KAPITEL 2
Mythen und Legenden rund ums Wasser
Wasser ist ein ganz besonderer Stoff, »das Blut des Planeten«, wie Leonardo da Vinci treffend das lebenswichtige Elixier beschrieb. Wasser war für die Geschichte unserer Erde der Urstoff allen Lebens. Aus ihm entstand vor Millionen von Jahren das Leben. Vor rund 400 Millionen Jahren krabbelten die ersten Lebewesen aus dem Wasser und erstürmten das Land.
Wasser gilt als Symbol des Lebens, der Lebenskraft, der Erneuerung und der Reinigung. Wasser garantiert das Überleben unserer Materie. Es ist auch ein kulturübergreifendes Symbol für das geistige Dasein und die Fruchtbarkeit des Menschen. In den Weltreligionen ist das Element Wasser oft heilig und heilend, und steht häufig als Symbol für eine geheimnisvolle Lebenskraft. Flüsse und Quellen werden deswegen in den unterschiedlichsten Religionen als heilige Orte angesehen, selbst die jüdische Tradition, die im Allgemeinen die Verherrlichung von Naturphänomenen ablehnt, kennt geheiligte Quellen und Flüsse. Mit Wasser verband der Mensch schon immer Mythisches und Mystisches. In fast allen Kulturen unserer Erde gibt es Götter, die dieses Element bewohnen und auch Dämonen und Geister, die sich dorthin zurückgezogen haben. In unzähligen Mythen und Geschichten spielt Wasser ein zentrale Rolle, allen voran die Sintflut und die Arche Noah.
Der gläubige Anhänger des Hinduismus kann in einer der Puranas (einem heiligen Text) nachlesen, dass Wasser als Ursprung der ganzen Existenz gilt. Auch nach der babylonischen Weltschöpfungsgeschichte Enuma Elish ging die Erde aus einem Wasserchaos hervor. Die Babylonier rechneten nicht nur den Lebewesen, sondern auch den Elementen und Naturgewalten Persönlichkeiten zu, so auch dem Wasser. Hierbei waren das fruchtbare weibliche Salzwasser und das männliche Süßwasser noch in einem gewaltigen Ur-Ozean miteinander vereint, bevor sie sich später teilten.
In der germanischen Religion galten Quellen als heilige Orte, weshalb später auch viele Wallfahrtskirchen über heiligen Quellen gebaut wurden. Legenden berichten von Krankenheilungen durch Quellwasser. So zum Beispiel in Lourdes in den französischen Pyrenäen, wo im Jahre 1858 dem Mädchen Bernadette Soubirous an einer Grotte wiederholt die heilige Maria erschien. Während einer dieser Visionen entsprang urplötzlich aus der Grotte eine Quelle. Der Ort ist seitdem katholische Pilgerstätte vieler Gläubiger und Kranker. Als heiliger Fluss gilt sowohl für Christen als auch für Juden der Jordan im Nahen Osten. Nach dem Neuen Testament wurde Jesus von Johannes dem Täufer im Jordan getauft.
In Indien gibt es sogar sieben heilige Flüsse. Der heiligste dieser Wasserläufe ist zweifelsohne der Ganges. Ein Bad in ihm dient der rituellen Reinigung, und jeder Hindu möchte gerne am Ganges sterben. Der Verehrung dieses Flusses liegt der Mythos von der Flussgöttin Ganga zugrunde: Der Weise Kapila hatte die ungehobelten Söhne des Königs Sagara zu Asche verbrannt. Die als Milchstraße am Himmel fließende Ganga war nötig, um das Totenritual zu vollziehen. Jedoch gelang es erst viele Jahre später Baghirata das Wasser vom Himmel zu holen, ohne dass die herabstürzenden Wassermassen die Erde zerstörten. Hilfe bekam Baghirata nach tausendjähriger Askese vom Gott Shiva, der den Aufprall der Wassermassen mit seinen Haaren bremste.
Auch Waschungen gehören zum Bestandteil vieler Glaubensrichtungen. Man versucht sich dadurch seiner Sünden zu befreien. Als geweihtes Wasser dient es der Übertragung des Segens und der Gnade nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere und Gegenstände. Man denke etwa an Taufen, Weihwasser, an rituelle Bäder und Waschungen, wie sie zum Beispiel im Islam eine tragende Rolle spielen.
Die Kelten in Mitteleuropa warfen Münzen und Schmuck in Seen und Flüsse, um den im Wasser lebenden Göttern zu danken. Die griechische Mythologie wiederum betont besonders die Bedeutung des Wassers für die Entstehung des Lebens. Einer der zwölf Titanen war der Meeresgott Okeanos. Mit seiner Schwester und Gattin Tethys zeugte er die Flussgötter und die Nymphen, die über die Meere herrschen, die so genannten Okeaniden, nahezu 4000 an der Zahl. Die beiden haben sich glücklicherweise rechtzeitig getrennt, denn sonst würden sie noch heute Quellen und Flüsse zeugen und schließlich die Welt aus den Angeln heben.
