2. Beginn
Im Laufe dieser Exerzitien werden verschiedene Wege zum kontemplativen Gebet angeboten. Sie wollen zum schweigenden Gebet, zur Gemeinschaft der Liebe mit Gott jenseits von Worten und Gedanken hinführen. Ich möchte aber nochmals betonen, dass diese Wege nicht als »Techniken« missverstanden werden dürfen. Ein Denken der Art: »Ich muss gleichsam nur den Schalter umlegen und versuchen, an nichts mehr zu denken, dann bete ich kontemplativ«, kann nicht nur zu Frustration führen, wenn es nicht funktioniert, es kann auch ein gefährlicher Irrweg sein, wenn man meint, eine wie auch immer geartete Form selbstgemachter Konzentration sei schon Gebet oder Gemeinschaft mit Gott. Die oberste Regel lautet stets, auch das sei wiederholt: Sich führen lassen vom Heiligen Geist, der unser innerer Lehrmeister des Betens ist. Solange ich also das Bedürfnis habe, mündlich zu beten, und mich daran freue, mich mit Gott als meinem besten Freund zu unterhalten, darf und soll ich das tun. Wenn ich spüre, ich soll über diese oder jene Frage in meinem Leben (im Licht Gottes!) nachdenken oder über eine Wahrheit des Glaubens oder einen Text aus der Heiligen Schrift – dann darf und soll ich das tun. Und wenn ich die Sehnsucht spüre nach einem einfachen schweigenden Verweilen bei Gott, also nach dem kontemplativen Gebet, dann ist es die rechte Zeit, mich vom Geist Gottes in dieses Gebet ziehen zu lassen.
Nun aber zum Gebet selbst. Gebet heißt, mit Gott zu sein – mit dem Gott, der mit uns ist. Jesus ist der »Emmanuel«, der »Gott mit uns« (vgl. Mt 1,23). Er ist immer mit uns. Das Problem ist aber, dass wir nicht immer bei ihm sind. Das Leben des Gebets besteht nun genau darin: »dass wir immer in Gegenwart des dreimal heiligen Gottes und in Gemeinschaft mit ihm sind« (KKK 2565). In den Zeiten, die wir ausschließlich dem Gebet widmen, üben wir uns ein, um dann zu jeder Zeit in Gottes Gegenwart zu leben.
Beten heißt, unser Herz zu Gott erheben, unsere Aufmerksamkeit mit Liebe auf ihn richten5. Nicht angestrengte Konzentration (das ermüdet uns schnell), sondern ein bloßes Aufmerken auf Gottes Gegenwart. Ein einfacher Blick auf ihn. Ein Staunen. So wie wir einen Sonnenuntergang oder das Meer oder eine Berglandschaft anschauen und staunen, uns berühren lassen von dieser Schönheit. Da muss nichts »passieren«, da müssen wir nichts Neues erkennen, da müssen wir nichts Intelligentes sagen. Einfach nur schauen und staunen, sein in seiner Gegenwart und innewerden, dass diese Gegenwart Gottes immer schon Sichschenken und Verströmen seiner Liebe ist. Johannes vom Kreuz nennt das kontemplative Gebet »nur ein Aufmerken auf Gott allein und ein unmittelbares liebendes Innewerden ohne Einzelwahrnehmungen und ohne ein bestimmbares Verstehen«6.
Wie können wir eintreten in ein solches Gebet? Oft genug geht es uns ja so, dass wir den Blick unseres Herzens nicht einfach auf Gott ruhen lassen können, sondern zunächst einmal von der Vielfalt der alltäglichen Dinge umgetrieben werden. Teresa von Avila empfiehlt als Weg zum inneren Gebet, sich zunächst bewusst zu machen, zu wem wir da sprechen, in wessen Gegenwart wir sind: Wer ist Gott? Und wer bin ich, der ich vor ihm bin?7 In der Sprache der Psalmen ausgedrückt: Am Beginn der Gebetszeit müssen wir »das Angesicht Gottes suchen« (Ps 27,8). Was wir unter Menschen erfahren, dürfen wir auf die Gottesbeziehung übertragen: Wer das Gesicht des anderen gefunden hat, in die Augen des anderen blickt, der hat den Kontakt zum Herzen des anderen hergestellt, hat zu persönlicher Gemeinschaft mit ihm gefunden.
Hier wird deutlich: Um wirklich einzutreten in Gottes Gegenwart, braucht es mehr als nur das Nachdenken mit unserem Verstand. Um wirklich zu erkennen, wer Gott ist und wie Gott ist, brauchen wir den Heiligen Geist, der »die Tiefen Gottes ergründet« (1 Kor 2,10). In Ezechiel 39,29 gibt der Herr die Verheißung: »Ich verberge mein Gesicht nicht mehr vor ihnen. Denn ich habe meinen Geist über sie ausgegossen.« Gottes Geist lässt uns Gottes Angesicht finden, seine Gegenwart und seine Liebe erkennen. Um ihn bitten wir am Anfang der Gebetszeit, und Jesus hat uns verheißen, dass dieses Gebet gewiss erhört wird (vgl. Lk 11,13). Wenn ich durch das Wirken des Heiligen Geistes Gottes Angesicht gefunden habe, dann kann ich im Licht seiner Liebe ruhen, in seiner Liebe bleiben, kontemplativ beten.
