EINLEITUNG
Depression wird immer mehr zu einer Volkskrankheit. Sie ist heute bereits die zweithäufigste Ursache, warum Menschen vom Arbeitsplatz fern bleiben. Man schätzt, dass in Deutschland etwa 4 Millionen an einer behandlungsbedürftigen depressiven Erkrankung leiden und dass bis zu 20% der Menschen in ihrem Leben einmal depressiv werden (Vgl. Hesse 15 f.). Es ist schwer zu sagen, warum Depressionen in unserer Gesellschaft zunehmen. Das hat sicher viele Gründe: Viele fühlen sich in unserer Gesellschaft überfordert, am Arbeitsplatz, in der Familie und Kindererziehung, in der Bewältigung ihres Lebens. In einer Welt, in der alles machbar erscheint, reagiert die Seele mit Depression. Denn sie spürt, dass nicht alles von unserem Wollen abhängt.
Heute spricht man von Depression vor allem im Zusammenhang mit Burn-out. Viele sagen lieber, sie hätten ein Burn-out. Eine solche Diagnose ist in der Gesellschaft anerkannt. Und mit dieser Aussage kann ich bei den Zuhörern entweder Mitleid, Bedauern oder aber Bewunderung erzeugen. Denn Burn-out zeugt davon, dass ich zu viel gearbeitet habe. Man denkt unwillkürlich: da ist ein Mensch, der sich außergewöhnlich für seine Firma einsetzt. Oder aber da ist ein Mensch, der von seiner Firma ausgenutzt wird. Und dann bedauert man ihn, dass er in einer so unmenschlichen Firma arbeiten muss. Für die Psychologie und Psychiatrie ist die Diagnose „Burn-out“ freilich zu unklar. Psychologen und Psychiater sprechen daher lieber von Depression, oder genauer: von Erschöpfungsdepression. Doch die Diagnose „Burn-out“ ist für viele leichter zu vermitteln als die Diagnose Depression, der immer noch ein Makel anhaftet.
Ein wichtiger Grund für das Entstehen von Depressionen ist sicher die Maßlosigkeit, nicht nur die Maßlosigkeit im Konsum, sondern auch in Bezug auf unser Selbstbild. Wir können nicht immer der Beste, der Schönste, der Intelligenteste sein. Wir müssen uns mit unserer Durchschnittlichkeit versöhnen. Die Depression ist oft ein Hilfeschrei der Seele gegen maßlose Bilder, die wir von uns selbst haben, etwa das Bild, dass wir immer perfekt sein müssen, immer erfolgreich, immer cool, dass wir immer alles im Griff haben müssen. Solche Bilder überfordern uns. Die Depression lädt uns ein, unser Maß zu finden, Bilder zu finden, die unserem wahren Selbst entsprechen.
Ein anderer Grund für die Zunahme der Depressionen ist die Pathologisierung menschlichen Leids. Wenn Leid und Traurigkeit nicht mehr zum Leben gehören dürfen, dann reagieren wir mit Depression. So schreibt Ursula Nuber: „Wenn Leid nicht mehr sein darf in einer Gesellschaft, die so sehr ins Gelingen und den Erfolg verliebt ist, dann besteht das hohe Risiko, dass wir bald in einer depressiven Gesellschaft leben werden. Einer Gesellschaft, in der jeder Mensch, wenn er leidet, als depressiv oder ‚psychisch angeknackst‘ bezeichnet wird.“ (Nuber 14) Die heute festzustellenden Fakten wie Leidvermeidung, Zunahme des Ausgebranntseins, Leiden an Vereinsamung und Nicht-mehr-Zurechtkommen mit der maßlosen Freiheit, aber auch mit der Konkurrenz um einen herum führen zu einer depressiven Grundstimmung unserer Gesellschaft. Der Basler Psychiater Paul Kielholz sieht auch im Zerfall der Traditionen eine Ursache, warum die Depressionen zunehmen: „Der Zerfall der Familie ist eine wesentliche Ursache für Depressionen, ebenso wie der Verlust religiöser Bindungen.“ (zit. bei Nuber 20) Für den Schweizer Psychiater und Depressionsforscher Daniel Hell ist es die auch immer größere Mobilität, die den Menschen überfordert und ihn von den Wurzeln seiner Vergangenheit abschneidet. Oft ist die depressive Reaktion dann ein Hilfeschrei der Seele gegen die Entwurzelung und gegen die Überforderung durch die immer schneller um sich greifenden Veränderungen.
Obwohl die Depressionen in unserer Gesellschaft überhandnehmen, ist es vielfach immer noch tabu, offen darüber zu reden. Sie gelten als etwas, das man am besten verschweigt. Sonst läuft man Gefahr, dass die andern über einen reden. Lieber spricht man über sein Magengeschwür oder die ewigen Kopfschmerzen als über die Depressionen, die einen heimsuchen. Ja, selbst über eine Krebserkrankung zu sprechen fällt uns womöglich leichter als über unsere depressiven Verstimmungen, die uns unerwartet überfallen. Ein Manager erzählte mir von seinem Bekannten, der sein Leben bis vor einiger Zeit mit Bravour gemeistert hatte. Bei einer Autofahrt zu einem wichtigen Termin bekam er dann auf einmal einen Schweißausbruch und konnte nicht mehr weiterfahren. Die Diagnose des Arztes, den er daraufhin aufsuchte, lautete „Depression“. Sie traf diesen Manager, ebenso wie seine Freunde, völlig überraschend. Sie waren fassungslos, dass ausgerechnet ein so starker und erfolgreicher Mann just an dieser Erkrankung leiden sollte. Aber eine Depression kann jeden betreffen. Daher ist es wichtig, offen darüber zu sprechen und nach Wegen zu suchen, angemessen mit ihr umzugehen.
