Ulrich H. J. Körtner
Für Klarheit, Redlichkeit und Nüchternheit
Die reformatorische Theologie darf nicht weichgespült werden
500 Jahre nach der Reformation
Das Reformationsjubiläum 2017 war das erste im ökumenischen Zeitalter. Verständlicherweise hat man daher stärker nach dem Verbindenden als dem Trennenden zwischen den Kirchen gefragt und Zeichen wachsender Gemeinschaft gesetzt, angefangen beim Papstbesuch am 31. Oktober 2016 in Lund über die ökumenische Reise deutscher Kirchenvertreter nach Jerusalem 2016 bis zum Hildesheimer Buß- und Versöhnungsgottesdienst. Die Reise nach Jerusalem wurde freilich von einem Eklat überschattet, als Bischof Heinrich Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx in ökumenischer Eintracht beim Besuch des Tempelbergs ihre Brustkreuze ablegten, um die Gefühle ihrer muslimischen Gastgeber nicht zu verletzen. Das konnte man als ökumenischen Akt der Selbstaufgabe verstehen, und über diese Seite heutiger Ökumene im interreligiösen Dialog wäre gesondert zu reden.
Erstaunlicherweise hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) das Thema Kirche in ihrer Lutherdekade ausgespart. Dabei ist doch die Frage nach der Zukunft der Kirche(n) im Allgemeinen wie der evangelischen im Besonderen drängend. Verbreitet ist die Überzeugung, man könne auch ohne Kirche ein guter Christ sein oder zumindest ein guter Protestant. Unterstützt wird diese Sichtweise durch die Annahme, Religion sei eine anthropologische Konstante, nur würden die Kirchen an den religiösen Bedürfnissen der Zeitgenossen vorbei agieren. Leere Kirchen seien kein Indiz für das Schwinden der Religion. Sie nehme lediglich außerhalb der verfassten Kirche neue Gestalten an und sei als Geist des Christentums respektive als Geist des Protestantismus ungebrochen präsent.
Eine Religionstheorie, die das Christentum, vor allem in seiner protestantischen Gestalt, zum Sachwalter der Moderne erklärt, ist freilich ideologisch. Sie immunisiert sich gegen jede Empirie und Kritik, weil ihr Konstrukt einer allgegenwärtigen subjektiven Religiosität, das moderne Subjektivität und Religion gleichsetzt, soziologisch nicht greifbar ist. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Verbindung zur Religion schwindet, wo die Verbindung zur Kirche abreißt. Daher stehen die Themen Kirche und Kirchenmitgliedschaft oben auf der ökumenischen Tagesordnung, auch angesichts der Herausforderungen durch das weltweit wachsende charismatische Christentum.
Nach wie vor ist das unterschiedliche Kirchenverständnis der eigentliche Knackpunkt im ökumenischen Gespräch. In einem Beitrag, der im Oktober 2017 in der Herder Korrespondenz erschienen ist, hat Kardinal Rainer Maria Woelki reichlich Wasser in den Wein der ökumenischen Harmonieveranstaltungen gegossen. Der Kölner Erzbischof hatte freilich wohl eher Friedrich Schleiermacher als Martin Luther im Sinn, nach dessen bekannter Unterscheidung die Glaubenden nach evangelischem Verständnis ein Verhältnis zur Kirche haben, weil und insofern sie ein Verhältnis zu Christus haben. Katholisch ist es genau umgekehrt. Solange das so bleibt, kann es nach Woelkis Ansicht kein gemeinsames Abendmahl geben.
Dem Einheitsmodell der versöhnten Verschiedenheit macht Woelki den Vorwurf des Etikettenschwindels, und in evangelischen Kirchen beobachte er streckenweise eine tief unordentliche Praxis, von den Differenzen in der Ämterlehre ganz zu schweigen. Erwartungsgemäß ließ die Kritik katholischer Ökumeniker und Ökumenikerinnen an Woelki nicht lange auf sich warten. Doch mit frommem Wunschdenken ist der Ökumene nicht gedient.
Ähnlich in der Sache, wenngleich etwas diplomatischer als Woelki, äußerte sich auch Kurienkardinal Kurt Koch, der im Vatikan für die Ökumene zuständig ist. Nach wie vor gebe es keine gemeinsame Vorstellung vom Ziel der Ökumene. Die Formel von der Einheit in versöhnter Verschiedenheit sei aus katholischer Sicht keine Zustandsbeschreibung, wie prominente Vertreter der evangelischen Kirchen meinen, sondern lediglich eine Zielbestimmung. Ähnliche Töne kommen von Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Auch wenn er nicht mehr Präfekt der Glaubenskongregation ist, sollte man seine Wortmeldungen nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Vom Konflikt zur Gemeinschaft?
Was die evangelischen Kirchen betrifft, ist das Reformationsjubiläum über weite Strecken zum Gradmesser einer theologischen Orientierungskrise der evangelischen Kirchen geworden. Sie lässt sich zum Beispiel an der Studie »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« ablesen, die der Lutherische Weltbund und die katholische Kirche 2013 vorgelegt haben. Dass die Reformation ein religiöser Aufbruch war, für den man bis heute nur dankbar sein kann, sucht man in dem Bericht vergebens. Zwar liest man gegen Ende des Dokuments, auch Katholiken hätten Grund zur gemeinsamen Freude am Evangelium, doch überwiegt die Klage über die Spaltung der abendländischen Christenheit. Schließlich mündet der Text in katholische und lutherische Bekenntnisse von Sünden gegen die sichtbare Einheit der Kirche. Dabei hätte man schon gern etwas genauer erfahren, was die römische Kirche ihrer Meinung nach alles falsch gemacht hat.
