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E-Book

Was uns wirklich trägt

Über gelingendes Leben

AutorAnselm Grün, Walter Kohl
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783451814846
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Zwei Menschen, zwei Lebensläufe, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: Der eine, in einer prominentenfamilie aufgewachsen, geprägt von Jahren der persönlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung sowie der Terrorismusgefahr, persönlich und beruflich durch Tiefen und Krisen bis zum Scheitern gegangen. Der andere früh im Kloster, ging konsequent den Weg monastischer Gottsuche, mit einer scheinbar geradlinigen 'Karriere' als Mönch, als erfolgreicher Cellerar, der das einfache Leben ins Zentrum stellt und als weltbekannter Autor und geistlicher Begleiter von vielen gehört wird. Und doch, beide sagen: Wir sind nicht am Ziel. Wir sind auf dem Weg. Beide fragen, was Leben ausmacht, was es gefährdet und was wirklich Sinn stiftet, was ihren eigenen Kurs bestimmt und was anderen helfen könnte..

Anselm Grün OSB, geb. 1945, Dr. theol., ist Mönch der Abtei Münsterschwarzach, Meditationsleiter, weltweit populärster christlicher Autor unserer Tage. Walter Kohl, geb. 1963, ältester Sohn des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, Unternehmer, Berater, erfolgreicher Buchautor.

