1. Forschungsfragen zur Weimarer Republik
Es gibt eine Reihe von Sturmjahren in der neueren deutschen Geschichte, in denen Entscheidungen von großer Tragweite fielen. 1848/49 unterlagen die Kräfte, die liberale und demokratische Prinzipien auf ihre Fahnen geschrieben hatten, den Verfechtern der überkommenen monarchisch-autoritären Staatsordnung. Als diese sich am Ende des Ersten Weltkriegs das Scheitern ihrer innenpolitischen Restriktionen und außenpolitischen Ambitionen eingestehen mussten, schien sich für Deutschland die Chance einer Abkehr vom bisherigen Obrigkeitsstaat zu eröffnen. 1918/19 wurde der Weg eines demokratischen Neubeginns angetreten. Es war nicht nur ein mühsamer, auch ein kurzer Weg, der in die Nacht des deutschen Schicksals in der NS-Zeit einmündete. In den Jahren 1930–1932 wurden die Anfänge der Weimarer Republik nur mehr als politisches Phantasma erinnert; Demokratie erschien als ein von der Wirklichkeit des politischen Lebens und der Härte der politischen Kämpfe eingeholtes und entlarvtes Trugbild. Wenn nach den Scheidewegen in der deutschen Geschichte gefragt wird, dann liegen in der späten Weimarer Republik jene Wendepunkte, die im 20. Jahrhundert das deutsche Volk für die Welt zu einem Schrecken verbreitenden Volk werden ließen.
Die zeithistorische Forschung hat nach dem Zweiten Weltkrieg von ihren Anfängen an besonderes Gewicht auf das Ende der Weimarer Republik gelegt und die Jahre des Demokratieverschleißes als einen Schwellenzeitraum thematisiert. Ein gut gefüllter Speicher an geordnetem historischen Wissen steht heute zur Verfügung. Dennoch bleiben Weimars letzte Jahre eine »Determinante der Forschung«. In seiner gelungenen Bilanz der Weimarer Problemlagen und ihrer Aufarbeitung durch die Forschung hat Andreas Wirsching betont: »Das Scheitern der Weimarer Republik, die singuläre Konvergenz von Wirtschaftsund Staatskrise zwischen 1930 und 1933 bleibt eine dauerhafte Herausforderung der Geschichtswissenschaft. In ihrer paradigmatischen Dramatik und ihren katastrophalen Folgen ist das Ende der ersten deutschen Demokratie stets eine Determinante der historischen Forschung gewesen, und sie wird es auf unabsehbare Zeit bleiben.«[1]
Der Stachel historischen Fragens bezieht sich auf die Brücken, die ins »Dritte Reich« führten. Wie konnte eine Bewegung, die Gewalt predigte, und vor Gewalt nicht zurückschreckte, innerhalb eines kurzen Zeitraums den Durchbruch zur Macht schaffen, – was verlieh ihr in den Augen der deutschen Bevölkerung das Imprimatur der Machtausübung? Der »Tiefenakzeptanz der NS-Diktatur« (Andreas Wirsching) geht die wachsende Akzeptanz der NS-Partei im Wettstreit der politischen Kräfte Anfang der dreißiger Jahre voraus. Auch Hans-Ulrich Wehlers »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« der Jahre 1914 bis 1949 hält Fassungslosigkeit über die »bestürzende Erfolgsserie von 1930 bis Ende 1932« fest.[2] Worauf beruhte sie? Mit welchen Instrumenten und mit welchen Parolen gelang dem Nationalsozialismus eine Massenmobilisierung, die in der Geschichte Weimars einzigartig ist? Wehler verweist auf Führerkult und Hitlers charismatische Wirkung, auf das Versprechen einer Rückkehr zu nationaler Größe, auf den lautstarken Kampf gegen die Versailler Ordnung, auf die Zugkraft der »Volksgemeinschaft«-Vokabel; alle diese Faktoren hätten dem »Erfolgsgeheimnis der Hitler-Bewegung« zugrunde gelegen. »Daß sie aber solche welthistorischen Folgen zeitigen konnten, unterstreicht noch einmal, wie unabdingbar der Radikalnationalismus und die Erwartung eines politischen Messias den gesellschaftlichen Resonanzboden für die Formierung von Hitlers charismatischer Herrschaft bildeten.«[3]
Mit »politischem Messias« und »Radikalnationalismus« werden historischen Erklärungsversuchen Stichworte geliefert, die weitgehend Blickbahnen öffnen, aber auch verstellen können, sind sie doch mit der Deutung deckungsgleich, die die Nationalsozialisten ihren Erfolgen gaben. Den »gesellschaftlichen Resonanzboden« für den NS-Aufstieg gilt es genauer abzusuchen. Was war der eigentliche Anklang-Verstärker im Ausgang der Weimarer Jahre? Waren es die Verwirrungszustände des bürgerlichen Bewusstseins oder war es die Gefährdungslage, in die die bürgerliche Gesellschaft geraten war? Eberhard Kolb hat mit Recht vor »monokausalen Erklärungsversuchen« gewarnt, »in denen der Aufstieg des Nationalsozialismus und die Machtübertragung an Hitler auf eine einzige oder allein ausschlaggebende Ursache zurückgeführt« werden.