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E-Book

Reifes Leben

Eine spirituelle Reise

AutorRichard Rohr
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451808906
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Richard Rohrs Buch über die spirituelle Dimension des Älter- und Reiferwerdens: Was ist von Bedeutung auf der Lebensreise? Während Menschen in der ersten Hälfte in Beruf und Partnerschaft an der »Form' ihres Lebens arbeiten, rückt in der zweiten Lebenshälfte dessen »Inhalt' in den Mittelpunkt. Darüber entscheiden nicht zuerst Altersstufen, sondern vor allem Erfahrungen des Loslassens und wie wir damit umgehen - auf dem Weg zu unserem »wahren Selbst'.

Richard Rohr, geb. 1943, Franziskanerpater, Gründer des »Zentrums für Aktion und Kontemplation' in New Mexico/USA, gehört zu den international bekannten und gefragten Vertretern einer zeitgenössischen christlichen Spiritualität. Seine Bücher sind weltweite Erfolge und wurden oft zu Inspirationen für gegenwärtige spirituelle Suchbewegungen.

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Leseprobe

Erstes Kapitel


Die beiden Hälften des Lebens

Wir können den Nachmittag des Lebens nicht nach den Regeln des Lebensmorgens leben; denn was groß war am Morgen, wird am Abend klein sein, und was am Morgen Wahrheit war, ist am Abend zur Lüge geworden.

C. G. Jung: Über die Dynamik des Unbewussten

Wie ich bereits in der Einleitung gesagt habe, ist es die Aufgabe der ersten Lebenshälfte, ein solides Gefäß für unser Leben zu entwickeln und die ersten wichtigen Fragen zu beantworten: «Was gibt mir Bedeutung?» – «Wie kann ich für mich selbst sorgen?» und «Wer wird mich begleiten?» Die Aufgabe der zweiten Lebenshälfte besteht ganz einfach darin, den eigentlichen Inhalt zu finden, den dieses Gefäß in sich aufnehmen und transportieren soll. Wie Mary Oliver es ausdrückt: «Sag mir, was willst du tun mit deinem einzigen, wilden und kostbaren Leben?» Mit anderen Worten: Das Gefäß ist kein Ziel an sich, sondern existiert um Ihres tiefen und erfülltesten Lebens willen, von dem Sie zum größten Teil selbst nichts wissen. Viel zu viele Menschen beschäftigen sich ausschließlich mit Reparaturarbeiten am Gefäß, anstatt «die Netze auszuwerfen» (Johannes 21,6), um den großen Fang einzuholen, der auf sie wartet.

Das Problem besteht darin, dass die erste Aufgabe so viel Schweiß und Tränen, so viele Eizellen und Samen, Tränen und Jahre von uns fordert, dass wir uns oft gar nicht vorstellen können, dass da noch eine zweite Aufgabe auf uns wartet oder dass noch etwas anderes von uns erwartet wird. «Die alten Weinschläuche sind gut genug», behaupten wir, obwohl sie, wie Jesus sagt, den neuen Wein oft gar nicht halten können. Und dann gehen sowohl der Wein als auch der Weinschlauch «zugrunde» (Lukas 5,37), wenn wir uns nicht ein paar neue Schläuche beschaffen. Die zweite Hälfte des Lebens kann zwar ein gewisses Maß an neuem Wein fassen, denn inzwischen sollten einige stabile Weinschläuche – oder bewährte Methoden – vorhanden sein, um unser Leben zusammenzuhalten. Doch das bedeutet normalerweise, dass das Gefäß selbst sich dehnen, seine gegenwärtige Form aufgeben oder sogar durch etwas Besseres ersetzt werden muss. Genau das ist der wunde Punkt, doch gleichzeitig auch die Quelle dessen, was die sogenannte Lebensmitte aufregend macht und uns zu neuer Erkenntnis verhilft.

