Vorwort von Prof. Dr. Jörg Roesler
Bemerkungen zu einem bemerkenswerten Werk und seinem Verfasser
Teil I
Siegfried Wenzel gehörte in der Wendezeit 1989/89 zu den Aktiven, allerdings war er anders aktiv als die aus zeitgenössischen Medienberichten bekannten »Aktivisten der Wendezeit«. Er machte keine Schlagzeilen. Wenzel leistete, von den Medien fast unbemerkt, verantwortungsvolle Arbeit: unter der Regierung von Willy Stoph bis zum November 1989 als stellvertretender Leiter der Staatlichen Plankommission, unter der Regierung von Hans Modrow bis März 1990 – Monaten, in denen sich die Staatliche Plankommission zur Wirtschaftskommission beim Ministerrat wandelte – und schließlich als Beauftragter in der Regierung von Lothar de Maizière, solange die noch für die Wirtschaft der DDR Verantwortung trug, d.h. bis zum Juli 1990.
Drei Dienstherren innerhalb eines Jahres, die seine Arbeit zu schätzen wussten. Wenzel wurde von Modrow in die Expertenkommission berufen, die das Abkommen über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ausarbeiten sollte. De Maizière bestätigte ihn auf diesem Posten. Schließlich wurde Siegfried Wenzel für den 18. Mai 1990 nach Bonn eingeladen. Anlass war die feierliche Unterzeichnung des Vertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, unter den die Finanzminister Theo Waigel für die Bundesrepublik und Walter Romberg für die DDR in Anwesenheit von Helmut Kohl und Lothar de Maizière ihre Namen setzten.
Das Bild von der Unterzeichnung des Staatsvertrages, wie er offiziell genannt wurde, ging um die Welt: Ein äußerst zufriedener Theo Waigel, der lächelnd in die Kamera schaut, und ein DDR-Finanzminister, der bemüht ist, seine Gefühle nicht publik zu machen.1
Es liegt nahe zu fragen: War Siegfried Wenzel ein Wendehals? Was dachte er sich, als er von einem Ministerpräsidenten zum nächsten wechselte? Fühlte er sich dabei wohl in seiner Haut? Bei seiner Tätigkeit?
Nun, wir müssen nicht vermuten, sondern wir wissen es – von ihm selbst. Er hat zu dieser Problematik nicht geschwiegen. Siegfried Wenzel war – zusammen mit seinen DDR-Kollegen der Expertenkommission – bemüht, die Einführung der Marktwirtschaft in der DDR, die mit einer Währungsunion eingeleitet werden sollte, für die Betriebe in Ostdeutschland so verträglich wie möglich zu gestalten. Die Vertreter der DDR hielten es für notwendig, in einer Anlage zum auszuarbeitenden Staatsvertrag detaillierte Festlegungen zur Strukturanpassung in der DDR-Wirtschaft zu formulieren: Den Betrieben sollte zunächst eine Atempause gewährt werden, und eine Überflutung der DDR mit Westwaren war zu verhindern. In beidem waren sich die DDR-Vertreter einig. Aber sie saßen am kürzeren Hebel. Die Experten aus dem Westen lehnten die Einführung von Lieferkontingenten für westdeutsche Waren und andere Maßnahmen, durch die den ostdeutschen Betrieben eine zeitlich begrenzte Anpassungsphase gewährt worden wäre, rundweg ab.2
Angesichts dieser unkooperativen Haltung der Westexperten kam bei Siegfried Wenzel wiederum die Frage auf, die er sich erstmals gestellt hatte, als er in die Expertenkommission berufen worden war: Musst du da mitarbeiten? Und bist du – mit deiner Biographie – überhaupt geeignet dafür?
Während des hektischen Ablaufs der Arbeit in der Expertenkommission zwischen Mitte März und Mitte Mai 1990 hatte Siegfried Wenzel diese Fragen immer wieder verdrängt. Ihm war schlichtweg keine Zeit geblieben, sich eingehend damit zu beschäftigen. Erst als er dann zur Unterzeichnungszeremonie nach Bonn an den Rhein fuhr, tauchten die quälenden Fragen mit allem Nachdruck wieder auf. Wie verhielt sich Siegfried Wenzel nun angesichts der ambivalenten Situation? Der Leser kann es in diesem Buch nachlesen: »Ich suchte mir einen Platz in der hintersten Stuhlreihe.«3
Dass er dabei sein würde, wenn die Kapitulationsurkunde der DDR-Planwirtschaft unterschrieben würde, das war ihm wahrlich nie in den Sinn gekommen. Siegfried Wenzel hatte eine »echte« DDR-Karriere hinter sich: Geboren 1929 in Aue im Erzgebirge, studierte er als Absolvent der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Wirtschaftswissenschaften an der Universität Leipzig. Nach Studienabschluss war er im Zentralvorstand der gegenseitigen Bauernhilfe tätig gewesen, verantwortlich für bäuerliche Handels- und Molkereigenossenschaften. 1955 holte man den jungen Mann in die Staatliche Plankommission, ins Herzstück der DDR-Planwirtschaft. Hier leistete er gute Arbeit, stieg auf. 1967 avancierte er zum stellvertretenden Vorsitzenden. In dieser Funktion war er lange Jahre zuständig für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Plankoordinierung. Siegfried Wenzel gab sein Bestes auf verantwortungsvollem Posten. »Wir sind die Rechner«, proklamierte sein Kollege und Staatssekretär Heinz Klopfer gern. Siegfried Wenzel war es in besonderem Maße – ein Nach- und Durchrechner.
