Die Entfaltungsschritte der Seele
Frage: Wir haben gehört, daß der Sinn unserer Existenz auf dieser Erde im Lernen besteht. Aber wie lernen wir? Worin bestehen die Aufgaben? Warum braucht die Seele so viel Zeit dazu, wenn sie doch an sich vollkommen ist? Und warum ist das Lernen oft so schmerzhaft und schwierig?
Quelle: Ihr kommt aus dem Ganzen und sucht das Ganze, um nach einer Vereinzelung durch Erlebnisse und Einsicht bereichert wieder in ihm aufzugehen. Einen Teil des Erfahrungsweges in menschlicher Gestalt zurückzulegen ist eine besonders mutige Entscheidung, der sich keineswegs jedes beseelte Wesen im Kosmos unterzieht. Jede Stufe der seelischen Entfaltung in einem menschlichen Körper ist verbunden mit einer Aufgabe, die für diese Stufe charakteristisch ist. Sie stellt den Entwicklungsanreiz dar und will bewältigt werden, bevor der nächste Schritt auf die darauffolgende Entfaltungsstufe getan werden kann.
Menschsein heißt, in einer Gemeinschaft sein Werk zu tun, was immer es sei. Es bedeutet, sich auf mannigfache Weise innerhalb dieser Gemeinschaft in Erfahrungen hineinzubegeben. Die Aufgaben, die jede Stufe kennzeichnen, betreffen alle Aspekte der jeweiligen Seinsweise. Das bedeutet, sie betreffen körperliche, seelische und geistige Bereiche. Es geht also nicht nur darum, etwas zu begreifen oder zu erledigen oder hinter sich zu bringen, sondern in erster Linie darum, eine bestimmte umfassende Erfahrung mit allem, was dazugehört, zu erleben. Aus diesem Grunde werden für die Bewältigung eines einzigen geistig-seelisch-körperlichen Lernschritts oft mehrere Existenzen in der physischen Welt benötigt, denn nicht selten vollzieht sich die Erfassung und Erfüllung dieser Aufgabe in aufeinanderfolgenden Stufen. Zum Beispiel kann eine solche Aufgabe zunächst einmal geistig erfaßt werden in ihrer Notwendigkeit und Bedeutung. Im darauffolgenden Leben wird sie körperlich und aktiv erfahren, im dritten vielleicht erst seelisch integriert und verarbeitet. Das wäre der idealtypische Vorgang, aber es ist nicht ausgeschlossen, diese drei Schritte auch innerhalb einer einzigen Inkarnation zu vollziehen. Trotzdem sind in der Regel zwei Leben unter verschiedenen Bedingungen notwendig, um alles entsprechend zu begreifen. Jeder dieser Schritte kann selbstverständlich in jedem einzelnen Leben auch wiederholt werden, um die Erfahrungen zu vertiefen und alle Dimensionen abzudecken, die sich durch eine solche Aufgabe eröffnen. Da grundsätzlich Kontakte mit anderen Seelen die Voraussetzung bilden, um eine Aufgabe subjektiv als notwendig zu empfinden, sie mit Leben zu erfüllen und auch zu verarbeiten, können diese spezifischen Entfaltungsschritte nur im Körper und während eines Aufenthalts in der physischen Welt vollzogen werden, denn in der astralen Welt geht es nicht um die Bewältigung von Aufgaben, sondern einerseits um Planung und andererseits um Auswertung.
Alles hingegen, was mit der erlebenden Ausführung als solcher zu tun hat, ist auf die Reibung zwischen solchen inkarnierten Seelen angewiesen, die in aller Regel nichts davon wissen, daß sie miteinander etwas zu gestalten haben. Diese Ungebrochenheit im Wollen und Können ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß nicht alle Absicht als unverbindlich entkräftet wird. Die Inkarnationsaufgabe ist kein spielerischer Akt, den ein Mensch jederzeit abbrechen kann. Wichtig ist vielmehr, daß eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den vielfältigen Möglichkeiten der Durchführung, die eine solche stufengemäße Aufgabe erfordert, stattfindet.
Wir betonen stets, daß alles selbstgewählt ist, und in einem weiteren Sinne ist dies auch hier der Fall. Und doch müssen wir dieses Thema der Entfaltungsaufgaben mit einer diesbezüglichen Einschränkung versehen, denn es ist der heranreifenden Seele nicht überlassen und unterliegt nicht ihren Wünschen oder ihrem »freien Willen«, ob sie sich diesen Aufgaben stellen möchte oder nicht. Sie kann es bewußt tun oder unbewußt vollziehen, das entspricht der Bandbreite ihrer Möglichkeiten. Doch wird sie sich aus einem selbstverständlichen Bedürfnis stets so lange auf der jeweiligen Stufe der Entfaltung aufhalten, bis sie die Befriedigung erlebt, einen entsprechenden Anteil ihrer Sinnforschung im inkarnierten Zustand vollständig erfaßt zu haben.