In den verschiedenen Traditionen gibt es eine Vielzahl an Metaphern, um den Unterschied zu verdeutlichen: Anfänger und Fortgeschrittene, Novizen und Eingeweihte, Milch und Fleisch, Buchstabe und Geist, Junioren und Senioren, Getaufte und Gefirmte, Lehrling und Meister, Morgen und Abend. «Als du jung warst, Petrus … Wenn du aber alt geworden bist, Petrus» (Johannes 21,18). Nur wenn Sie den Übergang von der ersten zur zweiten Hälfte vollzogen haben, können Sie den Unterschied zwischen den beiden erkennen. Doch bauen die beiden Hälften aufeinander auf, und beide sind absolut notwendig. Sie können keinen Direktflug in die zweite Lebenshälfte nehmen, indem Sie viele Bücher, einschließlich diesem hier, darüber lesen. Es ist die Gnade, die Sie voranbringen muss und wird. «Gott hat keine Enkel. Gott hat nur Kinder», wie manche zu sagen pflegen. Jede Generation muss den Geist für sich selbst entdecken. Wenn wir das nicht tun, reagieren wir lediglich auf die vorherige Generation, und oftmals ist unsere Reaktion eine Überreaktion. Oder wir passen uns an, was oft genug zu einer Überanpassung führt. Keine der beiden Möglichkeiten ist ein positiver oder kreativer Weg, um vorwärtszukommen.

Kein Papst, kein Bibelzitat, keine psychologische Technik, keine religiöse Formel, kein Buch oder Guru kann die Reise für Sie unternehmen. Wenn Sie versuchen, die erste Reise zu überspringen, werden Sie nie erkennen, wie wichtig sie ist, noch werden Sie ihre Grenzen sehen; Sie werden nie verstehen, warum dieses erste Gefäß Sie im Stich lassen muss, Sie werden weder die Fülle der zweiten Reise kennenlernen noch die Beziehung zwischen den beiden verstehen. Das ist die Irrealität, in der viele Menschen leben, die «nie erwachsen werden» oder bis ins hohe Alter narzisstisch bleiben. Ich fürchte, dass es davon heute nicht gerade wenige gibt.

«Junioren», die sich auf der ersten Hälfte der Reise befinden, denken ausnahmslos, dass wirklich alte Menschen naiv, einfältig, «völlig draußen» oder einfach nur überflüssig seien. Sie können nicht verstehen, was sie selbst noch nicht erlebt haben. Sie sind vollkommen in ihre erste Aufgabe verstrickt und nicht in der Lage, über sie hinauszublicken. Umgekehrt wird aber ein Mensch, der die erste Stufe hinter sich gelassen und integriert hat, den Junioren immer verständnisvoll, geduldig und hilfsbereit entgegentreten, und das auf einigermaßen natürliche Weise (wenn auch nicht ganz ohne Anstrengung). Genau das macht einen Menschen zu einem Ältesten. Höhere Ebenen schließen die niedrigeren Ebenen immer ausdrücklich mit ein; wenn sie das nicht tun, sind sie nicht höher.

Sowohl die kulturelle als auch die religiöse Geschichte haben sich fast ausschließlich der Entwicklung und Erhaltung von Belangen der ersten Lebenshälfte gewidmet, nämlich den drei vorherrschenden Belangen der Identität: der Sicherheit, der Sexualität und der Geschlechterdifferenz. Sie nehmen uns nicht nur in Beschlag, nein, sie übernehmen vollständig die Kontrolle. Ich fürchte, dass es in der Geschichte der Menschheit bisher nur darum ging. Tatsächlich haben die meisten Generationen das Errichten von Grenzlinien und deren Verteidigung als ihre wichtigste und zuweilen auch einzige Aufgabe im Leben betrachtet. Im Laufe der Geschichte ging es zumeist darum, Sicherheitsstrukturen und passende Loyalitätssymbole zu erschaffen, um die eigene Identität, seine Gruppe und seine geschlechtsspezifischen Belange und Identitäten durchzusetzen und zu verteidigen. Doch scheinen wir heute in einer Zeit zu leben, in der immer mehr Menschen die Frage stellen: «Ist das schon alles?»

