Einleitung
In diesem Gebetbuch soll unsere Generation von Gläubigen ermuntert werden, gewissermaßen gemeinsam mit den Vätern unserer Glaubensbewegung, den Täufern, zu beten und beten zu lernen.
Wir beziehen die meisten Gebete aus der erstmals 1708 erschienenen „Die ernsthafte Christenpflicht“,1 welches bis heute das Gebetbuch der Amischen Gemeinden in den USA und Kanada ist, sowie aus anderen täuferischen Quellen. Wir gebrauchen es regelmäßig, privat und in unseren Hausgottesdiensten, und stimmen damit ein in die Glaubens- und Lebenssicht von Christen, die unter viel größeren Entbehrungen als wir dem Herrn die Treue zu halten entschlossen waren.
So gerne wir jedem diese Christenpflicht empfehlen und ans Herz legen möchten, so sehr müssen wir doch auch zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die alte Schrift als auch die altertümlichen Formulierungen viele mehr abschrecken als zum Gebet ermuntern. Daher geben wir in diesem Buch die Gebete der Christenpflicht in modernerem Deutsch wieder, gruppieren sie thematisch und ergänzen diese mit weiteren Gebeten und Texten aus täuferischem Hintergrund.
Auch mag der Titel „Die ernsthafte Christenpflicht“ abschrecken, als sei Gebet eine trockene und ernste Pflichterfüllung. Das soll es nicht sein, obwohl beim Gebet schon auch etwas von „Verpflichtung“ mitschwingt, da mit dem Gebet viele Verheißungen verbunden sind Gottes Handeln in für uns schwer begreiflicher Weise an unsere Treue im Gebet gebunden ist. Das Unbehagen, das viele mit dem Begriff „Pflicht“ verbinden, kommt nicht vom Heiligen Geist. Den negativen Beigeschmack erhielt es erst durch die Aufarbeitung der deutschen Geschichte des Dritten Reichs, als „Pflichterfüllung“ oft als Ausrede für Mitläufertum gebraucht wurde. Christus will gewiss keine Mitläufer! Das Unbehagen mit jeglicher „Pflicht“ hat aber auch seinen Ursprung in der uns lebenslang anhaftenden Natur des gefallenen Menschen, der sich aufgrund seiner Sünde vor Gott verstecken will, statt sich Ihm und Seiner Gnade zu offenbaren. Geistliche Pflichterfüllung ist jedoch eine Tugend, die eng mit Wahrhaftigkeit und Treue verbunden ist, nämlich dem Tun dessen, was mit den Lippen zugesagt wurde, damit unser Ja auch ein Ja bleibe.
Vielen, auch lange gläubigen Christen, ist in beschämender Weise bewusst, wie dürftig ihr Gebetsleben ist. Obwohl sie dem Herrn herzlich verbunden sind und die Bibel wirklich gut und gründlich kennen, auch keine Scheu haben, ihren geliebten Herrn Jesus Christus vor den Menschen zu bekennen – wenn es sein soll mit ihrem eigenen Blut. Doch wenn es um das regelmäßige Gebet geht, dann bekennen sie und wir, wie schwer es uns oft fällt. Dieses Buch will uns auf unserem geistlichen Weg an der Hand nehmen und begleiten – es ist wie eine Schule des Gebets gedacht und zusammengestellt.
Die Gebete in diesem Buch kommen aus einer Märtyrerbewegung und einer Zeit, als das Leben allgemein härter und ungewisser war, als wir es heute empfinden. Angesichts der heutigen Christenverfolgung ist es uns ein besonderes Anliegen, einen Blick auf den Herrn im Glauben zu gewinnen, der die Welt, in der wir leben, als das sieht, was sie ist: Ein Tal des Todesschattens. Darin warten geängstigte Seelen auf die Befreiung durch Christus, also auf uns als Seine Botschafter. Aber wir dürfen uns nicht erwarten, in dieser gefallenen Welt Erfüllung, Freude oder Lebenssinn zu finden, sondern vielmehr Kreuz, Verachtung, Verfolgung und Tod. Deshalb soll unsere Beziehung zu dieser Welt eine abgesonderte, eine distanzierte sein.
Wenn wir nun schon unseren Mangel erkennen – erkennst Du ihn auch? – was hindert und entmutigt uns, noch mehr und intensiver im Gebet zu der Quelle lebendigen Wassers zu gehen (Jer 2,13)?
Wir sehen mehrere Hindernisse für das Gebet, die wohl nicht nur auf uns, sondern auf viele zutreffen.
Wir haben einen unsichtbaren Gott
Das verleitete Israel zum Götzendienst und die Katholiken zum Anfertigen von Bildern. Das können wir nicht tun – was aber ist die Lösung dafür? Paulus sagt, wir sollen uns Christus vor Augen halten, aber eben nicht vor die leiblichen Augen, sondern vor die Augen des Herzens (Gal 3,1). Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen (2.Kor 5,7). Halten wir das einmal fest, damit wir nicht durch allzu menschliche Ideen vom lebendigen Gott weggezogen werden.
