Zwischen den Fronten
Ich bin nicht der andere: Menschliche Beziehungen
MICHAEL ALBUS: Niemandsländer liegen zwischen Fronten, die innerhalb von uns verlaufen, in unserer Seele, in unserem Kopf verlaufen, und Fronten, die außerhalb sind. Ich fange an mit der Frage nach den Beziehungen zwischen Menschen. Das ist ein wichtiges Thema, weil es das Leben der Menschen direkt betrifft.
EUGEN DREWERMANN: Eine Beziehung zwischen Ich und Du kann nur dann gelingen, wenn jeder mit sich einigermaßen identisch ist. Wenn das nicht gegeben ist, hat man die Situation eines Brückenbaus an zwei Uferseiten, die beide nicht wirklich befestigt sind: Es wird eine schwierige Konstruktion. Mit anderen Worten: Beziehungen setzen Identität und Identifikation voraus. Das Schicksal des anderen wird mein eigenes, wenn ich zu ihm eine intensive Beziehung aufbaue. Ich bin aber trotzdem nicht der andere. Beide Bestimmungen erzeugen eine enorme Spannung. Ich identifiziere mich mit der Person, die ich lieb habe, deren Wohl ich befördern möchte, deren Schicksal mich zutiefst betrifft, das ich zu meinem eigenen mache. Ich kann aber nicht aufhören, ich selber zu sein; ich muss also das Eigene so gestalten, dass ich mir zu eigen mache, was im anderen ist. Diese Spannung ist außerordentlich kreativ, sie gerät aber in Krisen hinein, wenn aus der Beziehung eine Flucht in zwei mögliche Richtungen wird: Man kann zum einen aus Unsicherheit in den anderen hineinfliehen, man kann zum anderen aus Unsicherheit in sich selber hineinfliehen, – man pendelt zwischen Ichverlust und Ichbehauptung hin und her.
Flieht man in den anderen, unterwirft man sich ihm, möchte man sein wie er, in Ablehnung dessen, was man selber ist. Dann lässt man sich vom anderen sagen, wer man zu sein hat, und man tut alles, was der andere will. Man bemüht sich, seine Gedanken zu lesen, man versucht, dem Wunschbild zu entsprechen, das man im anderen vermutet oder das von ihm geäußert wird. Wenn man Glück – oder Pech – hat, ist der andere sogar sehr einverstanden mit dieser Rolle seiner Dominanz, seines Herrschaftswissens. Er verspürt vielleicht sogar angesichts der Hilfsbedürftigkeit oder Unselbstständigkeit einen Auftrag zur eigenen Verantwortung, die er entsprechend wahrnimmt: Ich muss der Wissende sein. Ich bin die Autorität. Ich habe geradewegs die Pflicht, den anderen bei der Hand zu nehmen und ihm zu zeigen, wo es lang geht. Dann kann eine solche Beziehung über lange Zeit hin funktionieren, denn beide beziehen aus dem Ungleichgewicht der Beziehung ihren Vorteil, sie stabilisieren beide jeweils ihr Ich. Auch die dominante Persönlichkeit ist ja in dieser Form mit sich nicht identisch. Sie braucht und benötigt den anderen, um zu sich selbst zu finden. – Im Hintergrund spielt natürlich wieder die Geschichte der eigenen Biografie: Welche Rolle hat man in der Familiensituation schon in Kindertagen übernehmen müssen? Welche Beziehungen, die dort einmal geherrscht haben, welche Rollenspiele, welche Zuordnungen wurden verinnerlicht und haben den Charakter geformt, haben Teile der eigenen Persönlichkeit gebildet? Dieses Spiel aus Kindertagen geht dann weiter im Erwachsenenalter. Entsprechend schwer ist es, Beziehungen, die außerordentlich eng sein können, andererseits aber auch Reibungen und wechselseitige Formen von Leid verursachen können, bis hin zum Krankheitswert, bewusst zu machen, nachzuarbeiten, therapeutisch aufzulösen und beide Personen in ihre eigentliche Identität zurückzuführen und damit auch ihre Beziehung zu verbessern. Darf man das machen? In welchem Umfang kann das gelingen? Das ist ein Abenteuer für alle Beteiligten, weil es garantierte Erfolge dabei nicht gibt.
MICHAEL ALBUS: Ist es falsch, wenn ich sage: Ich bin eine Front, und das Du ist eine Front?
EUGEN DREWERMANN: Worüber wir gerade sprechen, ist die Konfliktvermeidung durch Selbstpreisgabe, ist die Frontauflösung auf der einen Seite durch Überlaufen: Man flieht in den anderen hinein, man träumt sich in eine Harmonie, die keinen Konflikt mehr zulässt. Die bloße Möglichkeit, dass durch ein Missverständnis ein Konflikt aufkommen könnte, wird in einer solchen Harmoniebeziehung bereits als Katastrophe empfunden. Das ist, wie wenn man eine Kristallvase funkelnd auf dem Regal stehen hat und schon eine kleine unachtsame Bewegung des Ellenbogens die ganze Schönheit in Sekunden zerschmettern kann. Das ist auch in Beziehungen möglich, die so kostbar sind und so filigran erlebt werden wie eine solche Kristallvase. – Die Flucht kann umgekehrt auch nach innen erfolgen. Etwa so: Jemand fühlt sich augenblicklich bedroht, wenn der andere ihm zu nahe zu kommen scheint. Er möchte sich selber bewahren. Er geht zwar Beziehungen ein, aber nur unter Kontrollbedingungen. Er muss Herr der Lage bleiben. Er darf nicht verführbar werden durch Gefühle, die er nicht beherrschen kann. Auch das kann viele Hintergründe haben. Frauen haben Männer als übergriffig erlebt und gelernt, von weitem schon auf der Flucht zu sein vor zu viel Nähe. Sie haben erlebt, dass sie mit den Gefühlen, die sehr impulsiv sein können, ganze Teile in sich selber abspalten müssen. Und diese innere Zerrissenheit zeigt sich dann nach außen. Man macht sich in gewissem Sinne unberührbar. – So geht zum Beispiel die Geschichte vom Dornröschen: Man steht in dem Ruf, eine schlafende Schönheit zu sein, die geweckt werden möchte, umgibt sich aber mit einer Dornenhecke, die lebensgefährlich wird für jeden, der versucht, sich anzunähern.
