Alltägliche Formen der Vermeidung – oder: Sieben Strategien der Konfliktverdrängung
Idealisierung von Harmonie und Geschlossenheit
Nicht nur im kleinen Bereich, etwa in der Familie oder der Partnerschaft, werden Konflikte oft lieber vermieden als offen angesprochen. Die Gründe der Konfliktvermeidung sind verschieden. So führt eine Idealisierung von Harmonie und Geschlossenheit sehr häufig dazu, dass man Konflikte nicht wahrnimmt oder sie verdrängt. Wenn wir hohe Ideale von unserer Gemeinschaft haben, dann stellen die Konflikte unsere Ideale in Frage. Oft erleben wir sie als etwas, das nicht sein dürfte. Wir appellieren an den guten Willen, nach dem Motto: Wenn wir einander lieben würden, dann hätten wir keine Konflikte. Doch solche moralisierenden Appelle helfen im Konflikt nicht weiter. Wir sollen vielmehr mit verschiedenen Interessen und mit Spannungen, die sich aus einem unterschiedlichen Blick ergeben, rechnen und uns nicht hinter unseren Idealen verstecken und die Schuld anderen in die Schuhe schieben. Es geht darum, die Konflikte einfach anzuschauen und darin immer auch eine Chance zu sehen, gemeinsam zu wachsen, gemeinsam nach neuen Lösungen Ausschau zu halten oder etwas zu klären, was in der Gruppe unter der Oberfläche brodelte, aber lange Zeit verdrängt wurde. Wenn ein Konflikt auftaucht, dann können die sich unter der Oberfläche regenden Strebungen nicht mehr übersehen werden. Wir müssen uns der Wahrheit stellen. Das macht demütig. Doch häufig verleugnet man gerade auch in religiösen Kreisen die Konflikte. Die am folgenden Beispiel sichtbaren Mechanismen sind durchaus auch auf andere Kreise übertragbar: Ein Mitarbeiter fühlt sich ungerecht behandelt. Die anderen werden bevorzugt. Er geht zum Vorsteher der Gemeinde und spricht seine Unzufriedenheit mit dieser Ungleichbehandlung offen an. Doch der Vorsteher leugnet den Konflikt mit der Behauptung, das sei nur Einbildung, denn er behandle doch alle gleich. Doch solche Leugnung verstärkt den Konflikt mit dem Mitarbeiter noch mehr. »Der Mitarbeiter ist unzufrieden; er ist nicht nur seinem Vorgesetzten gegenüber in der schwächeren Position, er war ihm vielleicht auch rhetorisch unterlegen und konnte nicht richtig erklären, was er meinte. Zu seinem ungelösten Problem kommt der Ärger hinzu, im Gespräch ›verloren‹ zu haben. Für diesen Mitarbeiter geht der Konflikt weiter« (Kellner 12).
Was für größere Gruppen gilt, gilt oft auch im Kleinen, in der Familie oder in Partnerbeziehungen. Da herrscht oft die Angst, was die anderen sagen könnten, wenn man in der Familie miteinander streitet. Oder die Ehepartner haben Angst, dass die Kinder an ihrem Konflikt leiden könnten. Doch die Kinder spüren auch den nicht ausgetragenen und ungelösten Konflikt. Andere haben Angst, dass der Konflikt sie auseinandertreibt. Lieber leben sie unter dem Schein der Harmonie, als sich den tieferen Konflikten zu stellen. Und manche haben Angst, sich der eigenen Wahrheit zu stellen, vor sich selbst einzugestehen, dass die Ehe nicht so ideal ist. Man braucht vor dem eigenen Gewissen das Bild der idealen Ehe, um daran festzuhalten. Wenn man sich die Konflikte eingestehen würde, hätte man Angst, dass dieses hochgehaltene Ideal wie ein Kartenhaus zusammenfällt.
Eine Vermeidung von Konflikten um des angeblich höheren Wertes der Geschlossenheit willen geschieht vor allem in geschlossenen Gemeinschaften und in Gemeinschaften, die von hohen Idealen geprägt sind. Konflikte widersprechen dem Ideal, das eine Gemeinschaft nach außen hin gibt. So tun sich vor allem kirchliche Gemeinschaften schwer, die Konflikte offen anzugehen. Ein Beispiel: Da ist etwa die Bischofskonferenz, die bemüht ist, nach außen hin immer den Eindruck der Einheit der Kirche zu vermitteln. Sie möchte mit einer Stimme sprechen. Aber jeder, der etwas Einblick hat in die Mentalität der einzelnen Bischöfe, weiß, wie unterschiedlich die Meinungen auch da sind und welch harte Auseinandersetzungen da oft unter der Oberfläche und hinter den Kulissen ausgefochten werden. Aber man löst den Konflikt oft nicht wirklich. Nach der Konferenz fühlt man sich verpflichtet, mit einer Stimme zu sprechen. Man muss nach außen hin den Eindruck erwecken, als ob alle einmütig im Geiste Jesu das Gleiche denken würden. Doch das wirkt letztlich unglaubwürdig. Ehrlicher wäre es, die Konflikte offen auszutragen und nicht so zu tun, als ob sie am Ende der Konferenz schon alle gelöst wären. Der inzwischen emeritierte Bischof Franz Kamphaus hatte den Mut, sich in der Frage der Schwangerschaftsberatung der Anweisung Roms zu widersetzen, weil er sie nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte. Letztlich musste er sich dann doch dem Diktat aus Rom beugen. Aber er hat damit klargemacht, dass er nicht einverstanden war. Auch als er nachgab, hat er seine gegenteilige Meinung zur Frage der Schwangerenberatung nicht aufgegeben. Seine Glaubwürdigkeit ist durch den ausgetragenen Konflikt nicht geringer geworden.