Das Evangelium ist eine Botschaft der Freiheit. Als solches ist es in der Reformation neu zum Klingen und Leuchten gebracht worden. Gott befreit uns Menschen aus allen falschen Bindungen, von Sünde, Tod und Teufel, auch von allen Menschensatzungen, die innerhalb wie außerhalb der Kirche die Menschen der Knechtschaft unterwerfen. Doch von dieser evangelischen Freiheit ist im vorliegenden Dokument nur ganz versteckt die Rede, wenn es auf Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium zu sprechen kommt, ohne dass sich die katholischen Partner Luthers Aussagen auch nur irgendwie zu eigen machen würden.
Wohl unterstreicht das Dokument in ökumenischer Eintracht den Gedanken, dass der Mensch allein aus Gnade (sola gratia) und allein um Christi willen (solus Christus) gerechtfertigt und gerettet wird. Aber dass dies allein durch den Glauben geschieht (sola fide), der kein menschliches Werk, sondern göttliches Geschenk ist und eine unbedingte, wenn auch immer wieder angefochtene Heilsgewissheit begründet, stellt der Text leider nicht klar heraus.
Es ist anzuerkennen, dass sich der Bericht um eine gemeinsame Darstellung der Theologie Luthers und eine gemeinsame Erzählung der Reformation bemüht. Das geschieht aber um den Preis einer weichgespülten Lesart reformatorischer Theologie und der Abschwächung aller historischer Konflikte zu unglücklichen wechselseitigen Missverständnissen und menschlichen Versäumnissen, so dass man sich am Ende fragt, warum die Reformation überhaupt stattfinden musste. Zu Recht verweist das gemeinsame Dokument auf neuere Ergebnisse der Mittelalterforschung, welche die Kontinuitäten, die zwischen Luther, Reformation und mittelalterlicher Kirche bestehen, neu gewichten. Über all dem dürfen aber doch auch die Diskontinuitäten und Neuaufbrüche nicht übersehen werden.
Unglücklicherweise hat das Dokument keinen klaren Begriff von Reformation. Auch unterscheidet es nicht deutlich genug zwischen Reform und Reformation, wodurch ein angemessenes Verständnis der Ereignisse des 16. Jahrhunderts letztlich verbaut wird. Für Luther war die Reformation das Werk Gottes und nicht der Menschen, wie auch der Glaube, durch den allein der Mensch das Heil erlangt, nicht ein Werk ist, zu dem der Mensch sich entschließen kann, sondern unverfügbare Gabe Gottes. Darum hat sich Luther, woran der evangelische Kirchenhistoriker Christoph Markschies erinnert, auch nicht als Reformator, sondern lediglich als Vorreformator verstanden, der wie Johannes der Täufer auf Christus und sein Wort, nämlich das Evangelium von der freien Gnade Gottes, verweist.
Kongenial zu Luther hat Karl Barth Gott und seine freie Gnade als Subjekt der beständigen Reformation der Kirche und der Erneuerung des christlichen Glaubens verstanden. Die von ihm geprägte Formel ecclesia semper reformanda, die in die Reformationszeit zurückreicht und auch im Zweiten Vatikanischen Konzil ihr Echo gefunden hat, steht nicht für menschliche Reformprogramme, sondern für Gottes erneuerndes Handeln an seiner Kirche und an den einzelnen Menschen.
In der Studie »Vom Konflikt zur Gemeinschaft« verschwindet das Proprium der Reformation im Nebel einer ökumenischen Theologie, welche das Ziel einer sichtbaren Einheit der Kirchen vor die Suche nach theologischer Wahrheit stellt. Was die evangelische Seite betrifft, vermittelt das Dokument den Eindruck eines Luthertums, das an sich selbst irre zu werden droht. Das ist besorgniserregend.
Man fragt sich auch sonst, was eigentlich vom reformatorischen Erbe der evangelischen Kirchen geblieben ist. Der Historiker Volker Reinhardt zieht in seinem glänzend geschriebenen Buch »Luther, der Ketzer«, das 2016 veröffentlicht wurde1, eine nüchterne Bilanz: Im Grunde sei es längst begraben. Luthers und Calvins Lehre von der Erwählung der Glaubenden und der Verwerfung derer, die nicht glauben, verstoße »gegen jede correctness, also wird diese sperrige Seite« der Rechtfertigungslehre »ausgeblendet, ja geradezu ins Gegenteil verkehrt: Jede und jeder kommt ins Paradies«. Luthers anthropologischer Pessimismus, der die Konsequenz seiner radikalen Sündenlehre ist, sei »vom heutigen Luthertum, jedenfalls dem europäischen, in sozialpolitischen Aktionismus, in das Streben nach mehr Gerechtigkeit im Diesseits, umgeschlagen«, das mit Luther kaum etwas zu tun hat. »Auf diese Weise hat sich das heutige Luthertum, ohne es zu wollen (und vielleicht sogar oft, ohne es zu...