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E-Book

Slow Medicine - Medizin mit Seele

Die verlorene Kunst des Heilens

AutorVictoria Sweet
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783451814891
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die Ärztin Victoria Sweet erzählt ihre persönliche Reise zu einer neuen Medizin. Sie berichtet von unvergesslichen Erfahrungen mit Patienten, Ärzten und Krankenpflegern, dank derer sie das Konzept der Slow Medicine entdeckte. Sie zeigt auf, dass die Medizin Handwerk, Kunst und Wissenschaft in einem ist. Slow Medicine führt 'schnelle' und 'langsame' Medizin zu einem wahrhaft effektiven, effizienten, nachhaltigen und menschlichen Weg der Heilung zusammen. Victoria Sweet arbeitet bereits viele Jahre als Ärztin an Krankenhäusern als ihr klar wird, dass sie mit der vorherrschenden Auffassung von Medizin immer größere Probleme hat. Bereits seit dem Studium hat sie eine eigene Version von Medizin, die sich maßgeblich von der gängigen Praxis unterscheidet. Damals lernte sie die moderne Medizin kennen, die auf der Vorstellung basiert, der Körper sei eine Maschine bzw. eine Ansammlung von Maschinen. Demnach sind Erkrankungen Schäden an der Maschine, Ärzte sind Mechaniker, die herausfinden müssen, was kaputt ist, um den Schaden zu beheben. Dieser Annahme folgend besteht das Heilungskonzept darin, die Maschine auseinanderzunehmen und in sie hineinzuschauen. Victoria Sweet liegen jedoch die Ideen der Medizin der Vormoderne viel näher. Dort wird der Körper als Pflanze verstanden und Krankheiten sind Ausdruck einer mangelnden Übereinstimmung zwischen innerem Körper und äußerer Welt. Der Arzt ist der Gärtner, der den Patienten im Kontext seiner Umgebung betrachtet. Er verändert, was er ändern kann und räumt beiseite, was den Patienten daran hindert, von allein gesund zu werden. Doch egal ob man den Körper als Pflanze, Maschine oder sogar Computer versteht, keines dieser Bilder kann den menschlichen Körper wirklich beschreiben. In der Arbeit mit Patienten stellt Victoria Sweet fest: 'Der Weg der Heilung ist eher induktiv als deduktiv, ineinandergreifend. Bei dieser Art von Heilung findet ein Geben und Nehmen zwischen Körper und Pflegendem, zwischen Patient und Arzt statt - eine Wechselwirkung zwischen jedem Organ, jeder Zelle.' Sie findet lange keinen Namen für diese Art der Medizin bis die Slow Food-Bewegung entsteht und sie versteht, dass diese dieselben Prinzipien beinhaltet wie ihre Version der Medizin: Slow Medicine also. In ihrem zweiten Buch nach 'God´s Hotel' hält Victoria Sweet ein überzeugendes Plädoyer für eine patientenorientierte Medizin. Die leidenschaftliche Ärztin hat ein mitreißendes Memoire voll von Geschichten, Seele und Fakten verfasst. Giovanni Maio, Professor für Medizinethik an der Universität Freiburg und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, schreibt in seinem Vorwort: ' Mit 'Slow Medicine' berührt Victoria Sweet ein eminent wichtiges Thema der gegenwärtigen Medizin, die vor allem deswegen sich in eine für Patienten und Heilberufe unheilvolle Richtung entwickelt, weil die Bedeutsamkeit der Zeit viel zu wenig reflektiert wird. Die moderne Medizin ist durch nichts anderes mehr geprägt als durch den strukturell über sie verhängten Zeitdruck.'

Victoria Sweet arbeitete zwanzig Jahre lang als Ärztin im San Francisco's Laguna Honda Hospital und schrieb darüber den Bestseller 'God's Hotel: A Doctor, a Hospital, and a Pilgrimage to the Heart of Medicine'. Heute lehrt sie als Associate Clinical Professor of Medicine an der University of California, San Francisco. Sweet ist zudem promovierte Medizinhistorikerin (sie forschte über Hildegard von Bingen) und war Trägerin des Guggenheim Fellowship.