Auch Märchenschreiber griffen das Thema Wasser in ihren Werken immer wieder auf. Zum Beispiel widmeten sich die Gebrüder Grimm in dem Märchen »Das Wasser des Lebens« ganz dem kostbaren Gut, das dort die Kraft besitzt, Todgeweihte zu heilen.
Neben weltbekannten Mythen, Überlieferungen und Märchen gibt es natürlich auch unzählige regionale Geschichten, die sich um das Thema Wasser ranken. Viele kleine Seen und Flüsse vor unserer Haustür und vor allem viele Quellen sind Schauplatz geheimnisvoller Erzählungen.
Auf der Suche nach dem Leben lasst uns zu dem Brunnen gehen…
Einige Beispiele aus Deutschland…
Wilthen im Landkreis Bautzen in Sachsen: Wie einst in der griechischen Mythologie Tantalos, der von den Göttern verstoßen und mit ewigen Qualen gepeinigt wurde, erging es laut sächsischer Legende einer jungen Frau. Heute noch, immer um die Mittagszeit, wandert sie weißgekleidet zur Butterwasser-Quelle, um ihren Durst zu löschen. Doch so oft sie sich auch bückt, um das Wasser mit den Händen zu schöpfen, immer versiegt es im Sand. Die Einheimischen nennen diese Erscheinung »Der ewige Durst«.
OberesPüttlachtalinderFränkischenSchweizinBayern: Dort liegt die Veilchenquelle. Man sagt, dass zu bestimmten Zeiten des Jahres aus dieser Quelle auch kleine Veilchen hervorsprudeln. Die Veilchen gelten als Symbol für die Klarheit und Reinheit des Wassers und die Unschuld derjenigen, die aus der Quelle trinken. Dieses Wasser soll obendrein vor allem gegen Halsschmerzen helfen.
Heidelberg in Baden-Württemberg: Dort erzählt man sich die Legende vom Zwerg Perkeo. Der wegen seines schlagfertigen Witzes bekannte Zwerg Klemens Perkeo aus Salurn in Südtirol war um 1720 Hofnarr und Kammerherr des Kurfürsten Karl Philipp von der Pfalz. Seine Statue steht heute auf dem Sockel gegenüber dem großen Fass im Heidelberger Schloss. Das große Holz-Weinfass konnte 195 000 Liter aufnehmen. Auf die Frage, ob er das Fass austrinken könne, antwortete der kluge und trinkfeste Zwerg immer mit »perche no?«, auf Deutsch »Warum nicht?«, was ihm den Spitznamen Perkeo einbrachte. Die Legende erzählt, dass er starb, nachdem er einmal statt Wein ein Glas Wasser getrunken hatte (sicherlich kein Mineralwasser!).
…aus Österreich
Globasnitz in Kärnten: Um Ihre Unschuld zu retten sprang der Legende nach ein Mädchen, das von einem Kärntner Burschen verfolgt wurde, in ein Loch, das zu einer Grotte führte. Die heilige Rosalia selbst fing sie auf und geboren war der »Jungfernsprung«. Die Rosaliakapelle ist eine kleine Holzkapelle innerhalb der Grotte. Unter dem Altar entspringt die Rosalienquelle, die kranke Augen heilen soll und früher der Pestabwehr diente.
Matschach, ebenfalls in Kärnten: Hier ist eine gräfliche Jagd überliefert, bei der sich die Jäger verirrten und nahe am Verdursten waren. Der Graf gelobte, dort, wo er eine Wasserquelle finden würde, eine Kapelle zu bauen. Da lief ein Hirsch vorüber und führte den Grafen zu einer Quelle. Der Graf hielt sein Versprechen und seit dieser Zeit steht dort die St.-Ruperti-Kirche. Das Wasser fließt noch heute frei und wird von der Bevölkerung genutzt.
Hausruckviertel in Oberösterreich: Zwei Schwestern, die eine gut, die andere böse, erbten ein Schloss mit einer Kirche. Die böse Schwester quälte ihre armen Untertanen und wurde deshalb vom Himmel mehrmals unter Androhung von Strafe zur Besserung ermahnt. Doch sie besserte sich nicht. Da geschah es, dass eines Tages ein See zum Vorschein kam und das Schloss mit der Kirche und den beiden Jungfern versank. Es ist der heutige Irrsee (Zeller See), der deshalb auch Jungfernsee genannt wird.
Osterwitz in der Steiermark: Die heilige Maria soll an der Betleiten-Quelle, als es gerade zum Beten läutete, die Windeln gewaschen haben, und darum soll das Wasser auch so angenehm riechen. Wallfahrer laufen deshalb auch gerne barfuß durch das Wasser und...