Einleitung
Dem Thema »Achtsamkeit« kommt inzwischen in der Psychotherapie eine große Aufmerksamkeit zu. In Fachkreisen wird gar von einer »Achtsamkeitswelle« gesprochen. Insbesondere hat der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn mit seinem Stressbewältigungsprogramm MBSR (Mindfulness based stress reduction) international viel Beachtung gefunden. Dieses Programm umfasst verschiedene Übungselemente, wie achtsame Körperwahrnehmung, Yoga, Sitz- und Gehmeditation. Bei all diesen Übungen steht immer das wertungsfreie Wahrnehmen dessen, was sich gerade zeigt, im Vordergrund. Mittlerweile gibt es wissenschaftlich überprüfbare Nachweise, dass die Praxis der Achtsamkeit nicht nur vorbeugend, sondern auch bei zahlreichen Erkrankungen, wie z. B. Angststörungen, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, stressbedingten Beschwerden, Krebserkrankungen, Hauterkrankungen heilend wirkt und zur Verbesserung des seelischen und körperlichen Allgemeinbefindens sowie zur Verbesserung der Lebensqualität beiträgt.
Das Thema »Achtsamkeit« darf jedoch nicht auf eine Technik reduziert werden, mit der man eben lernen kann, sich zu entspannen, um mit Alltagsbelastungen besser umzugehen.
Achtsamkeit gilt in allen großen Weltreligionen als eine der Kerntugenden. Mit einer Tugend ist mehr eine innere Haltung, eine Lebenseinstellung, als eine bloße Methode gemeint.
Eine achtsame Lebenshaltung hilft uns, im gegenwärtigen Moment wirklich präsent zu sein, mit uns selbst gut verbunden zu sein und wertschätzend mit uns selbst, anderen Menschen und dem Geschenk des Lebens umzugehen. Achtsamkeit ist wie ein Schlüssel zu einem bewussten, freudvollen Dasein. Diesen Schlüssel haben wir selbst in der Hand. In uns allen ist die Befähigung zur Achtsamkeit angelegt.
Achtsamkeit im ganzheitlichen Sinne meint aber nicht nur bloße Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bedeutet, mit unseren fünf Sinnen Duft, Klang, Geschmack, Form und Farbe wahrzunehmen. Wenn wir aufmerksam sind, bemerken wir, was im Außen um uns herum geschieht. Dies ist die Voraussetzung, dass wir uns einer Erfahrung bewusst werden können. Ganzheitliche Achtsamkeit heißt aber, nicht nur im Außen etwas wahrzunehmen, sondern auch nach innen zu gehen. Nach innen gehen meint, gut mit mir selbst verbunden zu sein. Mich erinnern, was mir guttut, was mir hilft, was ich gerade benötige. Mitzubekommen, was eine äußere Situation in mir auslöst. Mitzubekommen, wie es mir in dem jeweiligen Moment ergeht und wie ich damit umgehen möchte. Aus der Wahr-nehmung eine »Wahrgebung« zu machen: Was nehme ich wahr? Was kann es bedeuten? Wie will ich darauf antworten?
Achtsamkeit bedeutet, sich seiner selbst bewusst zu sein und ermöglicht somit eine gesunde Form von Selbstbewusstsein. Achtsamkeit ist als eine Geistes- und Bewusstseinsschulung zu verstehen, die hilft, das Leben selbstbewusster, d. h. mit mehr Bewusstsein über sich selbst zu gestalten. Wer zu sehr im Außen orientiert ist und zu wenig im Kontakt mit seinem Selbst, seinen eigenen Bedürfnissen und Gefühlen ist, kann dadurch in Konflikte geraten und krank werden.
In meiner Arbeit mit Patientinnen und Patienten der Adula Klinik, einer psychosomatischen Fachklinik in Oberstdorf, begegne ich immer wieder Menschen, die von sich sagen, dass sie es an Achtsamkeit haben mangeln lassen und dadurch in schwere Krisen oder Krankheiten geraten sind.
Da ist stellvertretend für viele andere der Manager Anfang 50, der über die Entstehung seines Burnouts sagt: »Ich bin jahrelang auf meinem Körper herumgetrampelt. Ich habe mich und meine Bedürfnisse gar nicht mehr gespürt, habe mein Beziehungsleben vernachlässigt und meinen Sinn im Leben verloren.«
Mangelnde Achtsamkeit für eigene Bedürfnisse und eigene Grenzen ist der zentrale Punkt in der Entstehung eines Burnouts. Der Begriff »Burnout«, »Ausgebrannt sein«, lässt an ein ausgebranntes Feuer denken und stellt damit ein archaisches Bild zur Verfügung, um die tiefgreifende, seelische und körperliche Erschöpfung, die damit gemeint ist, zu verdeutlichen.
Feuer gehört wie Wasser, Luft und Erde zu den Grundelementen des Lebens. Feuer unterscheidet sich jedoch von den anderen Elementen in einem ganz wesentlichen Punkt:
Blicken wir in die Natur, so finden wir die Elemente Wasser, Luft und Erde im Übermaß. Nicht so das Feuer: Um Feuer entstehen zu lassen, braucht es unser aktives Zutun. Um ein Feuer am Leben zu erhalten, bedarf es unserer Achtsamkeit, damit der Prozess des Brennens nicht zu einem Ausbrennen führt.
Jeden Tag müssen wir neu für Bedingungen sorgen, unter denen ein Feuer gedeihen kann. Wir müssen uns um Nahrung für das Feuer kümmern und darauf achten, dass die beteiligten Faktoren, z. B. ausreichende Luftzufuhr, Schutz vor Nässe, günstig sind. Achtsamkeit ist unabdingbar für die Pflege des Feuers, damit es uns mit seiner Wärme und seinem Licht dienen kann.