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Leseprobe

Prolog

Medizin ohne Seele


Ich wusste nicht, wie schlimm es war, bis mein Vater ins Krankenhaus kam.

Es begann an einem Freitagnachmittag in der Woche vor Thanksgiving – nicht gerade der beste Zeitpunkt, um krank zu werden. Auch Kliniken und Ärzte haben einen gewissen Wochenrhythmus, und freitagnachmittags wollen wir rasch noch alles erledigen, was nicht bis Montag warten kann. Mein Vater hatte gemeinsam mit meiner Mutter in einem Restaurant zu Mittag gegessen und sich anschließend hingelegt. Dann sah sie, wie er einen Anfall bekam.

Das war nichts Neues. In den vergangenen Jahren hatte er mehrere Grand-mal-Anfälle gehabt und musste entsprechende Medikamente einnehmen, was er manchmal vergaß. Und obwohl meine Mutter bereits mehrere Anfälle bei ihm erlebt hatte, war sie erschrocken. Krampfanfälle wirken beängstigend, hinterlassen aber meist keine Schäden.1

Sie wählte den Notruf, und die Sanitäter brachten meinen Vater in das hübsche, nur fünf Blocks entfernte Gemeindekrankenhaus, wo er untersucht und stationär aufgenommen wurde.

Das überraschte mich. In dem öffentlichen Krankenhaus in San Francisco, wo ich als Ärztin arbeite, wäre er wegen eines einfachen, wiederholten Grand-mal-Anfalls nicht stationär behandelt worden. Wir hätten seine Laborwerte kontrolliert und ein CT gemacht, ihn über Nacht zur Beobachtung in der Notaufnahme behalten, seine Medikamentendosis angepasst und ihn am nächsten Morgen nach Hause geschickt. Doch in dem kleinen Gemeindekrankenhaus ließen die Ärzte sich Zeit. Sie würden seine Medikation richtig einstellen und meine betagte Mutter schlafen lassen. Wie human.

Ich beruhigte meine Familie. Am nächsten Nachmittag, wenn er sich von den Folgen des Anfalls erholt haben würde und nach Hause gehen könnte, wollte ich vorbeischauen. Wahrscheinlich würde es ihm dann besser gehen als vorher. So schrecklich sie auch mit anzusehen sind – Grand-mal-Anfälle machen einen klaren Kopf. Mit der Elektrokrampftherapie, bei der Stromstöße durch das Gehirn gejagt werden, wird dieselbe Wirkung erzielt. Bei einem Grand-mal-Anfall werden alle Programme schlagartig heruntergefahren, und dann, ähnlich wie beim Neustart eines Computers, kommen die Funktionen eine nach der anderen zurück. Zuerst öffnet der Patient die Augen, dann bewegt sich sein Körper, dann lächelt er. Er findet die Sprache wieder, und dann das Gedächtnis. In gewisser Weise sind Grand-mal-Anfälle gut, denn alles wird neu geordnet und gespeichert. Hinterher ist alles klarer, rascher. Die Verbindungen stehen wieder.

Doch als ich das Einzelzimmer meines Vaters mit dem Blick auf die Berge und dem schönen natürlichen Licht betrat, war ich schockiert. Man hatte ihn an Hand- und Fußgelenken ans Bett fixiert, er war nicht ansprechbar, und am Bett hing ein Beutel mit blutigem Urin. Meine Mutter saß neben ihm, verängstigt und bleich.

