Ein lebenslanger Übungsweg
Was haben die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg und Spiritualität gemeinsam?
Unter beidem verstehen wir einen lebenslangen Übungsweg. Es ist ein Weg des Wachsens und Reifens, des Scheiterns und Verzeihens.
Die Einfühlsame oder Gewaltfreie Kommunikation zeigt für den Konfliktfall in der Mediation, Supervision oder Beratung, wie für das alltägliche Miteinander eine einfühlsame Haltung und Kommunikationswege auf, damit wir besser mit dem in Verbindung kommen, was uns in einer konkreten Situation wirklich bewegt. Üben wir uns in der Gewaltfreien Kommunikation, so werden wir uns selbst bewusster. Wir können uns besser in den anderen einfühlen, in das, was ihn dazu bewegt, so und nicht anders zu handeln.
Spirituelle Übungswege, wie beispielsweise die Kontemplation oder Zen, schenken unserem alltäglichen Leben Sinn und Tiefe. Eine spirituelle Übungspraxis bezeichnet für uns einen lebenslangen Weg der Wandlung, der Ver-Antwortung auf Gottes Ruf: »Wo bist du, Adam?« Für uns lautet der Ruf im erweiterten Sinne: »Wo bist du, wer bist du und wie bist du, Mensch?« In der alltäglichen Verantwortung werden wir uns dabei unseres Selbst bewusster.
Üben wir uns in der Einfühlsamen Kommunikation, so arbeiten wir an unserem alltäglichen Selbst, unserem Ich-Bewusstsein, geprägt durch Erziehung, Erfahrungen, Anlagen, getrieben durch Ängste, Freuden und im Laufe der Jahre typisch gewordenen Handlungs- und Interpretationsmustern.
»Immer verkriechst du dich im Büro, wenn wir mal Besuch haben.«
Sie zeigt den Weg, sich mit den Gefühlen und Bedürfnissen des Sprechers oder der Sprecherin zu verbinden und mit denen des »Partners«, der »seine eigene Welt« aufsucht.
Sprecher:
»Wenn ich sehe, dass du nach Hause kommst, unseren Besuch begrüßt und dann für die nächste Stunde in dein Büro gehst, bin ich wütend, verwirrt und traurig, weil mir Gemeinschaft wichtig ist, Höflichkeit, und ich gern verstehen möchte, warum du so handelst. Kannst du mir das bitte erklären.«
Empfänger:
»Wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, Besuch auf der Terrasse sehe, fühle ich mich erschöpft. Ich brauche dann erst mal meine Ruhe, um zu mir zu kommen, meine Sachen zu klären, Abstand zu nehmen von dem, was tagsüber war. Das bitte ich dich zu respektieren.
Auf dem Weg der Gewaltfreien Kommunikation wandeln wir Vorwürfe in eine bedürfnisorientierte Sprache, die ein gegenseitiges Verstehen erleichtert.
Praktizieren wir intensiv einen spirituellen Übungsweg, dann werden wir im Schweigen und in der Stille mit unseren alltäglichen Ängsten und Sorgen konfrontiert. Darüber hinaus treiben uns essentielle Fragen und Zweifel: Wer bin ich, unabhängig von Geburt, Haarfarbe, Charakter oder Geldstatus? Was ist der Sinn deines und meines Lebens? Was ist wesentlich? Zur Pflege des Ich-Bewusstseins gesellt sich bei einem spirituellen Übungsweg noch die Frage nach dem wahren Sein, ob ich das jetzt »Wahres Selbst«, »Buddhanatur« oder den »göttlichen Funken« in uns nenne. Wir reden vom »größeren oder wahren Selbst«, weil dieser Begriff jene Qualität unseres Seins bezeichnen will, der der Urgrund allen Lebens ist, anders gesagt, wo wir alle miteinander verbunden sind.
Ein Meister fragte einst einen Zen-Schüler: »Was machst du da?« »Ich poliere den Ziegelstein, damit ein Diamant daraus wird«, erklärte der Mönch. »Ein sinnloses Unterfangen«, meinte der Meister und ging.
Die Gewaltfreie oder Einfühlsame Kommunikation mit ihrer wertschätzenden Haltung ist das Handwerkszeug, mit dem wir im Alltag »den Stein polieren«, indem wir beispielsweise Vorwürfe in Einladungen verwandeln. Wir üben uns darin, Interpretationen von Beobachtungen zu unterscheiden sowie unsere Bedürfnisse authentisch zu äußern ohne den anderen dafür verantwortlich zu machen. Diese Haltung: immer wieder das Lebensbejahende in einzelnen Handlungen und Äußerungen zu erkennen und anzusprechen, ist wie der Putzlappen des Zen-Schülers, der mit Feuereifer und großem Glauben den Diamanten in jedem noch so verdreckten Ziegelstein zum Strahlen bringen möchte. Spirituelle Übungen, wie das Sitzen in der Stille oder Achtsamkeitsübungen im Alltag: Bügeln, Waschen, Kochen unterstützen dieses kommunikative Handwerkszeug.
Weshalb aber lobt der Zen-Meister seinen eifrigen Schüler nicht? Er gibt doch sein Bestes! Er bemüht sich redlich, hat großes Vertrauen in Unmögliches. Diese Leistung sollte doch gewürdigt und gefördert werden. »Ein sinnloses Unterfangen!«
Eine befreiende Geste. Er wischt mit einem Handstreich all unser Bemühen, ein perfekter Mensch sein zu wollen, erleuchtet und erfüllt vom göttlichen Funken, vom Tisch. Sinnlos! Wir können weder durch meditative Anstrengung noch durch Verinnerlichung der einfühlsamsten und gewaltlosesten Kommunikationsmethode der Welt dieses »Gott-in-uns-und-wir-in-Gott« erschaffen. Wir können und brauchen keine Buddhanatur zu erzeugen, geschweige denn uns in eine zu verwandeln. Ein sinnloses Unterfangen. Wir sind immer schon Buddhanatur. Wir sind immer schon unser »wahres Selbst«. Das Wesentliche, was unser Menschsein ausmacht, welche Begriffe und Metaphern wir auch dafür gebrauchen, lässt sich nicht durch Leistung erzwingen oder verdienen.
Unser Mensch sein mit all seinen Brüchen, Schatten- und Lichtseiten ist immer Geschenk. Unser Leben, so unvollkommen es auch sein mag, so erschreckend oder glückend, ist immer ein Mysterium. Ein Mysterium, das Gnade ist und Liebe.
Am nächsten Morgen sieht der Zen-Meister, wie der Ziegelstein samt Lappen achtlos in einer Ecke liegen. Als er dem Schüler begegnet, fragt ihn der Meister: »Warum putzt du nicht mehr?« »Es ist doch sinnlos!«, meinte der Mönch. »Du Esel, gerade deswegen darfst du es tun!«, antwortete der Meister.
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