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Leseprobe
1

Unsere Herkunft als Mitgift
Warum ich? Herkunft kann manche Belastungen mit sich bringen. Ist das gut oder schlecht? Ich glaube, dass diese Frage nicht im Vordergrund stehen sollte. Uns ist ein Leben gegeben, und die für mich viel wichtigere Frage lautet: Was können wir aus unserem Leben, aus unserer Herkunft machen?
WALTER KOHL
Eine besondere Situation
Jede Herkunft hat ihre eigenen, ganz besonderen Prägungen und wird zu unserer ganz persönlichen Quelle der Erfahrung. Herkunft ist der Mutterboden, der Humus unserer Entwicklung. Aus ihr kommen wir, ob wir es wollen oder nicht. Herkunft ist schicksalhaft und wer nicht akzeptiert oder nicht versteht, woher er kommt, wird sich auch schwertun, seine Zukunft zu gestalten. Ob man nun dazu neigt, die Vergangenheit zu verklären, sie zu beklagen oder sie gar abzuspalten: Sie war, wie sie war. Was vorbei ist, lässt sich nicht mehr ändern. Wichtig ist nur, wie wir damit umgehen. Erfahrungen, die wir in der Kindheit gemacht haben, Einflüsse der Umgebung, Erwartungen, mit denen wir aufwuchsen und mit denen wir – wie auch immer – umgegangen sind, sie gehören zur Mitgift für unser Leben. Unsere Kindheit kann schwierig gewesen sein und uns lebenslang als verseuchter Boden vorkommen. Sie kann aber auch zu einer Kraftquelle werden. Die Rückbindung kann positiv, aber auch als Fessel erlebt werden. Und nicht immer ist das eine vom anderen leicht zu trennen. Es ist eine Frage unserer ganz persönlichen Einstellung und Entscheidungen.
Bei mir war das nicht anders. Geboren bin ich 1963, zwei Jahre vor meinem Bruder Peter. Das Besondere an meiner Geschichte: Ich wuchs in einer politisch sehr aktiven Familie auf. Mein Vater war 1963 schon Fraktionsvorsitzender im Landtag von Rheinland-Pfalz. Wahrgenommen habe ich zunächst nur, dass zu Hause immer viel los war. Als kleines Kind konnte ich nicht verstehen, was da genau um mich ­herum passierte. Aber anscheinend war es normal, dass bei uns andauernd Leute kamen und gingen, Menschen, die ich nicht kannte. Bei den Familien in der Nachbarschaft gab es das nicht. Warum? Das verstand ich nicht. Die Welt der ­Erwachsenen erschien mir mysteriös. Sie sprachen über offensichtlich wichtige Dinge, doch ihre Welt blieb mir verschlossen. Es war, als ob in unserem Haus zwei Welten neben­einander existierten: die der Erwachsenen mit ihren Gesprächen und die von uns Kindern. Zwischen beiden Welten gab es eine zwar unsichtbare, aber jederzeit erkennbare Trennlinie. Wenn wieder einmal einige dieser fremden Leute zu Besuch kamen, wurde kurz mit uns gesprochen, und dann wurden wir zum Spielen geschickt, je nach Wetterlage in den Garten oder in unser Zimmer im ersten Stock. Mein Eindruck als Kind war: Diese Fremden kamen zu allen Tages- und Nachtzeiten. Sie bestimmten den Rhyth­mus und das Leben unserer Familie. Sie waren wichtig, ihre Themen interessant. Wenn sie kamen, hatten wir Kinder zurückzutreten. Ihnen gegenüber, das wurde mir mit der Zeit klar, waren wir Kinder zweitrangig.
Private Gespräche mit Parteifreunden, mit Journalisten, manchmal auch mit Menschen aus einem anderen politischen Lager gehören zum Leben eines Politikers. So werden Netzwerke gebildet. Und solche Kontakte stellen einen zentralen Baustein für politische Karrieren dar. Und es sind diese Gesetze der Karriere, die die Wirklichkeit und die Prioritäten vieler Familien bestimmen. Auch die der unseren haben sie bestimmt. Die Menschen, die da kamen, das waren für mich – als Kind im Vorschulalter – einfach unbekannte Erwachsene. Sie strömten in einem schier endlosen Strom in unser Haus, machten sich in unserem Wohnzimmer breit und schienen unser Familienleben zu beherrschen. Schon früh musste ich anerkennen: Die Politik hat Priorität. Sie bestimmt unser Leben als Familie, ihr haben sich alle unterzuordnen.
Aber es gab noch etwas, was bei uns besonders war. Es gab Igo, einen Deutschen Schäferhund von stattlichen Ausmaßen, ein großes, manchmal auch wildes Tier. Dieser Rüde war unser wichtigster und vertrautester Spielkamerad in der Zeit vor der Schule. Er war erst wenige Monate alt, als er kurz vor meiner Geburt in unsere Familie kam. Meine Mutter hat mir später oft von ihren großen Ängsten erzählt. Würde der Hund auf das neue Familienmitglied eifersüchtig sein oder mich gar im Kinderwagen angreifen? Aber schon in den ersten Wochen meines noch sehr jungen Lebens adoptierte Igo mich förmlich.