Der Wirtschaftswissenschaftler Klaus Steinitz, der zwischen 1963 und 1980 Mitarbeiter der Staatlichen Plankommission war, spricht mit Hochachtung von Siegfried Wenzels Tätigkeit dort.4 Wolfgang Rauchfuß, langjähriger Minister für Materialwirtschaft, 1993 befragt, hebt Wenzels stetes Bemühen um einen realistischen Plan hervor.5 Auch Gerhard Schürer, Wenzels Chef, zollt ihm in seinen Memoiren für seine geleistete Arbeit »Achtung und Respekt«6.
Siegfried Wenzel besaß Schürers volles Vertrauen, wie aus folgender Episode hervorgeht, über die der Vorsitzende der Plankommission berichtet: Die »Rechner« wussten zwar nicht alles, aber doch genügend über die prekäre wirtschaftliche Lage der DDR, um sich ernsthafte Sorgen zu machen. Wie man den Problemen begegnen könnte, war Gegenstand einer Unterredung zwischen ihm, Siegfried Wenzel und Alexander Schalck-Golodkowski im Mai 1988. Die drei Herren diskutierten die Möglichkeiten einer Konföderation zwischen beiden deutschen Staaten als einen denkbaren Weg für die Lösung der wirtschaftlichen Probleme der DDR.7
Zehn Jahre später anlässlich einer Podiumsdiskussion darauf angesprochen, ob er, der besser als die meisten DDR-Bürger über die Mängel in der Wirtschaft und die geringer werdenden Chancen für die ostdeutsche Republik Bescheid gewusst habe, als »Reisekader« nicht versucht habe, aus der in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre drohenden Krise herauszukommen und die DDR zu verlassen, machte Siegfried Wenzel kein Geheimnis aus seinem Standpunkt innerhalb dieser Zeit. Natürlich habe er sich darüber Gedanken gemacht, so Wenzel, sei aber eindeutig zu dem Schluss gekommen: »Ich war Mitglied dieser Partei, der SED aus Überzeugung. Ich habe sehr früh gemerkt, dass das System Fehler hatte und dass die Parteidoktrin Fehler hatte, aber ich muss sagen: Ich habe nie daran gedacht, die Partei zu verlassen, oder man könnte auch sagen: zu verraten, die DDR zu verraten. Wir – es gab da einen Kreis von Leuten, von Freunden, die sich verständigt haben – wir haben gesagt: Wir müssen erreichen, dass wir die DDR und den Sozialismus besser machen. Es gibt einen Weg.«8
Wenzels verantwortungsvolle Arbeit vollzog sich jenseits der öffentlichen Aufmerksamkeit in DDR und Bundesrepublik. In Günter Buchs im Westen Deutschlands als exakte Informationsquelle hochgeschätzter Publikation »Namen und Daten wichtiger Personen der DDR«, das über 2300 Biographien enthält, bleibt Siegfried Wenzel unerwähnt. Im Vorwort der Ausgabe von 1979 entschuldigt Buch sich allerdings: »Wenn einige Funktionsträger fehlen, so hat das seinen Grund darin, dass über ihr Leben trotz größter Bemühungen keine Daten vorlagen.«9 Zweifellos traf das auch auf Siegfried Wenzel zu.
Weniger verständlich ist, warum Siegfried Wenzel auch im bekanntesten »nachwendischen« biographischen Lexikon »Wer war wer in der DDR?« nicht erwähnt wird, selbst in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen, überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe dieses Lexikons vom Jahre 2009 nicht, in der mehr als 2700 Personen vorgestellt werden.10 Vorgedrängt hat sich Siegfried Wenzel offensichtlich niemals, nicht nur während der Unterzeichnungszeremonie des Staatsvertrages über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nicht.
Mit der Übernahme des Wirtschaftsregiments in der DDR nach dem 1. Juli 1990 durch Bonner Minister wie Theo Waigel verlor Siegfried Wenzel gewissermaßen seinen Arbeitsgegenstand. Er wurde aus seinem Amt entlassen und verdiente sein Geld fortan mit der Umschulung Arbeitsloser im Fach Buchführung am ehemaligen Institut für Wirtschaftsführung des Ministeriums für Bezirksgeleitete Industrie in Berlin-Baumschulenweg. Spätestens ab 1994, als er planmäßig in Rente ging, hatte er mehr Zeit, über seine frühere Tätigkeit und über die Wirtschaft der DDR nachzudenken. Hatte die DDR untergehen müssen? Lag es »nur« an der Planwirtschaft oder aber an dem Politikverständnis und der politischen Praxis der SED-Führung?
Siegfried Wenzel erarbeitete sich – sicher ein schmerzlicher Prozess für einen, der an der Gestaltung der DDR jahrzehntelang mitgewirkt hatte – dazu seine Meinung, mit der er nicht mehr hinter dem Berg hielt. Es drängte ihn, der bislang stets im...