In unseren prägenden Jahren sind wir so mit uns selbst beschäftigt, dass wir gleichzeitig übermäßig defensiv wie auch übermäßig offensiv sind und nur wenig Zeit übrig haben, um einfach zu leben und Momente reiner Freundschaft, zweckfreier Schönheit oder tiefer Verbundenheit mit der Natur zu genießen. Dennoch braucht jeder junge Mensch diese Egostruktur, um durch die ersten zwanzig Jahre zu kommen, und jeder Volksstamm braucht sie, um zu überleben. Vielleicht war es genau das, was die Menschheit brauchte, um sich überhaupt in Bewegung zu setzen. «Gute Zäune machen gute Nachbarn», sagte Robert Frost, doch er ging auch davon aus, dass man nicht einfach nur Zäune errichtet. Irgendwann muss man sie überschreiten, um den Nachbarn zu treffen.

Grenzen, Identität, Sicherheit und ein gewisses Maß an Ordnung und Beständigkeit sind also wichtig, damit wir uns persönlich und kulturell weiterentwickeln können. Zudem müssen wir uns als etwas «Besonderes» fühlen; wir alle brauchen unsere Dosis «Narzissmus». Damit meine ich, dass wir in jungen Jahren alle ein gewisses Maß an Erfolg, Bestätigung und positivem Feedback benötigen, ansonsten werden wir den Rest unseres Lebens damit verbringen, dies von anderen einzufordern oder den Mangel zu bejammern. Es gibt einen guten und notwendigen «Narzissmus», wenn man es denn so nennen will. Man muss zuerst eine Egostruktur aufbauen, bevor man diese loslassen und hinter sich lassen kann. Jesus hält beide Seiten der Gleichung aufrecht, wenn er als Reaktion auf den radikalen Ansatz Johannes des Täufers sagt: «Unter den von einer Frau Geborenen hat es keinen Größeren gegeben als Johannes den Täufer. Aber der Kleinste im Himmelreich ist größer als er» (Matthäus 11,11). Spricht er hier mit gespaltener Zunge? Nein, er spricht mit der Erfahrung der zweiten Lebenshälfte.

Grundsätzlich gilt: Wenn Sie in der ersten Lebenshälfte gut gespiegelt wurden, müssen Sie den Rest Ihres Lebens nicht damit verbringen, in den Spiegel des Narziss zu blicken oder um die Aufmerksamkeit anderer zu betteln. Sie wurden bereits mit Aufmerksamkeit beschenkt, und nun fühlen Sie sich einfach gut – und das wird auch immer so bleiben. Ich kann gut verstehen, warum manche Heilige sagen, Gebet bedeute, den ewig gütigen Blick Gottes zu empfangen und ihn freundlich zu erwidern, um schließlich zu erkennen, dass es sich um ein und denselben Blick handelt, der empfangen und zurückgeworfen wird. Die Hindus nennen dieses aufregende gegenseitige Betrachten Darshan. Wir werden gegen Ende des Buches noch näher auf dieses Spiegeln eingehen.

Sobald Sie Ihre Dosis an Narzissmus erhalten haben, ist es nicht mehr nötig, dass Sie Ihre Identität schützen, verteidigen, beweisen oder absichern. Sie ist einfach, wie sie ist, und das ist mehr als genug. Genau das meinen wir, wenn wir von «Erlösung» sprechen, insbesondere, wenn wir unsere Dosis Narzissmus von ganz oben erhalten. Wenn Sie wissen, wer Sie wirklich sind, brauchen Sie nicht mehr zu fragen, was Sie tun sollen: Diese Frage löst sich dann ganz von selbst. Die Tatsache, dass so viele religiöse Menschen ihre Erlösungstheorien so vehement verteidigen und beweisen müssen, lässt mich ernsthaft daran zweifeln, ob sie überhaupt je eine tiefergehende Erfahrung des göttliches Spiegelns gemacht haben.

In der ersten Lebenshälfte geht es hauptsächlich um Erfolg, Sicherheit und Abgrenzung – man will vor sich und anderen «gut dastehen». Das entspricht den ersten Stufen der Maslow’schen «Bedürfnispyramide».7 In einer Kultur wie der unseren, die sich immer noch vornehmlich um ihre Sicherheit sorgt, wird der enorme Militäretat kaum...

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