Denken wir auch daran, wie gut es ist, dass wir den Herrn nicht sehen, denn einerseits ist Er immer größer als wir denken können. Könnten wir Ihn sehen, reduzierte das dann Seine Größe nicht auf das für uns Wahrnehmbare? Seine Selbsterniedrigung in der Knechtsgestalt Jesu ließ Ihn in für viele geradezu anstößiger Weise klein und schwach werden. Das ist der eine Nutzen Seiner Unsichtbarkeit, dass nichts von Seiner Größe geschmälert wird. Der andere Segen, Ihn nicht sehen zu können, besteht darin, dass wir Sein Licht nicht ertragen könnten. Alle Heiligen der Schrift, denen dies „vergönnt“ war, fielen zu Boden wie tot (Offb 1,17). Niemand, der sich seiner Sündhaftigkeit bewusst ist, würde sich anmaßen bei dieser ewigen Glut zu stehen (Jes 33,14) und den HERRN in Seiner Schönheit sehen zu wollen (Jes 33,17): „Wehe mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und wohne unter einem Volk, das unreine Lippen hat; denn meine Augen haben den König, den HERRN der Heerscharen, gesehen!“ (Jes 6,5), erkannte der Prophet Jesaja in solch einer Situation. Und sagte nicht der Herr Jesus zu Thomas: „Glückselig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29)?
Wir haben eine sündhafte Natur in uns
Dass wir eine neue Geburt erlebt haben und der Geist in uns wohnt, wenn wir aufrichtig zum Herrn umgekehrt sind und getauft wurden, ist eine Wahrheit, die weit über der folgenden Tatsache steht: Wir leben immer noch im Fleisch unserer gefallenen Natur mit seinen Begierden, die gegen den Geist Gottes gerichtet sind (Gal 5,17). Dieses Fleisch führt uns immer wieder in die Sünde, dieses Fleisch neigt auch dazu, diese Sünden zu rechtfertigen oder schönzureden. Dieses Fleisch treibt uns weg von Gott, unserem Schöpfer, Erhalter und Erlöser, will sich vor Ihm verstecken wie Adam in Eden. Darum suchen wir nicht die Gemeinschaft mit Gott im Gebet, wenn wir ein fleischliches Leben führen. Wir werden ohne Gebet aber auch kein geistliches Leben führen können – im Gegenteil, es ist eine subtile Verführung des Fleisches „fromm ohne Gebet“ leben zu wollen. Zu einem disziplinierten und regelmäßigen Gebetsleben gehört es also, den Feind in uns zu erkennen und zu überwinden. Hier beginnt der Weg der Selbstverleugnung und des Kreuzes, indem wir das Fleisch mitsamt seinen Begierden als mit Christus gekreuzigt und entmachtet betrachten (Gal 5,24) und die Regungen zur Sünde im Namen des Herrn töten (Kol 3,5).
Wir wissen nicht wie – uns fehlen die Worte
Wenn uns nun diese beiden Hindernisse bewusst sind, kommt hinzu, dass wir Gebet nicht in die Wiege gelegt bekommen; vielfach fehlt es an Vorbildern. Es fühlt sich für uns gefallene Menschen zuerst einmal „unnatürlich“ und „fremd“ an, mit einem Wesen unbeschreiblicher Größe und Majestät zu reden, ohne Es zu sehen. Wenn wir uns also unserer Kleinheit bewusst sind, wie sollen wir den Größten dann gebührend anreden? „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte“, baten die Jünger Jesu deshalb ihren Herrn (Lk 11,1). Er lehrte sie daraufhin das „Vater Unser“.
In der freikirchlichen Tradition ist es eher verpönt, auswendig gelernte Gebete aufzusagen. So kennen und praktizieren viele nur das freie Gebet. Was aber drückt diese Tradition eigentlich aus? „Wir können selbst beten und benötigen keine Anleitung.“ Oder „Gebet, das ist ganz einfach, das kann jeder.“ Oder „Wir reden mit Gott wie mit jedem anderen Menschen.“ Wir wollen die Geschwister in ihrer Naivität nicht verurteilen, aber die meisten haben trotz dieser Überzeugungen dennoch Mühe, ein reiches Gebetsleben zu führen.
Nun war diese Selbstsicherheit gerade nicht die Gesinnung der ersten Christen. Obwohl wir in der Bibel das Vater Unser sonst nicht weiter sehen, war es doch in den apostolischen Gemeinden üblich, das Vater Unser zu beten – und zwar dreimal täglich.2 Natürlich sollen wir nicht dabei stehen bleiben, sondern – ausgehend von der Gebetsunterweisung des Herrn – weiterlernen, unsere Gebetszeiten ausdehnen, einen Blick für die Anliegen des Herrn entwickeln und in der Fürbitte zunehmen.
Unsere wachsende Erkenntnis Gottes wird uns in der Anbetung leiten; wir werden so viele Gründe für Lob, Preis und Dank finden, dass wir die Psalmdichter nicht nur verstehen werden, sondern selbst Psalmen, Lieder oder Gebete niederschreiben (Kol 3,16). So werden wir auch brauchbar zur Erbauung der Gemeinde (1.Kor 14,26), indem wir in der Versammlung der Heiligen die Größe und Herrlichkeit des Lebendigen rühmen. Das ist auch der Nutzen von Gebetbüchern, die von solchen Brüdern und Schwestern verfasst und zusammengestellt wurden, die uns auf diesem Weg einige Schritte voraus sind, deren Glauben und Wandel wir nachahmen können.
Wir bereiten uns zu wenig vor
Wenn wir kommen, um Gnade um Gnade aus Seiner Hand zu empfangen (Joh 1,16), dann treten wir nicht wie in einen Tante Emma Laden und bestellen dort 100g Gnade vom Verkäufer. Wir treten heran zum Thron der Gnade (Heb 4,16), und auf dem Thron sitzt einer (Offb 4,2), zu dem der Sünder kaum den Blick zu erheben wagt (Lk 18,13). Wir nahen auf Seine liebevolle Einladung hin (Eph 2,14-18), doch diese Liebe ändert nichts daran,...