Eine wichtige Frage für den Beginn der Gebetszeit ist auch: Wo ist Gott gegenwärtig, wo finde ich ihn? Natürlich, wir wissen: »Unser Gott ist im Himmel« (Ps 115,3), das heißt über alles Irdische erhaben und dennoch jederzeit gegenwärtig, so dass wir ihn überall anrufen können. Dennoch gibt es besondere Weisen seiner Gegenwart, die uns auch besondere Zugänge zu ihm eröffnen. In der Schöpfung erkennen wir die Spuren des Schöpfers. Religiöse Bilder, Ikonen und Kreuze sind Zeichen dafür, dass Gott sich offenbart hat und bei uns bleibt. All dies kann uns helfen beim Beten. Unter den vielfältigen Formen der Gegenwart Gottes haben zwei eine besondere Bedeutung für das innere Gebet gewonnen: Seine Gegenwart in mir, dem »Tempel Gottes«, in dem »Gottes Geist wohnt« (vgl. 1 Kor 3,16), und seine leibhafte Gegenwart unter uns in der Eucharistie. Dass Jesus und mit ihm der Vater in uns Wohnung nehmen wollen, lesen wir im Johannesevangelium: »Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen« (Joh 14,23). Ins Gebet eintreten bedeutet dann, unsere »Antennen«, die so oft ganz nach außen gerichtet sind, abziehen von der Beschäftigung des Alltags und auf Gott ausrichten, der in unserem Innern wohnt. So lehrt es auch Augustinus: »Kehrt in euer Herz zurück! Was geht ihr fort von euch? Kehrt zurück von eurem Umherschweifen, das euch in die Irre geführt hat. Kehrt zurück zum Herrn. Er ist bereit … Kehre ins Herz zurück: Siehe dort, was du etwa von Gott begreifen kannst, denn dort ist das Bild Gottes; im Inneren des Menschen wohnt Christus!«8 Teresa von Avila drückt es in ihrer konkret-lebensnahen Art später so aus: »Wenn ich früher gewusst hätte, welcher hohe Gast in mir wohnt, dann hätte ich ihn nicht so oft allein gelassen.«9
Die Gegenwart Christi in der Eucharistie steht nicht im Gegensatz zu seiner Gegenwart in uns. Im Gegenteil, sie hilft uns, ihrer noch mehr gewahr zu werden – führt doch der Empfang der Eucharistie dazu, dass er in unser Inneres kommt und in uns bleibt. Auf die Bitte der Emmausjünger: »Herr, bleibe bei uns«, antwortet der auferstandene Herr mit der Feier der Eucharistie. In der eucharistischen Anbetung schauen wir auf Christus, der, im Sakrament verhüllt, leibhaft gegenwärtig ist. Diese Form des Gebets ist für das kontemplative Gebet deshalb so gut geeignet, da hier nicht ein Bild wie beispielsweise das Kind in der Krippe, der Gekreuzigte oder der Auferstandene gezeigt wird, das zur Betrachtung eines bestimmten Aspektes der Heilsgeschichte einlädt. Vielmehr verweist das weiße Rund der konsekrierten Hostie über jedes einzelne Bild hinaus auf die einfache und zugleich alles menschliche Denken übersteigende Gegenwart Gottes, der sich in Christus offenbart hat. Die Eucharistie enthüllt und verhüllt zugleich. Sie lässt uns »die Liebe Christi verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt« (Eph 3,14). Sie zeigt uns Gottes Gegenwart, so dass wir sie mit menschlichen Augen schauen können, und doch ist das Wesentliche nur für die Augen des Glaubens sichtbar. So hilft uns die Eucharistie, Gott als den wirklich Gegenwärtigen zu erkennen und zugleich die kleinen, vereinzelten Gedanken loszulassen, um frei zu werden für die überwältigend einfache Gegenwart der Liebe Gottes.
Bedenken wir noch den anderen »Pol der Sammlung«, den Teresa von Avila nennt: mich selbst. Bedenken, wer ich selbst bin, der ich vor Gott stehe. In der Stille, in der Gegenwart und im Licht Gottes erkenne ich auch mich selbst. Im Alltag muss ich »funktionieren«, jetzt darf ich einfach da sein, wie ich bin. Jetzt erst wird mir oft bewusst, was alles da ist in mir. Es kommt zu Bewusstsein, was in mir ist an Gefühlen, an Gedanken, an Fragen, an Sehnsucht. All das darf da sein, denn es ist Teil meiner Wahrheit. Das anzunehmen ist befreiend und wohltuend: Ganz so wie ich bin, bin ich von Gott angenommen und geliebt. Allerdings ist gleich hinzuzufügen: Genauso wenig, wie ich einen Teil von mir verdrängen oder wegschieben soll, genauso falsch wäre es, nur bei mir zu bleiben, um mich zu kreisen. Das ist die große Gefahr gerade des schweigenden Gebets: dass es zum Selbstgespräch wird, zum Kreisen um uns selbst, zum Grübeln. Dann bleiben wir allein mit unseren Gedanken. Das aber ist kein Gebet, selbst wenn es von außen so aussehen mag. Wenn ich mir dessen bewusst werde, gilt es, wieder die Du-Beziehung zum gegenwärtigen Gott zu suchen. Nur in der Beziehung zum Du erkenne ich, wer ich wirklich bin. Das gilt schon menschlich – um wieviel mehr dann in der Beziehung zum Du Gottes! Romano Guardini schreibt zu diesem Prozess der »Sammlung« im Gebet: »Ich...