1. Selbstschutz – wie Menschen alltäglich mit ihrer Verwundbarkeit umgehen
Menschen sind fragile Wesen. Sie sind verwundbar. Sie haben einen Körper und eine Seele, die auf vielfache Weise Schaden erleiden können. Da Wunden aber Schmerzen hervorrufen und das Leben behindern oder gar zerstören, wollen die Menschen sie vermeiden. Sie schützen sich vor Verwundung. Das ist ganz alltäglich der Fall. Menschen bauen Häuser aus Stein, um vor Wind und Wetter, Tier und Mensch geschützt zu sein. Sie legen Vorräte an, um sich für Zeiten des Hungers, der Krankheit oder Gebrechlichkeit zu wappnen. Sie verbünden sich miteinander und bilden Gemeinschaften, um einem Angriff von außen besser standzuhalten.
Nicht erst die tatsächlich erlittene Wunde, sondern schon die potentielle Gefahr, verwundet zu werden, übt eine unerhörte Macht aus. Menschen, Gruppen und Staaten befürchten, verwundet zu werden. Und sie tun vieles, um dies zu verhindern. Hierzu setzen sie einen großen Teil der eigenen Lebensressourcen ein. Und manchmal greifen sie sogar gewaltsam auf die Lebensressourcen Anderer zu, um sich selbst zu schützen. Die Weihnachtsgeschichten erzählen von drei Gruppen, die dies tun: die wohlhabenden Leute in der Herberge, die Schriftgelehrten und Hohenpriester sowie der machtvolle König in Jerusalem. Diese drei Gruppen zeigen besonders deutlich, dass die Weihnachtsgeschichten keine Idylle vor Augen führen, sondern von harten Konflikten erzählen. Denn die Gruppen, die nicht zur Hingabe bereit sind, entwickeln ihre je eigenen Strategien, um sich vor Verwundungen zu schützen und das eigene Wohlergehen zu sichern. Die Leute in der Herberge halten sich die Verletzlichkeit des Neugeborenen erfolgreich vom Hals. Die Schriftgelehrten und Hohenpriester kooperieren mit einer diktatorischen Staatsmacht, um selbst ungeschoren davonzukommen. Und der König Herodes ist sogar bereit, Andere zu töten, um sich selbst zu schützen und ja nichts zu riskieren.
Biblische Geschichten zur Geburt Jesu
Zwei Evangelien erzählen Geschichten über die Geburt Jesu. Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,5–2,52) legt neben Johannes dem Täufer besonderen Wert auf die Aktivitäten von Frauen wie Maria, Elisabet und der Prophetin Hannah. Lukas erzählt mit inspirierenden Bildern von dieser besonderen Geburt an der Krippe (2,1–21). Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1,18,–2,23) ist stärker daran interessiert, wie Männer handeln, und erzählt ausführlich von König Herodes und seinen Häschern, von Josef und den Sterndeutern.
Wegschauen. Die Menschen in der Herberge von Betlehem
Die wohl beliebteste Weihnachtsgeschichte stammt aus dem Lukas-Evangelium. Walter Jens meint sogar, dass es »der bekannteste Text der Weltliteratur« (Jens 2007, 12) sei. Dieser beginnt mit den Worten: »In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.« (Lk 2,1) Das mag zunächst harmlos klingen. Aber der zweite Blick lässt Schlimmes ahnen: Steuerlisten. Auch nach Jahrhunderten schwant da nichts Gutes. Eine Staatsmacht greift zu und stellt Forderungen. Sie hat die Macht, die finanziellen Ressourcen der Bürgerinnen und Bürger anzutasten. Sie kann Steuern einnehmen, eintreiben oder gar abpressen. Steuern sind eine heikle Angelegenheit. Denn oft sind sie ungerecht, sie machen die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer.
Der Machtzugriff des Kaisers bringt die Menschen seines Reiches zwangsläufig in Bewegung. Die Familien müssen in den Geburtsort der Männer gehen, um sich registrieren zu lassen. »So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.« (Lk 2,4 f) Eine hochschwangere Frau ist mit ihrem Verlobten unterwegs an Orten, wo sie nicht auf das Entgegenkommen von Verwandten, Freundinnen und Freunden vertrauen kann – wie es ihr wohl ergeht in dieser Fremde? »Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.« (Lk 2,6 f)
Mit nur wenigen Worten wird hier eine Personengruppe benannt, die in den heutigen Weihnachtserzählungen und Krippenspielen gern ausgemalt wird: die Menschen in der Herberge. Sie sind beliebte Figuren, denn sie rühren an ein Grundbedürfnis des Menschen. Es geht darum, ein Dach über dem Kopf zu haben und durch Wände vor unliebsamen Übergriffen bewahrt zu werden. Obdach zu genießen und in einer Wohnung zu leben gehört heute zu den allgemeinen Menschenrechten (Art. 25/1). Wer draußen leben muss, ist ungeschützt, die Verwundbarkeit erhöht sich schlagartig. Für Menschen, die in der Fremde unterwegs sind, ist Obdach nichts Selbstverständliches. Wer nicht genug Geld hat oder gar auf der Flucht ist, wird nur schwer eine angemessene Unterkunft erhalten. Da man selbst keinen Wohnraum zur Verfügung hat, ist man auf die Gastfreundschaft Anderer angewiesen, selbst wenn man dafür bezahlen kann.
