Es macht auch verständlich, dass die großen Erzählungen der Psychoanalyse an Namen gebunden sind, die zu entsprechenden Schulen und Richtungen geführt haben. Die Meister des psychoanalytischen Fachs verfügen offenbar über besonders gute Beobachtungsgaben und eine überdurchschnittliche Fähigkeit, ihre Beobachtungen und Erfahrungen zu konzeptualisieren und darüber zu berichten. Dass es sich dabei um eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit handelt und man sich dies immer wieder bewusst machen muss, ist ein wesentlicher Schritt auf dem allgemeinen Weg zum Analytiker-Werden: Eine universale, allgemein gültige Theorie kann es grundsätzlich nicht geben. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass auch im Zen-Buddhismus, auf den ich in dieser Arbeit immer wieder zu sprechen komme, von der unmittelbaren meditativen Praxis ausgegangen wird: Es handelt sich um eine körperliche Übung, die Ausgangs- und Endpunkt der ganzen Praxis ist, ohne dass dabei allerdings ein komplexes Theoriegebäude entworfen wird. Teitaro Suzuki hat auf die ante- oder sogar antiwissenschaftliche Haltung im Zen verwiesen (Fromm, Suzuki & de Martino 1972). Während der Psychoanalytiker seine Erfahrungen in der konkreten Praxis konzeptualisiert, ist die Zen-Praxis ein Weg, alle Konzepte und Theorien zu überwinden (vgl. 3. Kapitel).
Meine eigenen klinischen Erfahrungen – auch die in Supervisionen und Intervisionen – beziehen sich auf die häufigen Schwierigkeiten von Ausbildungskandidaten und Analytikern, die Besonderheit der analytischen Situation zu realisieren und aufrechtzuerhalten, man könnte auch sagen: die analytische Situation und die analytische Methode mit ihrer besonderen Beobachtungshaltung zu verwirklichen. Der Beginn jeder Sitzung könnte noch als eine alltagspsychologische Situation beschrieben werden: Zwei Personen treffen und begrüßen sich in einem durchaus konventionellen Sinn. Erst der vereinbarte Rahmen und eine bestimmte Haltung und Funktion des Analytikers wandeln die Situation, so dass die konkrete, reale Person des Analytikers eher in den Hintergrund tritt (symbolisch und real) und dieser als Analytiker die analytische Szene betritt. Bekanntlich ist diese Wandlung alles andere als einfach: Gerade Kandidaten fällt dies oft sehr schwer, weil die Versuchung groß bleibt,...