Es muss im August 1963 an einem heißen Tag gewesen sein, als meine Mutter mich im Kinderwagen auf die schattige Terrasse stellte – und vergaß, den Hund wegzusperren. Mit Entsetzen sah sie auf einmal von der Küche aus, wie der Hund sich mit den Vorderpfoten auf dem Kinderwagen abstützte und seinen großen Kopf in den Kinderwagen hineinsteckte. Wegen der Hitze war ich nur mit einer Windel bekleidet und lag ausgestreckt im Kinderwagen. Als meine Mutter schmatzende Geräusche hörte, erwartete sie das Schlimmste, stürzte heraus – und sah: Der Hund leckte mich von Kopf bis Fuß herzhaft ab, und mir schien dies große Freude zu bereiten, denn ich lachte über das ganze Gesicht. Nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte und offensichtlich keine Gefahr im Verzug war, ließ meine Mutter den Hund gewähren. Nach einer Weile ließ er von mir ab und legte sich demonstrativ vor den Kinderwagen. Der Neuankömmling Walter gehörte nun auch zu seiner Familie, und Igo fühlte sich fortan persönlich für meinen Schutz verantwortlich. Ein Schäferhundrüde als Hundemama, das gibt es nicht so oft. Als dann zwei Jahre später mein Bruder auf die Welt kam, wiederholte sich das Ritual. Nun hatte Igo zwei Jungs, um die er sich »kümmern« durfte.
Wohl selten hat sich ein ausgewachsener Schäferhund so viel von Kindern gefallen lassen. Wir konnten ihn an den Ohren ziehen, mit unseren kleinen Händen tief in seinen Rachen greifen oder uns an seinem Langhaarfell festkrallen, sodass er uns über den Boden zog. Igo wurde zu meiner wichtigsten Lauflernhilfe. Und wir blieben bis zu seinem Tod, rund zwölf Jahre später, unzertrennlich. Eine Freundschaft, der auch Fremde nichts anhaben konnten.
Dieser Schäferhund übernahm oft auch den Schutz meiner Mutter, wenn sie alleine mit uns Kindern zu Hause war. Erst Jahre später wurde mir bewusst, warum mein Vater ­einen, wie er es ausdrückte, »scharfen« Wachhund im Haus haben wollte. Seine politische Tätigkeit sorgte schon in den 1960er Jahren, also lange vor dem Ausbruch des RAF-Linksterrorismus, für Sicherheitsprobleme. Als Kind ahnte ich natürlich nichts von alledem.
Meine Mutter war eine wahre »Hundeflüstererin«, auch wenn wir damals dieses Wort noch nicht kannten. Selbst scharfe Wachhunde des Bundesgrenzschutzes wurden zu Schmusetieren, wenn sie anfing, mit ihnen zu sprechen und zu spielen. Oft haben wir gelacht, wenn der Hundeführer peinlich berührt danebenstand und erleben musste, wie sein vermeintlich so furchterregendes Tier in den Händen meiner Mutter förmlich zahm wurde und sie ganz entspannt mit ihm spielte. Sie war es auch, die uns lehrte, wie man mit Hunden umgeht und dass man vor ihnen keine Angst haben musste.
Dank Igo fühlten wir Brüder uns unangreifbar. Wenn er an unserer Seite war, wagten sich die Kinder von den Blocks am anderen Ende der Straße, unsere damaligen Angstgegner, nicht in unser Versteck. Es war, als ob wir unser eigenes Schlachtschiff dabeihätten. Eine tiefe Liebe für Tiere, besonders für Hunde und Katzen, ist mir geblieben. Noch heute kann ich an kaum einem Hund vorbeigehen, ohne ihn anzusehen, etwas zu pfeifen oder ihn zu streicheln.
Die Idylle zerplatzte mit meinem nächsten Lebensabschnitt. Mit dem ersten Schultag war ich in einer neuen Welt angekommen, in der ich oft genug für meine Herkunft regelrecht abgestraft wurde. Viele meiner Mitschüler, aber auch manche Lehrer behandelten mich jahrelang wie einen Aussätzigen. Zumeist war ich für sie nur »der Sohn vom Kohl«. Ich fühlte mich als Fremdkörper, als Spielball mir unbe­kannter Mächte, als ein Anderer unter Gleichen. Ich wurde gemobbt, gehänselt, ausgegrenzt und geprügelt. Manche meiner Mitschüler wurden regelrecht von ihren Eltern aufgehetzt. »Hau dem Kohl mal eine aufs Maul« – das war noch eine der harmloseren Spielarten. Ich wurde mehrfach blutig zusammengeschlagen, nicht nur auf dem Pausenhof.
Als ich 2013 mit einem Produktionsteam für den WDR einen Film über mein Leben drehte, führte ich das Team für eine Szene in die Toilette meines Gymnasiums in Ludwigshafen. Dort war ich wiederholt so brutal zusammengeschlagen worden, dass ich schließlich halb ohnmächtig und am Kopf blutend im Urinal lag. Gerade im Rahmen meiner heutigen Versöhnungsarbeit war es mir wichtig, zu zeigen, dass man an solche Orte alten Schmerzes in Ruhe zurückkehren kann.
»Warum?« Oder vielleicht besser: »Warum ich?« Als Kind und später auch als Jugendlicher konnte ich keine Antworten auf diese Fragen finden. Die Folge: Ich nahm die Welt zunehmend als feindlich wahr. Unruhe, Unsicherheit, Selbstzweifel und Hektik überwältigten mich....
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