Sie waren seit 68 Jahren zusammen, eine Art Romeo-und-Julia-Beziehung, wenn Sie sich vorstellen können, wie reizbar Romeo nach den ersten zwanzig Ehejahren geworden wäre, und wie herrisch, wie gestresst Julia auf alles im Leben reagiert hätte, was Romeo auf die Palme brachte, einschließlich sie selbst. Meine Mutter war immer noch schön, und auch mein Vater nach wie vor ein gutaussehender Mann. Weißes Haar, blaugraue Augen, die mal aufmerksam und skeptisch, mal schelmisch dreinschauten. Er achtete penibel auf sein Äußeres – Hemd, Krawatte und Jackett – und auf seine Umgangsformen: Noch immer hielt er Frauen die Tür auf, und wenn man mit ihm spazieren ging, lief er stets auf der Straßenseite des Gehwegs. Er war immer taff gewesen, hatte sich nie beklagt. Bis zu diesem Nachmittag hatte ich ihn niemals hilflos, ängstlich oder eingeschüchtert erlebt.

Ich verließ das Zimmer, um seinen Arzt beziehungsweise den diensthabenden Arzt zu suchen, der während dieser Schicht für ihn zuständig war. Dr. Jay saß allein im Stationszimmer und tippte etwas am Computer. Ich stellte mich ihm als Ärztin vor. Er hatte es eilig, weil noch weitere Patienten auf ihn warteten – eine Situation, die ich nur allzu gut kenne. Während er mit mir sprach, wandte er den Blick nicht vom Bildschirm ab.

»Ihr Vater wurde gestern Abend mit einem erstmaligen Krampf­anfall eingeliefert, und natürlich haben wir ihn stationär aufgenommen, um einen Schlaganfall auszuschließen. Sein CT war unauffällig, daher haben wir für morgen ein weiteres CT angesetzt. Wie Sie wissen, ist das erste CT nach einem Schlaganfall manchmal unauffällig.«

Ich war erstaunt. Es war nicht Vaters erster Anfall gewesen, sondern einer von vielen. Das war ein entscheidender Unterschied, denn bei einem Mann seines Alters rührt ein erstmaliger Anfall tatsächlich fast immer von einem Schlaganfall her, und in diesem Fall tritt automatisch das Stroke-Protokoll in Kraft. Dagegen bedeutet ein Krampfanfall bei jemandem mit einer Vorgeschichte von Anfällen in der Regel, dass er vergessen hat, seine Medikamente zu nehmen.

»Aber das ist nicht sein erster Anfall«, erklärte ich dem Arzt. »Er hat schon seit Jahren Anfälle.«

Dr. Jay hörte auf zu tippen. Jetzt sah er überrascht aus: »Ich bin mir sicher, ›erstmaliger Anfall‹ in seiner elektronischen Patientenakte gelesen zu haben … Warten Sie mal … Ah ja, hier steht es. Wusste ich’s doch. Der Aufnahmevermerk des Neurologen lautet: ›Erstmaliger Krampfanfall, Schlaganfall ausschließen‹.«

»Es ist aber nicht sein erster Anfall, sondern einer von vielen. Schauen Sie, auf seiner Allergie-Liste ist sogar eine Allergie gegen ein bestimmtes Antikonvulsivum vermerkt.« Ich deutete über seine Schulter hinweg auf den Bildschirm und zeigte ihm den Eintrag.

»Hmmm … ja, stimmt. In diesem Fall sollte ich die Diagnose ändern.«

Dr. Jay versuchte ziemlich lange, eine neue Diagnose einzugeben, schien aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. »Nun, wir werden ein weiteres CT machen. Manchmal sind Schlaganfälle beim ersten Scan nicht erkennbar.«

Ich ging zurück in Vaters Zimmer, um ihn mir nochmal anzuschauen. Vielleicht hatte ich etwas übersehen. Vielleicht hatte er ja zeitgleich mit dem Krampfanfall einen Schlaganfall gehabt.