Es ist das Zusammenspiel mehrerer Faktoren, die richtige Balance, das Maß zwischen einem Zuviel oder Zuwenig der einzelnen Elemente, um das Feuer zu erhalten. Achtsamkeit in diesem Zusammenhang, meint ein Bewusstsein um die Bedeutung und Wirkweise von zu Feuer haben, aber auch eine Achtung (Achtsamkeit und Achtung kommen aus dem gleichen Wortstamm) für die Wichtigkeit eines jeden Teilbereichs. Eine Geringachtung bzw. Missachtung eines Aspektes (z. B. zu wenig Luftzufuhr, zu geringe Trockenheit) würde zu einem unökonomischen Verbrennen führen und dem Ausbrennen Vorschub leisten.
Nehmen wir dieses Bild der äußeren Natur als Bild für unsere eigene Situation, so ist ersichtlich: Es braucht uns, unser Bewusstsein und unsere Achtsamkeit, um unser inneres Lebensfeuer, unsere Lebendigkeit zu erhalten. Achtsamkeit für das, was unser inneres Feuer am Leben erhält, um nicht ausgebrannt, verbrannt zurückzubleiben.
So, wie sich alles Sein aus vier Elementen zusammensetzt, so hängt das Gelingen unseres Lebens von dem Zusammenwirken der vier Aspekte unseres Menschseins, unserer bio-psycho-sozio-spirituellen Ganzheit, ab.
Jeder Aspekt unseres Menschseins, die biologische (körperliche), die psychologische (das Denken und Fühlen betreffende), die soziologische (das Eingebunden sein in Beziehungen), aber auch die spirituelle Dimension (mit unseren Fragen nach dem Woher und Wozu unseres Lebens) braucht Achtung und Würdigung, um ein Ausbrennen zu vermeiden.
Damit wir in Zeiten widriger, stressvoller Lebensumstände unsere Gesundheit erhalten können, bedarf es der Achtsamkeit für alle diese vier Lebensaspekte. Achten wir auf diese wesentlichen Ebenen unseres Menschseins, so ermöglicht dies, dass unser Lebensfeuer und unsere Lebendigkeit auf eine gute Weise erhalten bleiben. Vernachlässigen wir eine oder mehrere dieser vier Dimensionen, so kann es dazu führen, dass uns die Kräfte ausgehen, wir ausbrennen.
Wenn es in unserem Leben zu einer Erschöpfung, einem Ausgebranntsein kommt, gilt es achtsam zu werden für das, was zu kurz gekommen ist oder das, was überhand genommen hat. So gesehen zielt die Frage des Arztes nach dem »Was fehlt dir?« auf das Zukurzgekommene oder die Frage »Was hast du?« nach dem, was zu viel geworden ist. Es geht also darum, das rechte Maß, das innere Gleichgewicht und die Balance wieder zu finden.
Es gibt jedoch nicht das richtige Maß, einen für alle verbindlichen Maßstab. Wir Menschen fragen oftmals nach einer allgemein gültigen, von außen festgelegten Norm: Wie »man« leben sollte, was »man« tun sollte. Wir neigen dazu im »man« zu denken und im »man« zu reden. So haben viele Menschen, wenn sie in unsere Klinik kommen, große Mühe, von sich selbst zu erzählen, ohne das Wörtchen »man« zu gebrauchen.
Vielmehr ist es uns als Hüter unseres Lebensfeuers aufgegeben, achtsam und bewusst wahrzunehmen, was denn jeweils in diesem Moment das für mich stimmige Maß ist. Ich möchte Sie darum bitten, dass Sie sich beim Lesen dieses Buches (wie auch generell im Leben), immer wieder selbst fragen: »Was fühlt sich für mich ganz persönlich stimmig an?«, »Womit fühle ich mich wohl?«
Dafür kann es hilfreich sein, ein gutes »Maß« an Selbsterkenntnis zu haben. Lernen Sie sich selbst besser kennen, indem Sie sich immer wieder wesentliche Fragen stellen: Wer bin ich? Wer oder was ist mir wichtig? Was sind meine Werte und Ziele? Was sind meine Bedürfnisse? Was ist meine Sehnsucht? Was tut mir gut? Was bereitet mir gerade Probleme?
Das griechische Wort »problema« heißt das Hingeworfene, das Vorgelegte, das, was zur Lösung vorgelegt wurde. In der griechischen Antike benannte es ursprünglich die Dinge, die auf dem Weg zum Markt aus dem Karren der Händler gefallen waren, unterwegs also verloren gegangen waren. Das Problem will uns also aufmerksam machen für das, was uns fehlt: Was ist mir denn auf meinem Lebensweg aus meinem Lebenskarren gefallen? Welches Lebensmittel, das ich brauche, um in meinem Leben wieder in meine Mitte zu gelangen, habe ich aus den Augen verloren? Was ist auf der Strecke geblieben?
Manch einer mag in so einer Situation schmerzlich feststellen, dass er für lange Zeit die eigene Lebendigkeit außer Acht gelassen hat, dass er seinen Körper, seine Bedürfnisse oder seine Gefühle nicht mehr wahrgenommen hat, dass er womöglich zum Gefangenen fremder Ansprüche oder eigener festgefahrener Vorstellungen geworden ist.
Probleme, Erschöpfung, Krankheiten und Lebenskrisen wollen uns zurückrufen zu unserer eigentlichen Aufgabe: achtsam und ehrfürchtig mit uns und dem uns geschenkten Leben umzugehen. Da, wo es kalt und dunkel in unserem Leben geworden ist, erinnern wir uns wieder, wie notwendig wir das Feuer...