Einleitung
Wagners musisches Theorie-Theater
Wagners Musik ist besser, als sie klingt – so lautet ein viel zitiertes, Mark Twain zugeschriebenes Bonmot. 1 Es ist weniger kalauerhaft, als es seinerseits klingt. Denn der ebenso kluge wie nüchterne Mark Twain ahnt immerhin, dass Wagners romantische Opern und Musikdramen sich trotz all ihrer überwältigenden Suggestivität, gegen die sich viele aufgeklärte Köpfe geradezu instinktiv verwehren, nicht beim ersten Hören erschließen, weil sie auf buchstäblich unerhörte Einsichten verweisen. Wagners Werke sind starke Attacken auf die mentale, kognitive und intellektuelle Integrität ihrer Hörer. Doch sie sind keineswegs antiintellektuell; so viel Lust an theoretischen, theologischen, kulturanalytischen, ökonomischen, psychologischen und philosophischen Einsichten, wie sie in Wagners Werken zum Ausdruck kommt, ist in der Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte (mit der halben Ausnahme der Zauberflöte 2 und mit der Viertelausnahme der Libretti, die Hugo von Hofmannsthal für Richard Strauss schrieb) bis heute einzigartig. Wagner wird, wie schon Nietzsche feststellte, von seiner Theorie- und Philosophielust, wenn nicht Theoriesucht umgetrieben; unablässig und eindringlich will er etwas zeigen, beweisen, demonstrieren, vor Augen und Ohren führen.
Nun gilt die Oper nicht gerade als die intellektuellste unter den Kunstgattungen. Wer tiefsinnige Kunstwerke verfassen will, die theoretisch und philosophisch belastbar sind, schreibt in der Regel wie Wieland, Dostojewski, Musil, Proust, Joyce und Oswald Wiener einen umfangreichen Roman oder wie Pindar, Hölderlin, Yeats, Mallarmé, Rilke oder Celan hermetische Lyrik – nicht aber eine Oper. Denn diese Gattung gilt über lange Epochen hinweg als intellektuell nicht satisfaktionsfähig. Das Prestige der Oper in der frühen Goethezeit und lange darüber hinaus ist denkbar schlecht. Daran lässt die zwischen 1771 und 1774 erschienene Allgemeine Theorie der Schönen Künste von Johann George (sic) Sulzer keinen Zweifel. Ihr denkender Verfasser ist ersichtlich kein Opernfreund. Heißt es doch im einschlägigen Artikel: »Oper; Opera. Bey dem außerordentlichen Schauspiehl, dem die Italiäner den Namen Opera gegeben haben, herrscht eine so seltsame Vermischung des Großen und Kleinen, des Schönen und Abgeschmakten, daß ich verlegen bin, wie und was ich davon schreiben soll. In den besten Opern siehet und höret man Dinge, die so läppisch und so abgeschmakt sind, daß man denken sollte, sie seyen nur da um Kinder, oder einen kindisch gesinnten Pöbel in Erstaunen zu sezen (…) In dem man von dem Unsinn, der sich so oft in der Oper zeiget, beleidiget wird, kann man sich nicht entschließen, darüber nachzudenken.« 3 Sulzer kann sich seiner massiven Bedenken zum Trotz denn doch entschließen, über die Oper nachzudenken, hat sie doch das Potential zum anspruchsvollen Gesamtkunstwerk – ein Begriff, den erst Wagner prägen und erfolgreich in Umlauf bringen sollte, der aber seine Vorgeschichte hat. So heißt es vergleichsweise versöhnlich bei Sulzer, dem Opern-Verächter: »Die Oper kann das Größte und Wichtigste aller dramatischen Schauspiehle seyn, weil darin alle schönen Künste ihre Kräfte vereinigen: aber eben dieses Schauspiehl beweißt den Leichtsinn der Neuern, die in demselben alle diese Künste zugleich erniedriget und verächtlich gemacht haben.« 4 Wagner wird mit seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks versuchen, den Leichtsinn seiner Zunftgenossen in schwer überbietbaren Tiefsinn zu konvertieren.