Diese Aufgaben sind für alle beseelten Wesen in allen physischen Welten gleich, und doch gestalten sie sich – je nachdem, wie die Bedingungen in einer spezifischen physischen Welt beschaffen sind – unterschiedlich. Strukturell betrachtet sind sie identisch. Um die besonderen Umstände auf anderen physischen Ebenen, die andersartig materialisierte, aber ebenfalls beseelte Wesen betreffen, wollen wir uns hier nicht kümmern. Wichtig ist, daß keine dieser Aufgaben vom inkarnierten Individuum allein, ohne das Mitwirken anderer Menschen oder nur durch mentale Einsicht oder nur durch seelische Arbeit, die sich von der seelischen Gemeinschaft abspaltet, erfüllt werden kann. Alle Aufgaben beziehen sich auf das Gefüge von Bindungen, in denen ein inkarniertes Wesen sich befindet. Es geht auf vielen verschiedenen Ebenen um Beziehungen – auf seelischer Ebene, auf biologischer Ebene, auf sozialer und auf kultureller Ebene. Die Aufgaben dienen dazu, dem Fragment seine beglückend bergende und geborgene Eingebundenheit einerseits und auch die als bedrohlich empfundene existentielle Abhängigkeit vom Mitmenschen andererseits erfahrbar zu machen.
Während der ersten drei großen Zyklen seelischen Wachstums (bei den Säugling-Seelen, Kind-Seelen und frühen Jungen Seelen), das heißt während gut der ersten Hälfte der Inkarnationen, werden diese Aufgaben sich vielfach nicht auf innere Prozesse beziehen, sondern auf die Bewältigung der Erfordernisse, die ein Leben in einem menschlichen Körper überhaupt mit sich bringt. Erst im späten Jungen, Reifen und sodann im Alten Zyklus wird es vorwiegend um eine innere Auseinandersetzung mit anderen Menschen gehen. Am Ende steht die Begegnung mit dem inneren Du, das sich als Bewußtsein und Psyche der seelischen Absicht beigesellt. In jedem Fall geht es um die Bewältigung der Ängste, die aus der Spannung zwischen Vereinzelung und Verbundenheit entstehen. Wir können dies auch als den rein seelischen Aspekt der großen Dynamik zwischen Distanz und Nähe bezeichnen.
Wir möchten euch, um einen Einblick in die Vielfalt und in die aufeinander aufbauende Struktur der Entfaltungsaufgaben zu vermitteln, einen Überblick über die Lernschritte des Reifen und des Alten Seelenzyklus geben.
Inkarnierte Seelen lernen auf der Entfaltungsstufe
Reif 1: Freiheit in Abhängigkeit erfahren.
Reif 2: Anderen und sich selbst Unrecht vergeben.
Reif 3: Einem schlechten Herrn treu dienen.
Reif 4: Aus Liebe auf Wesentliches verzichten.
Reif 5: Schicksal und Leben anderen anvertrauen.
Reif 6: Die Trennung von Unschuld und Schuld aufheben.
Reif 7: Möglichkeiten und Grenzen des Wollens erkennen.
Alt 1: Aus innerer Überzeugung gegen die geltende Moral handeln.
Alt 2: Sich selbst aufrichtige Bewunderung zollen und dafür auf die Bewunderung anderer verzichten.
Alt 3: Präzise Innenschau mit einer aktiven Außenwirkung verbinden.
Alt 4: Das Wohl der Gemeinschaft mit dem eigenen Wohl verbinden.
Alt 5: Unbeirrbar einen Weg verfolgen, ohne das Ziel zu kennen.
Alt 6: Durch Sein wirken und auf Tun verzichten.
Alt 7: Empfangen, ohne zu schenken, und schenken, ohne zu empfangen.
Diese Entfaltungsaufgaben, die auf den einzelnen Stufen der seelischen Entwicklung bewältigt und gestaltet werden müssen, sind so komplex, so vielfältig aspektiert und so reichhaltig in ihren Ausformungen, daß es grundsätzlich weder möglich noch sinnvoll ist, die auf eine Formel gebrachten Aussagen für die jeweiligen Stufen zu erläutern oder in irgendeiner Weise zu kommentieren. Vielmehr ist jeder einzelne, der für sich erkennt, daß er sich auf einer dieser Stufen der Entfaltung befindet, aufgefordert, sich auch mit dem Mysterium, das in dieser Formel, in dieser Formulierung enthalten ist, auseinanderzusetzen. Es handelt sich dabei um das Rätsel seines Lebens und zugleich um dessen Auflösung.
Es ist auch nicht möglich oder sinnvoll, ein historisches Beispiel für eine solche Entfaltungsaufgabe zu bieten, denn diese Aufgabe nimmt meistens nicht nur eine einzige körperliche Existenz, sondern mindestens zwei in Anspruch. Und um verstehen zu können, wie eine derartige Entfaltungsaufgabe sich in der leiblichen Manifestation darstellt, müßte gerade in dem Zyklus der Reifen Seele in der Regel eine dreifache Inkarnationsfolge enthüllt werden, nicht eine einzige Existenz, die sich mit einem Namen benennen lassen könnte.
Entfaltungsaufgaben werden gedanklich und real, passiv und aktiv, als Opfer und als Täter, bewußt und unbewußt, in Liebe und in Angst, absichtlich und unabsichtlich, beobachtend oder tätig gestaltet. Sie werden erlebt, erlitten oder auch für andere bereitgestellt. Auf die Auseinandersetzung mit der in der Formel beschlossenen Thematik kommt es an. Und jeder wählt für sich persönlich, in jedem einzelnen Leben, in jedem einzelnen Jahr seines Lebens, wie er sich dieser Thematik nähern oder ihr begegnen will. Es gibt keine Vorschriften, es gibt nur einen unbedingten Anspruch der Seele, diese Thematik zu bearbeiten. Jeder Anlaß, jede Gelegenheit, jede Herausforderung ist ihr dafür recht.
Da alle Entfaltungsaufgaben erhebliche Schwierigkeiten in ihrer Bewältigung enthalten, die während eines Abschnitts von zwei, drei oder vier Leben die wichtigste Herausforderung, die härteste Prüfung darstellen, aber nicht etwa...