Vor einiger Zeit kam mir die Inspiration, ein Buch über den spirituellen Umgang mit Depressionen zu schreiben. Ich hatte auch schon konkrete Ideen, wie ich das Thema anpacken könnte. Die Vielzahl der zum Thema „Depression“ bereits erschienenen Bücher verunsicherte mich freilich auch. Und dennoch wurde mir klar: Der spirituelle Umgang mit Depressionen hat bislang nicht in demselben Maß Beachtung gefunden wie die psychologisch-psychiatrische Seite der Erkrankung. Und so wage ich also, mein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Dabei möchte ich von der Bibel ausgehen, aber auch die Tradition der frühen Mönche berücksichtigen, für die im 4. Jahrhundert das Thema der Traurigkeit und Lustlosigkeit sehr wichtig war. Die Mönche des vierten Jahrhunderts lebten als Einsiedler in der Wüste und haben sehr genau ihre Gedanken und Gefühle beobachtet. Dabei stießen sie schon damals auf depressive Stimmungen, die den Mönch am Leben hindern und ihn vom Gebet abhalten. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Depressionsforscher Daniel Hell ein Buch über die Mönchsväter des 4. Jahrhunderts geschrieben hat: „Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten“ (Herder Spektrum 2013, 4. Auflage). Hell erkennt in ihnen Therapeuten für die Nöte der Menschen und gerade auch für die depressiven Verstimmungen, an denen heute so viele leiden. Die Einsichten und Erfahrungen der frühen Wüstenväter können also auch heute noch fruchtbar sein für die spirituelle Arbeit mit Depressionen.
Das vorliegende Buch soll also das, was über die Depression schon geschrieben wurde, nicht einfach wiederholen. Vielmehr soll das, was man bisher weiß, den Hintergrund bilden, auf dem ich mich bewusst der Bibel und der geistlichen Tradition zuwende. Die Psychologen haben mir mit ihren Möglichkeiten, mit der Depression umzugehen, Anregungen gegeben, in der Bibel und in der geistlichen Tradition nach Wegen zu suchen, wie wir uns ihr auf einer anderen Ebene, nämlich spirituell annähern können. Psychologie und Psychiatrie haben wichtige Erkenntnisse über die Depression gewonnen, die jeder, der mit depressiven Menschen arbeitet, berücksichtigen muss. In der Vergangenheit trennte man sehr klar zwischen sogenannten „endogenen“ Depressionen einerseits und „exogenen“ oder „reaktiven“ Depressionen andererseits. Die endogenen Depressionen, so die Annahme, seien körperlich bedingt, die reaktiven seien eine Antwort auf Verlusterfahrungen, auf Überforderung oder auf Verweigerung wichtiger Lebensschritte. Als typische reaktive Depressionen galten die Erschöpfungsdepression, die Depression nach dem Scheitern einer Ehe, nach dem Tod geliebter Menschen, die Depression der Lebensmitte und die Altersdepression. Heute ist man mit dieser Einteilung nach inneren und äußeren Ursachen der Erkrankung vorsichtiger geworden. Man denkt nicht mehr in den Kategorien des „entweder - oder“. Die Frage, ob eine Depression entweder körperlich oder seelisch bedingt ist, ist in sich schon falsch gestellt. Die Erkrankung hat immer zwei Seiten, die körperliche und die seelische. Daher sprechen wir heute eher von leichter, mittelschwerer und schwerer Depression.
Folgerichtig denkt man auch in der Therapie nicht mehr in Alternativen: entweder Medikamente oder aber Psychotherapie. Therapeuten reagierten in der Vergangenheit auf Antidepressiva eher ablehnend. Psychiater wiederum setzten primär auf medikamentöse Lösungen. Heute arbeiten beide Hand in Hand. Das ist sicher eine gute Entwicklung.
Der Schweizer Journalist Ruedi Josuran, der sich öffentlich zu seinen Depressionen bekannte, schreibt von seiner eigenen Erfahrung mit Medikamenten: „Medikamentöse Hilfe anzunehmen war etwas, was ich lange Zeit ablehnte, da es mein Weltbild durcheinanderbrachte. Mir passte es ganz und gar nicht, dass ein paar Milligramm von einer bestimmten Substanz irgendwelche Ungleichgewichte im Hirn zurechtrücken können. Heute muss ich sagen, dass die Medikamente wirkliche Fortschritte brachten. Sie bedeuten eine gewaltige Erleichterung für sehr viele Menschen und deren Angehörige und für mich einen ganz entscheidenden Durchbruch. Ich bin froh, dass ich, egal wie es weitergeht, jederzeit auf Medikamente zurückgreifen kann, und zwar im Wissen, dass sie mich stabilisieren und aus den Löchern holen.“ (Josuran 70 f.) Josuran kennt den Einwand, dass man mit Medikamenten die wirklichen Probleme verdecke und den Kranken hindere, daran zu arbeiten. Darauf antwortet er: „Das können allerdings nur Menschen so unbedarft hinausposaunen, die selbst nie von Depression heimgesucht wurden. Wenn ich sehe, wie jemand am Ertrinken ist, würde ich ihm sofort einen Rettungsring zuwerfen und nicht zuerst analysieren, warum er ins Wasser fiel.“ (Ebd 72)
Sicher braucht...