2. Die gesellschaftliche Ausgangssituation
Wie in der Einleitung bereits angedeutet begründet die gesellschaftliche Situation in Deutschland die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten von Bildungsangeboten für ältere Menschen. Eine genauere Beschreibung der gesellschaftlichen Situation wird in diesem Kapitel anhand der zentralen gesellschaftlichen Veränderungen des demographischen Wandels, des Strukturwandels der Lebensformen älterer Menschen sowie der Entwicklung der Gesellschaft zur Wissensgesellschaft vorgenommen.
2.1 Der demographische Wandel
Einer der zentralen gesellschaftlichen Einflussfaktoren wird unter dem Begriff des demographischen Wandels behandelt, welcher den Prozess der Alterung der Gesellschaft beschreibt. Dieser Prozess geht vonstatten, wenn die Lebenserwartung der Menschen steigt und gleichzeitig die Geburtenhäufigkeit sinkt[1] (vgl. Kade 2009, S. 19). Die Geburtenhäufigkeit wird auch als Fertilitätsrate bezeichnet und beschreibt die Anzahl der Geburten in Relation zu der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter (etwa zwischen 15 und 45 Jahren) (vgl. Schölkopf 2000, S. 51). Im Jahr 1950 lag die Fertilitätsrate in Deutschland[2] noch bei 2,2 Kindern pro gebärfähige Frau. Bis in das Jahr 2007 ist sie auf nur noch 1,34 Kinder gefallen (vgl. Lehr 2007, S. 2). Für den langfristigen Rückgang der Geburtenhäufigkeit lassen sich verschiedene Gründe nennen. Zum einen hat die Einführung der Antibabypille die Empfängnisverhütung und dadurch die gezielte Familienplanung vereinfacht, zum anderen hat die Bedeutung der Nachkommen als „persönliche Altersversicherung“ mit der Übernahme zentraler Lebensrisiken wie Krankheit und altersbedingte Arbeitsunfähigkeit durch den Sozialstaat abgenommen (vgl. Schölkopf 2000, S. 52). Als weiterer Faktor lässt sich der wachsende Wunsch der Frauen nach Erwerbstätigkeit nennen, der einhergeht mit der bleibenden Schwierigkeit, Familie und Beruf zu verbinden (vgl. Schölkopf 2000, S. 52).
Gleichzeitig zu diesem Absinken der Fertilitätsrate steigt die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen in Deutschland (vgl. Schölkopf 2000, S. 52). Seit 1871 hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung Neugeborener mehr als verdoppelt, so dass „[...] in der zweiten Hälfte der 90er Jahre Mädchen bei der Geburt im Durchschnitt mit einer Lebenserwartung von 80 Jahren rechnen konnten; die Lebenserwartung von neugeborenen Jungen belief sich auf 74 Jahre“ (Schölkopf 2000, S. 52). Bis in die Jahre 2007 bis 2009 ist die Lebenserwartung von Neugeborenen um weitere drei Jahre angestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt 2011). Der Trend der langsamen aber stetigen Steigerung der Lebenserwartung lässt sich auch für ältere Menschen verzeichnen, wie an den Angaben des Statistischen Bundesamtes zur Lebenserwartung in Deutschland zu erkennen ist. Männer im Alter von 80 Jahren hatten in den Jahren 2007 bis 2009 immer noch eine durchschnittliche ferne Lebenserwartung von 7,67 Jahren und Frauen desselben Alters von 9,04 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt 2011).
Diese Entwicklung wird nach Prognosen der Bevölkerungswissenschaft[3] auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten anhalten[4] (vgl. Schölkopf 2000, S. 52).
Generell ist dies positiv zu bewerten, denn die längere Lebenserwartung lässt sich unter anderem auf eine verringerte Säuglingssterblichkeit, auf medizinische Fortschritte, verbesserte Hygiene und Ernährung sowie verbesserte Wohn- und Arbeitsbedingungen zurückführen (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 36). Die Auswirkungen der Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit auf die zahlenmäßige Besetzung der jeweiligen Altersjahrgänge haben allerdings längerfristig eine Verschiebung der Anteile der einzelnen Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung zur Folge (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 30). Dies wird bei der Betrachtung der Abbildung 1 zur Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland seit 1955 deutlich.
Während der Jugendquotient[5] Im Jahr 1955 bei 55 lag, betrug der Altenquotient[6] 29,2. Es gab also beinahe doppelt so viele unter 20-Jährige wie über 60-Jährige. Bis in das Jahr 2004 hat sich die Altersstruktur dahingehend verändert, dass der Jugendquotient auf 37 gesunken und der Altenquotient auf 45,5 gestiegen ist. Schölkopf (2000) geht sogar davon aus, dass der Altenquotient den Jugendquotient im Jahr 2030 um mehr als das Doppelte übersteigen wird (S. 54).