Mit seiner Verwerfung der Oper steht Sulzer auf der Theoriebühne nicht einsam und verlassen da. Er hätte sich bei seinem vernichtenden Urteil auch auf Voltaires 1759 erschienenen philosophischen Roman Candide berufen können, in dem Prococurante, der soeben seine Hofkapelle moderate Kammermusik aufspielen ließ, ausführt: »Die Oper würde mir vielleicht besser gefallen, hätte man nicht die Kunst entdeckt, ein Ungeheuer daraus zu machen, das mich wahrhaft anwidert. Gehe hin wer da will, um jene jämmerlichen in Musik gesetzten Tragödien anzusehen, wo keine Scene einen andern Zweck hat, als mir nichts, dir nichts, der Gesang mag nun dahin passen, wie die Faust aufs Auge, zwei oder drei abgeschmackte Arien anzubringen, wodurch die Actrice ihre Kehle geltend machen kann. Falle vor Entzücken in Ohnmacht, wer da will oder kann, wenn er einen Kastraten die Rolle eines Cäsar oder Cato herkrähen hört und ihn mit linkischer Haltung auf den Brettern einherstolziren sieht. Ich meinerseits habe längst auf diese Armseligkeiten verzichtet, die heutzutage den Stolz Italiens ausmachen und die mehr als ein Fürst so theuer bezahlt.« 5 Auch ein denkbar dezidierter Antipode zum aufgeklärten Spötter Voltaire wie Leo Tolstoi denkt über die Oper nicht viel anders. In Krieg und Frieden, einem Roman, dessen Handlung bekanntlich in die Jahre kurz vor Wagners Geburt fällt, die ja vom Kanonendonner der Völkerschlacht bei Leipzig begleitet wurde, finden sich Passagen, die aus der Verachtung des tiefsinnigen Autors für die oberflächliche Frivolität der Oper kein Hehl machen. »Im zweiten Akt stellten die Pappwände Grabmäler vor, und es war ein Loch in der Leinwand, das den Mond vorstellte, und das Licht der Lampen an der Rampe war durch hochgeschobene Schirme gedämpft, und die Trompeten und Kontrabässe spielten in tiefen Tönen, und von rechts und von links kamen viele Leute in schwarzen Mänteln. Diese Leute schwenkten die Arme hin und her und hatten eine Art von Dolchen in den Händen; dann kamen noch einige Leute herbeigelaufen und schickten sich an, jenes Mädchen wegzuschleppen, das vorher ein weißes Kleid angehabt hatte und jetzt ein himmelblaues trug. Sie schleppten sie aber nicht sofort weg, sondern sangen lange mit ihr, und dann schleppten sie sie wirklich weg, und hinter den Kulissen wurde dreimal auf etwas Metallisches geschlagen, und alle fielen auf die Knie und sangen ein Gebet. Mehrmals wurden alle diese Handlungen von begeisterten Beifallsrufen der Zuschauer unterbrochen.« 6
Doch nicht nur spöttische oder gedankenschwere Romane wie die von Voltaire und Tolstoi, auch die Ästhetiken von Kant, Schelling oder Hegel lassen kein großes Vertrauen in das theoretisch-philosophische Potential der Oper erkennen. So hegt Kant im § 52 seiner Kritik der Urteilskraft, der den schönen Titel Von der Verbindung der schönen Künste in einem und demselben Produkte trägt, Zweifel daran, ob die Kombination vieler Künste in einem (Gesamt-)Kunstwerk dieses schöner mache: »Die Beredsamkeit kann mit einer malerischen Darstellung ihrer Subjekte sowohl, als Gegenstände, in einem Schauspiele; die Poesie mit Musik, im Gesange; dieser aber zugleich mit malerischer (theatralischer) Darstellung, in einer Oper; das Spiel der Empfindungen in einer Musik mit dem Spiele der Gestalten, im Tanz u. s. w. verbunden werden. Auch kann die Darstellung des Erhabenen, sofern sie zur schönen Kunst gehört, in einem gereimten Trauerspiele, einem Lehrgedichte, einem Oratorium sich mit der Schönheit vereinigen; und in diesen Verbindungen ist die schöne Kunst noch künstlicher: ob aber auch schöner (da sich so mannigfaltige verschiedene Arten des Wohlgefallens einander durchkreuzen), kann in einigen dieser Fälle bezweifelt werden.«
Eine halbe Ausnahme in der langen Reihe der denkenden Opern-Verächter macht Schopenhauer mit seinem 1819 erschienenen Werk Die Welt als Wille und Vorstellung, das Wagner wohl nicht zuletzt aus diesem Grund in seinen Bann schlug. Wagner leuchtete, wie er in seinem Beethoven-Essay darlegt, unmittelbar ein, »was Schopenhauer vom Musiker überhaupt sagt: dieser spreche die höchste Weisheit aus in einer Sprache, die seine Vernunft nicht verstehe.« 9, 837 Der Ehrgeiz von Wagner ist unverkennbar. Er will als »denkender Künstler« und als Schöpfer von Gesamtkunstwerken dafür sorgen, dass die Sprache der Musik, die höher ist denn alle Vernunft, für die Theorie-Vernunft erschließbar wird. Schopenhauers Argumentation ist übersichtlich. Musik, wenn sie denn nicht Vokalmusik ist, hat keine spezifischen Themen. Sie drückt, so Schopenhauers Worte, nicht »dieses oder jenes« Besondere (dieses Ereignis, jenes Erlebnis, diese These, jenes Argument), sondern in seltsam ergreifender Verdichtung das Verallgemeinerbare, also die Freude, die Trauer, die Gemütsruhe etc. schlechthin aus. Musik und die Instrumentalmusik zumal unterhält ein intimes Verhältnis zum Willen, zum »inneren Wesen«, zum »Ansich«, nicht zu den Erscheinungen. Wenn sie denn Vokalmusik, gar Opernmusik wird, muss die Willenswelt der asemantischen Klänge und Töne die Erscheinungswelt der Worte dominieren – so lautet Schopenhauers philosophische Begründung des alten Satzes »prima la musica, poi le parole« (zuerst die Musik und dann die Sprache), der in Antonio Salieris gleichnamiger einaktiger Oper, die am 7. Februar 1786 in der Orangerie von Schloss Schönbrunn uraufgeführt wurde, programmatisch erklang. Für Schopenhauer steht fest, dass die Musik »nie die Erscheinung, sondern allein das innere Wesen, das Ansich aller Erscheinung, den Willen selbst, ausspricht. Sie drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübniß, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübniß,...