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Ein neuer Anfang
Ein neuer Anfang! Wir müssen lernen, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute als einen neuen Anfang zu sehen, als einmalige Gelegenheit, alles neu zu machen. Stellen wir uns vor, wir könnten jeden Augenblick als einen Augenblick erfahren, der neues Leben in sich birgt. Stellen wir uns vor, wir könnten jeden Tag als einen Tag voller Verheißungen erfahren. Stellen wir uns vor, wir würden durch das neue Jahr gehen und ständig eine Stimme hören, die uns sagt: „Ich habe ein Geschenk für dich und kann es kaum erwarten, daß du es zu sehen bekommst.“ Stellen wir uns das einmal vor!
Ist es möglich, daß unsere Vorstellungskraft uns zur Wahrheit unseres Lebens führt? Ja, sie kann es! Das Problem freilich ist, daß wir unserer Vergangenheit, die von Jahr zu Jahr länger wird, zu sagen erlauben: „Du kennst doch alles, du hast es ja längst erlebt, bleib realistisch! Die Zukunft wird nicht viel anders sein als die Vergangenheit war. Versuch, sie, so gut du kannst, zu meistern!“
Viele schlaue Füchse flüstern uns die große Lüge ins Ohr: „Es geschieht nichts Neues unter der Sonne ..., mach dich nicht lächerlich !“
Wenn wir auf diese Füchse hören, werden sie vielleicht bald selbst beweisen, daß sie im Recht sind: Und unser neues Jahr, unser neuer Tag, unsere neue Stunde werden platt, langweilig, stumpfsinnig, ohne einen Schimmer von etwas Neuem.
Was ist dagegen zu tun? Als erstes müssen wir die Füchse dorthin schicken, wohin sie gehören: in ihre Höhlen. Danach müssen wir Herz und Sinn der Stimme öffnen, die uns in den Niederungen und Höhen unseres Lebens begleitet und sagt: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Offenbarung 21,3 – 5).
Wir müssen uns entscheiden, auf diese Stimme zu hören. Dann wird jede Entscheidung uns ein Stückchen weiter dafür öffnen, das neue Leben zu entdecken, das in jedem Augenblick verborgen ist und ungeduldig darauf wartet, geboren zu werden.
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Ohne „Du hättest sollen!“ und „Was wäre, wenn ...?“
Es ist schwer, in der Gegenwart zu leben. Das Vergangene und das Kommende beschäftigen uns: das Vergangene mit Schuld, das Kommende mit Sorgen. Vieles, was in unserem Leben geschehen ist, hat in uns einen Stachel hinterlassen, beunruhigt uns, schmerzt uns, plagt uns oder erweist sich zumindest als zweischneidig. Und all diese Gefühle sind oft durch Schuld gefärbt. Die Schuld sagt: „Du hättest etwas anderes tun sollen als das, was du getan hast. Du hättest etwas anderes sagen sollen als das, was du gesagt hast!“ Diese vielen „Du hättest sollen“ nähren ständig unsere Schuldgefühle gegenüber dem Vergangenen und hindern uns daran, den gegenwärtigen Augenblick voll und ganz zu erleben.
Schlimmer noch als unsere Schuldgefühle sind unsere Sorgen. Sie überschwemmen unser Leben mit tausenderlei „Was wäre, wenn...?“
Was wäre, wenn ich meinen Arbeitsplatz verliere? Was wäre, wenn meine Eltern sterben? Was wäre, wenn mir das Geld nicht mehr reicht? Was wäre, wenn mein Betrieb schließt? Was wäre, wenn ein Krieg ausbricht? Diese vielen „Was wäre, wenn...?“ können uns so sehr beherrschen, daß wir regelrecht blind und taub werden: keine blühenden Blumen im Garten mehr sehen, keine lachenden Kinder auf der Straße, die dankbare Stimme eines Freundes nicht mehr hören.
Die wirklichen Feinde in unserem Leben sind die vielen „Du hättest sollen“ und „Was wäre, wenn ...?“ Sie zerren uns zurück in die nicht mehr zu ändernde Vergangenheit und drängen uns nach vorn in die nicht voraussagbare Zukunft. Doch das eigentliche Leben findet hier und jetzt statt. Gott ist ein Gott der Gegenwart. Gott ist stets im jetzigen Augenblick, mag dieser Augenblick schwer oder leicht, froh oder qualvoll sein.
Wenn Jesus von Gott spricht, spricht er immer von ihm als dem, der ist, wo und während wir sind. „Wenn ihr mich seht, seht ihr Gott. Wenn ihr mich hört, hört ihr Gott.“ Gott ist keiner, der schon war oder erst sein wird, sondern der der ist, und der für mich im gegenwärtigen Augenblick ist. Darum wischt Jesus die Last der Vergangenheit und die Sorgen um die Zukunft beiseite. Er will, daß wir Gott genau dort entdecken, wo wir sind, hier und jetzt.