[4] Aufgabe der Forschung sei »die Aufhellung eines sehr komplexen Ursachengeflechts«. Als »Determinanten« für die Interpretationsbemühungen des Historikers nennt Kolb die von der Weimarer Verfassung vorgegebenen institutionellen Rahmenbedingungen, d.h. die Machtfülle des Reichspräsidenten gegenüber den politischen Rechten und Einflussmöglichkeiten des Reichstags. Als in der Ära Brüning sich die politisch Verantwortlichen der »Illusion einer Regierung ohne Parteien« hingaben und, so Hans Mommsen, eine nicht mehr rückgängig zu machende »Informalisierung des politischen Prozesses« einsetzte, nutzten die Nationalsozialisten diese Entwicklung für ihren parteipolitischen Aufstieg.[5] Auch Kolb zählt die Antworten auf, die die historische Forschung auf die Frage nach dem Scheitern der Weimarer Demokratie und der Ermöglichung Hitlers zu geben versucht hat. Alles hat seinen Erklärungswert: der Blick auf die ökonomischen Zwangslagen in einer Krise der Weltwirtschaft; die weithin ungebrochene Prägekraft obrigkeitsstaatlicher Traditionen für die politische Kultur der ersten deutschen Demokratie; die Verwerfungen im sozialen Gefüge, die den bürgerlichen Mittelstand zum Verlierer in der Nachkriegsgesellschaft der zwanziger Jahre werden ließen; Versailles als Stigma nationalen Selbstwertgefühls; die massensuggestive Wirkung der NS-Propaganda; das Versagen der sich politische Verantwortung anmaßenden Persönlichkeiten, in erster Linie Hindenburg, Papen und Schleicher.[6]
Bei der Reihung der »Komponenten«, die die Weimarer Ordnung destabilisiert und delegitimiert haben, fehlt die Bürgerkriegs-Perspektive. 1918 war der Krieg zu Ende, doch es begann ein Bürgerkrieg der Worte, Taten und Ideologien, der Weimar dem Abgrund entgegen treiben ließ. Karl Dietrich Bracher hat schon 1955 die »innenpolitische Katastrophe von 1930/33« mit dem »hektischen Sog jener Jahre« in Verbindung gebracht.[7] Politische Feindschaften eskalierten in politischen Gewaltausbrüchen, die Politik geriet in den Sog eines offenen Bürgerkriegs. War die nationalsozialistische Machtergreifung, so deutete Bracher die »Auflösung der Weimarer Republik«, Folge und gleichzeitig Durchbrechung jenes »Machtvakuums«, das die vom Reichspräsidenten Hindenburg eingesetzten Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher im »demokratischen Raum« geschaffen hatten?[8] Das Argument, der Nationalsozialismus habe am 30. Januar 1933 die Macht in einem machtentleerten Raum angetreten, trifft in dieser Verkürzung sicherlich nicht zu. Ersetzt man den Begriff Machtvakuum durch Ordnungsvakuum, hat man eine Formel zur Hand, die die politischen Zustände in der späten Weimarer Republik in ihrer gesellschaftlichen Tiefendimension erschließt. An der Frage nach Bürgerkrieg und Bürgerfrieden entschied sich das Schicksal der Weimarer Republik.
Das Bürgerkriegsparadigma begegnet zwar in den Forschungen zur Weimarer Republik, aber es ist nie zur Leitlinie einer systematischen Interpretation gemacht worden. Ernst Nolte hat den »europäischen Bürgerkrieg« der Jahre 1917–1945 als fundamentale ideologische Auseinandersetzung zwischen Nationalsozialismus und Bolschewismus in aller Breite ausgelegt und im Nationalsozialismus eine Reaktion auf die »Vernichtungsdrohung« sehen wollen, die der Bolschewismus gegen das europäische Bürgertum gerichtet habe.[9] Es war der deutsche Bürgerkrieg, der zur Katastrophe Europas im Zweiten Weltkrieg führte, kein europäischer, vom Kommunismus ausgerufener Bürgerkrieg, dem Deutschland anheim fiel. Im Gedankenschaum Noltes verflüchtigt sich die konkrete Bürgerkriegslage im Deutschland der zwanziger Jahre, – das, was Bernd Weisbrod als Übermaß von Gewalt in Politik und politischer Kultur angesprochen hat.[10] Weisbrod sieht unter dem Gesichtspunkt der »Akzeptanz von illegaler politischer Gewalt« die Weimarer Zeit als eine Art Inkubationsphase der NS-Zeit an. Es wird zu prüfen sein, ob nicht nur die spektakulären politischen Morde an Luxemburg, Liebknecht, Erzberger und Rathenau zu einer breiten, weit in das bürgerliche Lager hineinreichenden »Bürgerkriegspsychose« geführt haben, sondern auch die Profanisierung politischer Gewalt in den späten Jahren der Republik. Das Ubiquitäre politischer Kampfhandlungen flößte den Menschen Angst ein – Ängste, die die verschiedenen politischen Lager zu ihrem Vorteil auszubeuten versuchten.
In der Krise der Weimarer Republik wirkte die politische Gewalt krisenverschärfend.[11] Doch spitzten sich die politischen Auseinandersetzungen so zu, dass man von einem Bürgerkrieg sprechen...