Vater schlief. Er war allein. In seinem Arm steckte ein Infusionsschlauch, in seiner Blase ein Katheter, und ein Clip an seinem Finger übertrug die Blutdruckwerte und die Pulsfrequenz per Funk an einen Computer im Gang. Ich setzte mich ans Bett, und er öffnete die Augen. Er hatte nicht geschlafen, sondern nur so getan. Dann untersuchte ich ihn auf Anzeichen für einen Schlaganfall. Seine Pupillen waren gleich groß, Arme und Beine gleich kräftig, keine Veränderung im Gesicht. Natürlich war er schläfrig, schließlich erholte er sich noch von dem Anfall. Außerdem stand er unter dem Einfluss des Beruhigungsmittels, das man ihm verabreichte, und er hatte in der Nacht wenig geschlafen. Aber das war alles.

»Wann komme ich hier raus?«, fragte er mich.

»Bald. Sie wollen erst noch einen weiteren Gehirn-Scan machen.«

Ich wollte Dr. Jay nach dem Grund für den Katheter und die Vier-Punkt-Fixierung fragen, aber er war nicht mehr da. Weit und breit keine Pflegekraft, nicht einmal ein Pförtner war zur Stelle.

Vater hatte wieder eine schlechte Nacht. Er war unruhig, der Katheter tat ihm weh, und er versuchte ständig, ihn sich herauszuziehen. Daraufhin bekam er noch mehr Beruhigungsmittel verabreicht und man fixierte ihn wieder ans Bett. Das zweite CT war ebenfalls unauffällig, aber das Stroke-Protokoll wurde trotzdem fortgesetzt. Dr. Jays Versuche, die Schlaganfall-Diagnose zu ändern, waren offenbar erfolglos gewesen. Als ich meinen Vater am nächsten Nachmittag besuchte, war er immer noch fixiert, und der Katheter war immer noch drin. Er hatte jetzt einen Stoppelbart, war ungewaschen, erschöpft, durcheinander und allein. Und schwach. Wegen dem Schlaganfallverdacht hatte man ihm nichts zu essen gegeben, und er hatte seit zwei Tagen keine einzige Kalorie zu sich genommen.

»Wie komme ich hier raus?«, fragte er mich. »Kannst du mich losmachen? Sie geben mir nichts zu essen, sie haben mich festgebunden, ich kann mir nicht mal die Nase kratzen.«

»Du kommst hier raus, aber es wird eine Weile dauern. Wichtig ist jetzt: Wenn sie kommen und dich nach dem Datum und dem Ort fragen und von dir hören wollen, wer gerade Präsident der Vereinigten Staaten ist, hör auf, ihnen zu erzählen, es sei Millard Fillmore.2 Sie wissen nicht, wer das ist, und sie merken nicht, dass du sie auf den Arm nimmst. Sie denken, du seist verrückt.«

Er sah mich mit seinen blauen Augen an, die immer noch funkeln konnten. »Okay.«

Später sah ich in seiner elektronischen Patientenakte, dass niemand gekommen war, um ihn nach dem Datum, dem Ort oder dem Präsidenten zu fragen. Ärzte, Pfleger, Therapeuten – alle warfen nur einen kurzen Blick durch die Tür, sahen einen unrasierten alten Mann, der ans Bett gegurtet war, und kreuzten auf ihrer Checkliste »verwirrt« an.

Jeden Tag war ein anderer Arzt zuständig, der dem Stroke-Protokoll folgte, obwohl Vater keinen Schlaganfall gehabt hatte. Die Logopädin kam immer morgens, wenn er noch benommen war von den Beruhigungsmitteln der Nacht, und fand, dass eine orale Nahrungsaufnahme zu gefährlich sei. Der Physiotherapeut kam vorbei und hielt es für zu riskant, ihn aufstehen zu lassen. Aspirin, Blutverdünner und Blutdruckmittel, das volle Programm. Die Qualitätssicherung wäre zufrieden gewesen – hätte er einen Schlaganfall gehabt.

Am Donnerstag, als man im Krankenhaus begann, sich auf die...

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