Leugnen oder Ausweichen
Konflikte zu leugnen ist eine nicht seltene Methode, ihrer Bearbeitung auszuweichen. Manchmal leugnen beteiligte Personen einfach, dass überhaupt ein Konflikt besteht. Da kommt etwa eine Frau unter hohem Leidensdruck in die Eheberatung, weil sie mit den Konflikten in der Ehe nicht mehr klarkommt. Doch der Ehemann leugnet jeden Konflikt. Es gehe doch alles gut. Die Kinder machen keine großen Schwierigkeiten, das Einkommen ist gesichert, er ist im Beruf erfolgreich, kurz: Er sieht überhaupt keine Probleme. Aber gerade darin liegt ja der Konflikt, dass der Partner jeden Konflikt leugnet und gar nicht merkt, wie es seiner Frau in der Ehe geht.
Die Strategie solcher Konfliktverdrängung beobachten wir nicht nur in familiären Zusammenhängen, sondern genauso auch in Firmen. Da traut man sich oft nicht, die Konflikte wirklich anzusprechen und anzugehen, aus Angst, sonst könnte ein Vulkan hochgehen. Das Ansprechen des Konflikts könnte alles nur noch schlimmer werden lassen. Unter der Hand spricht man von den Meinungsverschiedenheiten zwischen den Geschäftsführern, zwischen den Mitgliedern des Vorstands. Aber man löst den Konflikt nicht. Die ganze Firma leidet dann unter dem ungelösten Konflikt, der die Tendenz entwickelt, die Firma zu spalten. Manchmal kommt es dann schließlich zur Eskalation des Konflikts, der nicht gelöst worden ist. Ungelöste Konflikte drohen dann ein ganzes Unternehmen zugrunde zu richten.
Kirchliche Organisationen sind der Versuchung von Konfliktvermeidungsstrategien und und ihren problematischen Konsequenzen nicht weniger ausgesetzt als »weltliche« Akteure. Viele Ordensgemeinschaften etwa haben keine geeignete Strategie entwickelt, wie sie mit Konflikten in der Gemeinschaft umgehen. Manche gehen den Weg des geringsten Widerstandes: Jeder kann machen, was er will. Andere versuchen, die Konflikte durch autoritäre Anordnungen zu lösen. Doch unter der Oberfläche schwären die Konflikte oft weiter. Manch eine Gemeinschaft ist schon an einem nicht gelösten Konflikt zerbrochen. Man fand keine gemeinsame Sprache mehr, um die Differenzen anzusprechen. So flüchtete sich jeder in seine eigene Deutung des Ordenslebens. Einzelne wichen den Konflikten aus und engagierten sich für ihr je eigenes Projekt, das ihnen wichtiger war als die Gemeinschaft. Dass Gemeinschaften und Gruppen bei einem solchen Verhalten erodieren können, zeigt die Geschichte.
Aussitzen oder unter den Teppich kehren
Die Art und Weise, wie Konflikte vermieden werden, ist in allen Bereichen ähnlich. Eine weitere typische Strategie besteht darin, die Konflikte zuzudecken. Man meint, es werde irgendwann schon genügend Gras über die Sache wachsen, wenn man nur lange genug schweigend darüber hinweggeht. Es werde sich dann alles von alleine lösen. Zu diesem Zudecken gehört die Mentalität des Aussitzens. Diese Konfliktvermeidungsstrategie hat man ja Helmut Kohl vorgeworfen. Er hat manche Konflikte einfach ausgesessen, bis sie für die Presse und für seine Mitarbeiter nicht mehr interessant waren. Nicht immer ging diese Strategie auf: Am Ende seiner Kanzlerschaft sind viele dieser Konflikte, die »ausgesessen« worden waren, neu aufgebrochen.
Eine andere Strategie heißt: unter den Teppich kehren. Das meint: Man nimmt den Dreck durchaus wahr. Man weiß, da ist viel Unrat. Aber man schafft ihn nicht nach draußen und entsorgt ihn in der Mülltonne. Vielmehr kehrt man ihn unter den Teppich, um ihn unsichtbar zu machen. Aber er bleibt im Haus. Und irgendwann macht sich der Dreck bemerkbar. Ungeziefer sammelt sich in dem unter den Teppich gekehrten Dreck. Und auf einmal wird die ganze Atmosphäre im Haus von den ungelösten Konflikten negativ beeinflusst. Um im Bild zu bleiben: Es kommt zu Atembeschwerden, Stauballergien oder ähnlichen Abwehrreaktionen gegen die unter den Teppich gekehrten Konflikte. Man hat dann mehr mit den Symptomen zu kämpfen als mit dem zugrunde liegenden Konflikt. Die ganze Energie verwendet man auf die Symptome, anstatt den Konflikt zu lösen. Oft wird dann mehr Energie benötigt, diese negativen Folgen zu bewältigen, als wenn man sich dem Konflikt gleich und direkt gestellt hätte.
Die »Schwamm drüber«-Mentalität
Eine andere Strategie könnte man als die Mentalität des »Schwamm drüber« beschreiben. Die Interessengegensätze werden nicht geklärt. Man glaubt, man könne die Dinge unaufgearbeitet sein lassen und einfach wegwischen. Man macht eine oberflächliche Bemerkung, dass doch alles nicht so schlimm sei. Oder wenn der Konflikt angesprochen wird, gibt es die schnelle Reaktion: »Also vertragen wir uns wieder. Betrachten wir alles als gelöst.« Doch es ist nichts wirklich gelöst. Man möchte die Konflikte als Störpotentiale...