Kapitel 2
Es dämmert, Stille legt sich über den See, nur in der Ferne ist noch ein einsamer Vogel zu hören. In einem Häuschen am Wasser lieben sich ein Mann und eine Frau. Sie haben keine Eile und lassen sich Zeit, genießen die Vorfreude und das allmähliche Abfallen der Spannungen und Sorgen des Alltags.
Sie lernen sich erneut kennen, obwohl sie schon seit Jahren ein Paar sind. Allmählich steigert sich die Leidenschaft, ihr Lachen verbindet sich mit seinem Mannesdrang und findet schließlich freudige Erfüllung. Später ruhen sich die beiden aus und schmiegen sich schläfrig aneinander.
Im Körper der Frau macht sich ein Spermium auf den Weg zu einem mondförmigen, empfängniswilligen Ei, und ein neues Leben beginnt.
Das Leben in sich lieben
Wie sind Sie zu Eltern geworden? Durch eine Schwangerschaft natürlich!
War sie auch gewollt? Wer weiß! – Ihr Körper jedenfalls war dafür bereit! Für Ihren Verstand jedoch kann die Nachricht von der Schwangerschaft auch ein Schock sein. Selbst eine minutiös geplante Schwangerschaft kann dieses Gefühl auslösen, ganz zu schweigen von einer völlig »zufälligen« Schwangerschaft. Und wenn man dann den Teststreifen in der Hand hält, kann einem schon ein »Oh nein, worauf hab’ ich mich da eingelassen!« durch den Kopf schießen.
Eine Schwangerschaft stellt Sie vor die Wahl. Sie können das neue Leben in Ihnen mit Liebe annehmen oder sich ihm aus Angst verschließen. Wenn Ihr Baby im Körper heranwächst, wenn es zur Welt gekommen ist und wenn es zu einem jungen Erwachsenen entwickelt – immer wieder werden Sie sich entscheiden müssen, ob Sie hartherzig und distanziert reagieren oder ob Sie sich öffnen und Ihrem Kind mit dem begegnen wollen, was wir in diesem Buch Sanfte Liebe nennen.
Sanfte Liebe, die Bereitschaft zu Zärtlichkeit, Großzügigkeit und Wärme, ist jedem Menschen mitgegeben. Sie kann in Ihnen leuchten wie ein ständiges Licht oder leise vor sich hin glimmen wie ein Span, der noch darauf wartet, entfacht zu werden.
Alle frischgebackenen Eltern tragen dieses Fünkchen in sich. Wissenschaftler haben festgestellt, daß Väter, die bei der Geburt ihres Kindes dabei waren oder ganz früh an seiner Pflege beteiligt wurden, geradezu in Sanfter Liebe »schwimmen«. Sie wollen gerne viel Zeit mit ihrem Baby verbringen und auch in der Lage sein, es zu versorgen. Und das selbst dann, wenn sie nicht der leibliche Vater des Kindes sind. Was zählt, ist einzig und allein, daß man von Anfang an dabei gewesen ist.
Einige Worte zum Thema Stillen
Muttermilch enthält nachweislich eine große Anzahl von Antikörpern und Nährstoffen und ist daher jeder anderen Art von Milch vorzuziehen. Manchmal kann eine Mutter aus medizinischen Gründen nicht stillen. Unter solchen Umständen sollte sie dafür sorgen, daß beim Füttern des Fläschchens die Intimität zwischen Mutter und Kind gewahrt bleibt. Sie sollte Haut- und Augenkontakt mit ihrem Baby herstellen und versuchen, sich zu entspannen.
Stillen ist eine Kunst, und manchmal brauchen junge Mütter Unterstützung, um sie zu erlernen. Dabei gibt es ein paar simple Tricks, die Wunder wirken können. Wenden Sie sich an eine Stillgruppe oder Hebammenvereinigung. Dort wird man Ihnen gerne weiterhelfen.
Durch den Körperkontakt zwischen Mutter und Kind beim Stillen und Schlafen wird im Körper der Mutter die Produktion starker Hormone in Gang gesetzt und der Mutterinstinkt geweckt. Diese sogenannten Prolaktine bewirken, daß die Mutter sich entspannt und in der Gegenwart ihres Säuglings tiefe Befriedigung empfindet.
Gleichzeitig versetzen sie den Körper der Mutter in einen Zustand von Wachsamkeit und gesteigertem Bewußtsein. Prolaktine sind immer dann am Werk, wenn Sie sich dabei ertappen, daß Sie wie eine Henne glucken oder instinktiv etwas Kleines, Unschuldiges – zum Beispiel einen kleinen Hund – streicheln wollen.
Die Liebe zu unseren Kindern ist uns also mitgegeben und wartet nur darauf, geweckt zu werden. Manchmal geht das von ganz allein, manchmal muß man ein wenig nachhelfen.
Haben Sie als Kind zu lieben gelernt?
Wenn Ihnen als Baby und Kind selbst wenig Liebe zuteil wurde, so kann dies das größte Hindernis für die Entfaltung Ihrer eigenen Gefühle sein. Vielleicht haben Sie nämlich einfach nicht gelernt zu lieben. Aber es ist nie zu spät!
Auch wenn es in der Generation unserer Eltern nicht üblich war, Gefühle zu zeigen oder auszusprechen, so bedeutet das nicht, daß sie ihren Kindern weniger zugetan waren. Dennoch haben viele Eltern unserer Zeit als Babys und Kleinkinder wenig Zuneigung erfahren. In den »unterkühlten« 50er-Jahren wurden Zärtlichkeiten und Zuneigung als überflüssige »Verwöhnung« angesehen. Bei Geburt und Babypflege handelte man nach rein medizinischen Gesichtspunkten. Man riet den Eltern, ihr Kind schreien zu lassen und es nur zu festgelegten Zeiten füttern. Man redete ihnen ein, daß zu häufiges Auf-den-Arm-Nehmen sich nachteilig auf das Kind auswirken könnte. Selbst heute gibt es noch Ratgeberautoren und Kinderärzte, die solche Theorien verbreiten!