Abbildung 1: Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung Deutschlands seit 1955 [7]
Diese Entwicklung hat zur Folge, dass unter anderem das deutsche Rentensystem, der Arbeitsmarkt und der Pflegebereich sich auf eine Gesellschaft mit einem höheren Anteil älterer Menschen einstellen müssen (vgl. Lehr 2007, S. 3f.). Hinzu kommt, dass ältere Arbeitnehmer früher als noch in den 70er Jahren aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Zwar liegt die Regelaltersgrenze bei 65 Jahren, jedoch nehmen über das 60. Lebensjahr hinaus nur noch wenige am Erwerbsleben teil (vgl. Schölkopf 2000, S. 55). Dabei ist der frühe Austritt aus dem Arbeitsmarkt nicht unbedingt Zeichen veränderter Präferenzen der Arbeitnehmer, sondern vielmehr Ergebnis einer gezielten Politik, deren Maßnahmen diese Tendenz zuließen oder sogar förderten (vgl. Alber/Schölkopf 1999, S. 56).
„Dem Staat kam der Vorruhestand deshalb sehr gelegen, weil damit die amtlich registrierte Arbeitslosenquote gesenkt werden konnte. Für die Arbeitgeber wiederum stellte die Frühverrentung älterer Arbeitskräfte einen vergleichsweise kostengünstigen sowie gesellschaftlich und innerbetrieblich akzeptierten Weg dar, um im Kontext raschen technologischen Wandels und ökonomischer Stagnation die Belegschaften zu reduzieren und zu verjüngen“ (Schölkopf 2000, S. 56f.).
Aus Sorge um die finanzielle Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung versucht der Staat in den letzten Jahren zwar diesen Trend wieder umzukehren, trotzdem tritt der Großteil der Menschen bereits um das 60. Lebensjahr aus dem Berufsleben aus (vgl. Schölkopf 2000, S. 57). Über die Altersgrenze von 65 Jahren hinaus ist nur eine kleine Minderheit weiterhin berufstätig. In den meisten Fällen sind es geringfügig beschäftigte Frauen oder Selbstständige, denen ihre Rente zum Leben nicht ausreicht (vgl. Kade 2009, S. 25). Aufgrund der steigenden Lebenserwartung hatten Männer, die in den Jahren 2007 bis 2009 im Alter von 60 Jahren aus der Erwerbstätigkeit austraten, durchschnittlich noch eine Lebenserwartung von etwa 21 Jahren, Frauen desselben Alters von knapp 25 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt 2011). Das Alter wird dieser Tendenz nach zunehmend zu einem Lebensabschnitt, der bald länger ist als die Zeit der Kindheit und der Jugend zusammen (vgl. Rosenmayr 2000, S. 445). Dabei werden die 60 bis 75-Jährigen auch als „Junge Alte“ bezeichnet, die sich in der Regel einer guten Gesundheit erfreuen, aktiv und mobil sind. Vor allem die „Jungen Alten“ möchten die produktiven Ressourcen, über die sie verfügen, auch aktiv bei der individuellen Gestaltung der Lebensphase Alter einsetzen (vgl. Kade 2009, S. 22). Die nachberufliche Lebenszeit soll neue Aufgaben bringen und mehr sein als Erholung, Unterhaltung und Gesundhaltung (vgl. Pöggeler 2000, S. 467).
Für die Zukunft ist es aus diesen, durch den demographischen Wandel bedingten Gründen wichtig, den wachsenden Bildungsbedarf der über 60-Jährigen zu decken und zu erreichen, „[...] daß die Gesellschaft für die Sinnverwirklichung des Alters genau so sorgt wie für die von Kindheit, Jugend und Erwachsensein“ (Pöggeler 2000, S. 464).
2.2 Die Wissensgesellschaft und lebenslanges Lernen
Im Zuge der Modernisierung der Gesellschaft vollzieht sich zudem ein weiterer Wandel, nämlich der Übergang von der Industriegesellschaft zur Informations- und Wissensgesellschaft.
„Kern des Umbruchs von der Industriezur Informationsgesellschaft ist die Veränderung des wirtschaftlichen Wertschöpfungssystems. Die Informationswirtschaft rückt nunmehr in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Wachstums, die größten Wachstumsraten und Beschäftigungszuwächse werden im Bereich der wissensbasierten Produkte und Dienstleistungen erzielt. Der Wertschöpfungsprozess beruht auf Information und Wissen, das gesammelt, ausgewertet, verändert, übertragen und verteilt wird. Wissen und Information werden zu den wichtigsten Produktionsfaktoren“ (Huss 2008, S. 211).
Dabei lässt sich besser von einer Wissensals einer Informationsgesellschaft sprechen, denn erst das Erlangen von Wissen aus Informationen in Abhängigkeit von individuellen Fähigkeiten und individuellem Vorwissen kann wirtschaftliche Vorteile bringen (vgl. Dewe/Weber 2007, S. 15f.). Es ist demnach das Wissen, das zu einem der bedeutendsten Produktionsfaktoren in der heutigen Gesellschaft wird (vgl. Huss 2008, S. 215).
In Folge des Übergangs von der Industriezur Wissensgesellschaft sowie des demographischen Wandels erfolgte in den 90er Jahren eine nähere Beschäftigung mit der Thematik des lebenslangen[8] Lernens, zu der bereits in den 1960er und 70er Jahren erste Konzepte entwickelt wurden (vgl. Dietsche/Meyer 2004, S. 8). Heute gewinnt das Konzept des lebenslangen Lernens...