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Geburtstage
Geburtstage müssen gefeiert werden! Ich meine, es ist wichtiger, einen Geburtstag zu feiern als ein bestandenes Examen, eine Beförderung oder sonst einen Erfolg. Denn einen Geburtstag feiern bedeutet, jemandem zu sagen:
„Danke, daß es dich gibt!“ Einen Geburtstag feiern heißt: das Leben preisen und sich darüber freuen. An einem Geburtstag werden wir kaum sagen: „Vielen Dank für alles, was du getan oder gesagt oder geleistet hast!“ Vielmehr werden wir sagen: „Danke, daß du auf der Welt und bei uns bist!“
An einem Geburtstag feiern wir die Gegenwart. Wir klagen nicht darüber, was war, und spekulieren nicht darüber, was werden wird, sondern lassen einen Menschen hochleben und jeden sagen: „Wir mögen dich!“
Ich habe einen Freund, der an seinem Geburtstag von seinen Freunden gepackt, in das Badezimmer geschleppt und mit allem, was er gerade am Leibe hat, in die volle Wanne getaucht wird. Seine Freunde können seinen Geburtstag kaum erwarten, und auch er sieht ihm mit Spannung entgegen. Ich weiß nicht, woher dieser Brauch stammt, aber hochgehoben und ins Wasser getaucht, das heißt „wieder-getauft“ zu werden, ist zweifellos eine sehr schöne Art, unser Auf-der-Welt-Sein zu feiern. Dabei wird uns bewußtgemacht, daß wir – wenn wir auch mit beiden Beinen auf der Erde stehen müssen – dazu geschaffen sind, in den Himmel zu kommen, und daß wir bei allem Staub und Schmutz, den wir so leicht auf uns ziehen, immer gewaschen und wieder gereinigt werden und unser Leben neu beginnen können.
Geburtstag feiern erinnert uns an das Gute und Schöne des Lebens. Und in diesem Geist sollten wir wirklich jeden Tag mit Zeichen der Dankbarkeit, der Freundlichkeit, der Vergebung, des Entgegenkommens, der Güte und der Liebe Geburtstag feiern. Damit bringen wir zum Ausdruck: „Es ist schön, daß du da bist. Es ist gut, daß du mit mir auf dieser Erde lebst. Freuen wir uns darüber! Das ist der Tag, den Gott für uns gemacht hat, um da- und zusammenzusein!“
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Hier und jetzt
Um in der Gegenwart zu leben, müssen wir fest daran glauben, daß das Entscheidende das Hier und Jetzt ist. Ständig quält uns das eine oder das andere, das in der Vergangenheit geschehen ist oder in der Zukunft passieren könnte. Es ist nicht leicht, uneingeschränkt auf die Gegenwart ausgerichtet zu sein. Unser Verstand ist schwer zu bändigen und zerrt uns ständig weg vom gegenwärtigen Augenblick.
Beten ist die Disziplin des Augenblicks. Wenn wir beten, treten wir ein in die Gegenwart Gottes, dessen Name Gott-mit-uns ist. Beten heißt, dem aufmerksam zu lauschen, der hier und jetzt zu uns spricht. Wenn wir den Mut haben, darauf zu vertrauen, daß wir niemals allein sind, sondern Gott immer mit uns ist, immer für uns sorgt und immer zu uns spricht, werden wir uns mit der Zeit von den Stimmen befreien, die uns plagen und ängstigen, und uns dann zubilligen, im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Dies bedeutet, sich einer großen Herausforderung zu stellen, denn radikal auf Gott zu vertrauen fällt keinem in den Schoß. Die meisten mißtrauen Gott, halten ihn für einen furchterregenden, strafenden, autoritären Herrscher oder für ein blankes, machtloses Nichts. Der Gott, den Jesus verkündete, ist weder ein machtloser Schwächling noch ein mächtiger Boß. Im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu steht die Botschaft vom liebenden Gott, der sich danach sehnt, uns das zu geben, wonach unser Herz sehnlich verlangt.
Beten heißt, auf diese Stimme zu hören. Das Wort Gehorsam, und noch deutlicher das entsprechende lateinische oboedientia, das sich von „ob-audire = mit großer Aufmerksamkeit hören, lauschen“ ableitet, meinen vor allem solch eine Haltung des Lauschens. Ohne Hinhören und Lauschen werden wir für die Stimme der Liebe „taub“. Das lateinische Wort für taub ist „surdus“. Vollkommen taub sein heißt „absurdus“, ja, absurd. Wenn wir nicht mehr beten, nicht mehr auf die Stimme der Liebe hören, die in diesem Augenblick zu uns spricht, wird unser Leben zu einem absurden Leben, in dem wir zwischen Vergangenheit und Zukunft hin- und hergeworfen werden.
Wenn uns jeden Tag dieses Hören und Lauschen wenigstens für ein paar Minuten – dort, wo wir gerade sind – gelänge, würden wir entdecken, daß wir nicht allein sind und daß der, der mit uns ist, nur das eine will: uns Liebe schenken.
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Unser innerer Raum
Das Hören auf die Stimme der Liebe erfordert, daß wir Herz und Sinn aufmerksam auf diese Stimme richten. Wie kann das geschehen? Der fruchtbarste Weg besteht meiner Erfahrung nach darin, sich ein einfaches Gebet, einen Satz oder auch nur ein Wort auszuwählen und es langsam zu wiederholen. Besonders geeignet sind das Vaterunser, das Jesus-Gebet, der Name Jesus oder ein anderes Wort, das uns an die Liebe Gottes erinnert und sie in die Mitte unseres inneren Raumes stellt wie eine brennende Kerze in eine dunkle Kammer.
Wahrscheinlich werden wir dabei ständig abgelenkt werden. Es wird uns durch den Kopf gehen, was gestern...