Die Chancen auf eine gute Unterkunft werden geringer, je schwieriger die eigenen Lebensumstände sind. Dass die junge Familie keinen Platz in der Herberge findet, ist daher kein Zufall. Die Herbergen mögen mancherorts voll sein, weil so viele Menschen wegen der Volkszählung unterwegs sind. Aber das ist nicht alles. Immerhin geht es hier um eine hochschwangere Frau, die bald gebären wird. Jede Geburt aber ist eine Herausforderung – nicht nur für die Eltern, sondern für alle, die es mit ihr zu tun bekommen.1 Sie erfordert Positionierungen in die eine oder andere Richtung. Eine Geburt macht Arbeit und verbraucht Lebensressourcen. Sie erzeugt Lärm, sie stiftet Unruhe und ist für alle Beteiligten eine riskante Sache.2
Wenn die Gebärende unbekannt ist, weiß man zudem nicht, ob sie Krankheiten oder Ungeziefer oder sonstigen Ärger aller Art mit ins Haus bringt. Geschwächt und angestrengt sieht sie jedenfalls aus. Daher ist es schon leichter zu sagen, dass leider kein Platz mehr in der Herberge sei. Stünde der König des Landes vor der Tür, so würde er selbstverständlich großzügig Raum erhalten. Aber die Schwangere, die kurz vor der Niederkunft steht, erhält keinen Einlass. Hier zeigt sich ein Verhalten, das Menschen in Armut häufig widerfährt: Die Frau, die wegen ihrer Schwangerschaft am meisten Schutz bedarf, wird aus den Schutzräumen der Gesellschaft ausgeschlossen. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Weil sie ein Risiko verkörpert, wird die Tür vor ihr verschlossen. Die Menschen in der Herberge zeigen keine Bereitschaft, ihre Lebensressourcen zu teilen. Sie befürchten, dass die Schwangere sie in Schwierigkeiten bringt und zu viel kostet.
Das Verhalten der Herbergsleute ist nur zu gut verständlich. Denn es entsteht aus dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen. Die Herbergsleute – Besitzer und Bewohner – greifen zwar Andere nicht an, fügen Anderen keine Wunden zu und verhalten sich nicht aggressiv. Sie tun aber nur wenig oder gar nichts, um drohende Verwundungen zu verhindern. Um es deutlich zu sagen: Das Verhalten der Menschen in der Herberge ist der alltägliche Normalfall. Das hat damit zu tun, dass jeder Mensch Ressourcen für sich selbst und für die eigene Gemeinschaft braucht. Man muss sich davor schützen, dass Andere auf die eigenen Ressourcen zugreifen – falls man überhaupt die Macht dazu hat. Selbstschutz ist eine unverzichtbare Lebensstrategie.
Wir wissen nichts über die Lebensgeschichten und die momentane Situation der Herbergsleute und warum sie ihre Ressourcen für sich behalten. Es mag Bösartigkeit sein, dass man nicht teilen will, sondern alles für sich hortet. Oder man schätzt aus Nachlässigkeit oder Unkenntnis die Situation falsch ein. Man hat selbst Kinder zuhause, die versorgt werden wollen, oder Alte, Bedienstete, Pflegebedürftige. Vielleicht will man auch deswegen lieber gar nicht so genau hinschauen. Das Wegschauen ist in der Strategie der Herbergsleute ein entscheidender Punkt. Weil man sich vor dem Verlust eigener Ressourcen schützen will, schaut man nicht so genau hin, wenn sich bei Anderen Verwundbarkeit zeigt. Wenn man genauer hinschauen würde, dann würde man sich vielleicht anrühren lassen von dem, was sich zeigt. Wer wegschaut, bleibt unberührt von der Not Anderer. Wer hinschaut und sich öffnet, macht sich selbst verletzlich.
Aber auch mit dem Wegschauen kann man sich schuldig machen. »Guilty bystander« (schuldig daneben Stehende) hat der Mystiker Thomas Merton jene Menschen genannt, die schuldig werden, indem sie neben einer Not oder einem Verbrechen stehen und nichts dagegen unternehmen. Sie befürworten die Verwundung nicht, halten sich aber die Gefährdung der Anderen dennoch konsequent vom Hals. Im 20. Jh. hat der Nationalsozialismus auf diese Strategie des Wegschauens gebaut und konnte sich gut auf sie verlassen. Die Menschen waren nicht einmal »Zuschauer«, denn sie haben ja gerade weggeschaut. Thomas Merton zeigt dabei jedoch nicht einfach mit dem Finger auf Andere, sondern er meint durchaus sich selbst. Man kann sich nicht allen Verwundungen der Welt aussetzen, nicht einmal all den Verwundungen, mit denen man direkt in Berührung kommt. Strukturell sind viele Menschen »guilty bystander«, die schuldig werden, weil sie wegschauen.
Dies ist jedoch keine Entschuldigung für jedes Wegschauen und Nichtstun. Die Herbergsleute verweisen vielmehr auf eine entscheidende Doppelfrage. Wo ist es notwendig, sich selbst...