MICHAEL ALBUS: Dornenhecke als Front.
EUGEN DREWERMANN: Ja! Im Märchen waren es schon viele Leute, die versucht haben, sich Dornröschen zu nähern. Erst der letzte hat es geschafft nach all den Vorversuchen. Es ist ein Abenteuer, in solche Beziehungen einzudringen, weil im Hintergrund ein Sicherungssystem uralter Ängste steht. Dann bauen sich nicht eigentlich Niemandsländer auf, man verschiebt einfach nur das Terrain. Man nötigt den anderen, zu einem zu kommen. Wenn er das schafft, mag er willkommen sein. Wenn nicht, hat er keine Chance, auch nur als Trauerfall gebucht zu werden.
MICHAEL ALBUS: Steckt in der Ich-Du-Beziehung nicht auch eine Unmöglichkeit: Ich werde mich nie ganz in den anderen versetzen können. Der andere wird sich nie ganz in mich versetzen können. Da gibt es eine Front, die bleibt.
EUGEN DREWERMANN: Es gibt Philosophen, Psychologen, die daraus ein metaphysisches oder erkenntnistheoretisches Problem gemacht haben. Jean-Paul Sartre hat in »Das Sein und das Nichts«, seinem philosophischen Hauptwerk, die Ich-Du-Beziehung als Unmöglichkeit der Harmonie dargestellt, indem er ihr das erkenntnistheoretische Schema der Subjekt-Objekt-Beziehung unterlegt hat. Wenn ein Mensch dem anderen begegnet, entsteht für ihn laut Sartre die Frage, welch ein Bewusstsein das andere Bewusstsein instrumentalisiert für seine eigene Weltauslegung. Wenn ich dem anderen als Objekt begegne, kann ich mich ihm nicht wirklich nähern. Da hat Sartre zweifelsohne recht. Aber was er nicht für möglich hält, ist, dass man den anderen gerade nicht objektiviert, sondern als Subjekt entdeckt, in einer eigenen Würde, mit Respekt vor seiner Eigenart, und voller Neugier gerade sie kennenlernen möchte. Ich und Du setzt voraus, dass zwei Personen miteinander in einen Dialog treten. Es geht gerade nicht ums Objektivieren. Es geht im strengen Sinne nicht einmal um Erkennen als gegenstandsgerichtetes Wissenwollen. Es geht um Verstehen. Das heißt, man nimmt probeweise den Ort ein, an welchem der andere sich befindet, man versetzt sich in ihn hinein, ohne dabei aufzuhören, man selber zu sein. Man kommt dabei nicht umhin, ständig zu vergleichen: Wie ist der andere? Wo unterscheidet er sich von mir? Und das Erstaunliche ist: Die Andersartigkeit des anderen wächst mit der Nähe. Man nimmt sich immer genauer wahr. Und wenn man nun findet, dass das, was der andere ist, dem entspricht, was einem selber fehlt, so dass man es braucht, um ganz zu werden, ist die Liebe vollkommen. Dann bleiben die Unterschiede voll erhalten, sie fordern sich sogar wechselseitig, indem die Ergänzungsbedürftigkeit subjektiv immer eindeutiger wird. Man lebt in der Beziehung den Vorteil, dass der andere gerade die Dinge kann und tut und repräsentiert, die einem selber mangeln. Das ist wunderschön.
MICHAEL ALBUS: Aber in uns ist doch auch eine Sehnsucht nach Verschmelzung. Ich erinnere mich an einen Trickfilm für Kinder, »Vater und Tochter« heißt sein Titel, wo am Anfang ein Mädchen seinen Vater verliert. Der Vater geht ins offene Meer hinein, verschwindet dort. Das Kind lebt sein Leben, man sieht es immer hin und her ziehen, an der Küste entlang fahren. Es wird älter und älter, und am Schluss wird es plötzlich wieder jünger, und, im Trickfilm kann man das sehr schön machen, es stürmt auf den Vater zu, und die beiden verschmelzen miteinander. Ich glaube, dass die Sehnsucht nach Verschmelzung keine Erfüllung finden kann. Das ist genau die Front, die ich oft in Ich-und-Du-Beziehungen erlebe. Ich möchte etwas, was ich nicht erreichen werde: Das Land meiner Sehnsucht. Ich möchte eins werden mit dem anderen. Das ist der alte Mythos, dass der Mensch ergänzungsbedürftig ist. Wie komme ich raus aus dieser Unmöglichkeit? Ich komme nicht raus! Dann geschehen Verletzungen in Beziehungen.
EUGEN DREWERMANN: Wenn man einen Totalanspruch aus einer Sehnsucht macht, wird man wohl meistens scheitern. Wenn man aber akzeptiert, dass man in immer neuen Erfahrungen in die Richtung dessen, was...