In einem Artikel in der Zeitschrift Mothering vertritt Jean Liedloff die These, daß es zwei Grundempfindungen gibt, die alle Menschen brauchen. Es ist das Gefühl, »willkommen« und »wertvoll« zu sein. Und gerade diese beiden Dinge waren es, die in den Familien der 50er- und 60er-Jahre vernachlässigt wurden. Die Eltern dieser Zeit beherrschten die praktische Seite der Kinderpflege recht gut, sie ernährten und kleideten uns sorgfältig und achteten auf unsere Gesundheit. Da es jedoch zu den Erziehungsmethoden der Zeit gehörte, an die Scham- und Schuldgefühle des Kindes zu appellieren, fiel es ihnen schwer, ihrem Kind zugleich Wärme und Nähe zu vermitteln. So konnte das Kind leicht zu dem Eindruck gelangen, unerwünscht und wertlos zu sein.
Einer unserer Klienten erzählte uns einmal, daß er als Teenager und junger Erwachsener häufig das Bedürfnis verspürte, freundliche ältere Leute aufzusuchen. Sie gaben ihm das Gefühl, willkommen zu sein, ein Gefühl, dem er sich ausgiebig hingab. Sie zeigten Interesse an seiner Person und schenkten ihm ein Lächeln. Durch diese Ersatzhandlung gelang es ihm, allmählich seine Defizite abzubauen. Er stellte fest, daß die Menschen seine Gegenwart schätzten, an seiner Meinung interessiert waren und ihm von ihren Sorgen erzählten – das vermittelte ihm mehr Selbstwertgefühl. Das Ergebnis dieser Erfahrungen war, daß er den Beruf eines Psychologen ergriff!
Oder die Geschichte einer alten Freundin: Sie berichtete, daß sie als kleines Mädchen jede Nacht bis Mitternacht wach lag. Wenn die anderen schliefen, schaltete sie das Radio ein, um der freundlichen, tiefen Stimme des Moderators im Nachtprogramm zu lauschen. Wenn er gute Nacht gewünscht hatte, konnte auch sie beruhigt einschlafen.
Aber es hatte auch Vorzüge, damals ein Kind zu sein. Die Familien waren für gewöhnlich kinderreich und lebten nahe bei ihren Verwandten. Immer gab es ein paar ältere Geschwister, Cousinen und Cousins, Tanten oder Großmütter, die zu Besuch waren oder mithalfen. Bevor man selbst Vater oder Mutter wurde, hatte man sich schon Übung im Umgang mit Kindern erwerben können. (Heutzutage hat ein Viertel aller jungen Eltern vor ihrem eigenen noch nie ein Baby auf dem Arm gehalten. Kein Wunder also, daß sie zunächst unsicher reagieren.)
Wie die innere Heilung einer Mutter dem Sohn half
Die Beziehung der 38jährigen Anna zu ihrem Sohn war äußerst problematisch. Er litt an Depressionen und war selbstmordgefährdet. Wir begannen ein Gespräch darüber, wie sie miteinander umgingen. Es stellte sich heraus, daß jedes Gespräch, das sie führten, damit endete, daß Anna ihren Sohn kritisierte.
Innerlich machte sie sich Sorgen, aber nach außen wahrte sie ihre kühle Fassade und war dabei selbst zutiefst unglücklich. Nachdem sie zu mir Vertrauen gefaßt hatte, eröffnete sie mir, daß sie ihren Sohn fast nie mit Zuneigung umarmte oder berührte, sondern daß schon der Gedanke daran ihr Unbehagen bereitete.
Daß emotionale Kälte seitens der Mutter einen pubertierenden Jungen an den Rand des Selbstmords führen kann, ist bekannt, vor allem dann, wenn auch der Vater nicht in Reichweite ist. Wir erklärten also Nähe zu unserem ersten Ziel.
Nach vielen aufmunternden Gesprächen begann Anna, mehr aus sich herauszugehen. Wenn sie ihrem Sohn das Essen brachte, legte sie schon einmal die Hand auf seine Schulter, oder sie machte ihm ein Kompliment über seine Frisur oder seine Kleidung. Nach ein paar Wochen schaffte sie es, ihn morgens mit einer kurzen Umarmung zur Schule zu schicken.
Es fiel Anna schwer, all dies zu tun, aber sie hielt hartnäckig daran fest. Eines Tages erzählte jemand in einem Selbsterfahrungskurs, den sie besuchte, von seiner traurigen Kindheit. Plötzlich bekam sie eine Gänsehaut und begann zu zittern. Schließlich mußte sie laut weinen. Erinnerungen an ihren Vater, der sie sexuell bedrängt hatte, als sie etwa vier Jahre alt war, brachen in ihr auf. (Gott sei Dank hatte sich ihre Mutter kurze Zeit später von diesem Mann getrennt.)
Anna hatte die Erinnerungen an diese Ereignisse nicht verloren, ihnen aber keine Bedeutung beigemessen. Aber genau darin lag jedoch die Erklärung dafür, warum Berührung und Zärtlichkeit ihr unangenehm waren.
Durch die Gespräche in der Gruppe lernte Anna sehr bald, die Anteilnahme anderer zuzulassen und mehr aus sich herauszugehen. Diese Fähigkeiten hatte...