KAPITEL 1 Was ist ein Wildnisgeher?
Eine Antwort in fünf Begegnungen
Erste Begegnung: Harald
Wir trafen ihn in Narvik. Er wollte auch nach Alta. Als er beim Beladen des Postbusses unsere Rucksäcke entdeckte, kam er gleich auf uns zu. Ein großer, freundlicher Mann. Seine Beine steckten in einer verwaschenen Armeehose, die auf Grund zahlreicher Gebrauchsspuren einen arg mitgenommenen Eindruck machte. Die Enden der Hosenbeine gingen in fast kniehohe Schnürstiefel über, deren mit viel Liebe aufgetragenes Schuhfett im eklatanten Gegensatz zu dem ansonsten wenig gepflegten Äußeren stand. Wenn er ging, kollidierte der obere Rand des rechten Schnürstiefels mit dem baumelnden Scheidenende eines grotesk überdimensionierten Finnenmessers. Oberhalb des Gürtels spannte ein erheblicher Bauch das grob karierte Hemd, aus dessen Kragen ein bärtiges, breit grinsendes Gesicht strahlte. Irgendetwas freute diesen Mann ganz gewaltig, und wir bekamen auch bald heraus was: Er war wieder im Norden und traf daselbst Menschen, die auch nichts sehnlicher als in den Norden wollten. Harald mochte wohl um die Mitte dreißig sein, war an der norwegischen Eismeerküste aufgewachsen und von Beruf Koch. Jahrelang hatte er in teuren Hotels und auf Kreuzfahrtschiffen gekocht. Aber was nützt all das Licht und die Wärme der Karibik, wenn es im Herzen kalt und dunkel bleibt, so fragte er sich. Und gab die Antwort gleich selbst, indem er kündigte und wieder zurückkam: Zurück in die Dunkelheit und Kälte des Winters, zurück in die Schnaken- und Fliegenplagen des Sommers, zurück in eine Welt der exorbitanten Lebenshaltungskosten und der kulturellen Armut. Aber auch: Zurück in die ewigen Weiten der Vidda, zurück zu den unberührten Seen und Flüssen, zurück zu Birkenbusch, Wildlachs und Schneehuhn – zurück zu Einsamkeit und Wildnis. Er war sich ganz sicher, wieder in den Norden zu müssen. Er wäre sonst todunglücklich geworden: Verkümmert an Leib und Seele.
In Tromsö mussten wir umsteigen. Sein Rucksack lag im Gepäckraum des Busses vor meinem und rührte sich auch nach kräftigem Ziehen keinen Zentimeter. Da musste sich wohl der Hüftgurt verhakt haben. Als ich mich gerade anschickte, in den Gepäckraum zu krabbeln, um die Verhakung zu lösen, legte Harald mit väterlicher Geste seine Hand auf meine Schulter und sagte einen englischen Satz, der in meinen deutschen Ohren nach so etwas wie: „Lass mal, der ist zu schwer für dich“ klang. Lächerlich. Einfach lächerlich! Startgewichte oberhalb von 30 kg waren für uns damals normal. Und sehr viel schwerer konnte Haralds Rucksack ja wohl auch nicht sein. Unwillig wischte ich seine Hand von meiner Schulter, krabbelte in das Gepäckfach, prüfte, ob auch alle Riemen und Gurte frei lagen und zog mit Wucht und auch ein bisschen Wut an dem zugegebenermaßen außergewöhnlich großen Teil. Es war einer jener 130 Liter Monsterrucksäcke, wie sie von Norröna für norwegische Eliteeinheiten hergestellt wurden. Als auch wiederholtes Ruckeln und Zerren nichts half, schob mich Harald sanft bei Seite, zog mit einem Griff seinen Rucksack heraus und weil er schon mal dabei war, auch noch meinen. Bevor er ihn auf den Boden stellte, bewegte er ihn mit einer Hand prüfend auf und ab, um das Gewicht besser abschätzen zu können und nickte mir, indem er ihn abstellte, bestätigend zu. „Nicht schlecht“ schien sein Gesicht zu sagen. Ja, ja schon recht, „nicht schlecht“ aber wohl eben auch nicht „gut“, jedenfalls nicht gut genug, um in Haralds Liga mitspielen zu können. Nun war es an mir, Haralds Rucksackgewicht zu prüfen. Ich brachte ihn kaum vom Boden weg, und mein Ehrgeiz, ihn auf den Rücken setzen zu wollen, endete mit einem rechten Gewürge. „Harald, um Gottes willen, was wiegt dein Rucksack?“. „Naja, wenn ich mit einer Tour beginne, ist er natürlich etwas schwerer, aber sehr viel weniger als 100 englische Pfund hab ich eigentlich nie auf dem Rücken. Ich denke so 55 kg.“ Abgesehen von der Tatsache, dass Rucksackgewichte von 55 kg komplett außerhalb meiner Vorstellungskraft lagen, wurde ich neugierig. Was alles muss man für eine Tour einpacken, um auf 55 kg Startgewicht zu kommen?
„Da wären die zwei Gewehre, ein Kleinkaliber und eine Schrotflinte, je 100 Schuss Munition, meine Angelkiste, eine Fliegen- und eine Spinnrute, Filetiermesser, Schlafsack, Zelt, ein Tarp als Vordach, Isomatte, Kochgeschirr – naja, das gibt es auch leichter, aber als Koch hat man eben auch am Lagerfeuer so seine Ansprüche: Zwei Töpfe, zwei Pfannen, Edelstahl mit Kupferboden, das Beste für eine gute Hitzeverteilung – dann Axt, Säge, 50 m Seil und das übliche Kleinzeug wie Mückenspray, Streichhölzer, Schuhfett, Karten, Kompass, Zahnbürste, Zahnpasta, etc.“
Wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs herausstellte, befand sich unter „etc.“ auch ein handkoffergroßer Stereokassettenrecorder für Batteriebetrieb plus Ersatzbatterien sowie eine gewaltige Auswahl an skandinavischen Softpopkassetten. Dieses für Harald essentielle Wildnisutensil wurde jeden Morgen genutzt, um, während er seinen Kaffee schlürfte, die nordische Einsamkeit zu beschallen. Mir wurde langsam klar, dass Harald nur deshalb die 55 kg halten konnte, weil er an anderer Stelle rigoros mit dem Gewicht knauserte. Seine Reiseapotheke z.B. war ein echter Witz: Ein paar Pflaster, etwas Desinfektionsmittel und ein paar Schmerztabletten. Ach ja, apropos Kaffee: Auch die Mitnahme von Lebensmitteln beschränkte sich bei Harald auf das Allernötigste, als da wären: Fünf Kilogramm Mehl, Backpulver, Salz, reichlich Fett und Zucker sowie je zwei Pfund Marmelade und eben Kaffee. Damit verschwand er für sechs Wochen alleine in der Finnmarksvidda, trat am letzten Tag seiner Wanderung an Leib und Seele rundum erneuert und immer noch breit und glücklich grinsend auf die Verbindungsstraße zwischen Kautokeino und Karasjokka, streckte seinen Daumen raus und trampte zurück nach Alta, um daselbst als Bäcker in einer Pizzeria anzuheuern.
Ich habe die Begegnung mit Harald an den Anfang dieses Buches gestellt, weil er in vielerlei Hinsicht den Prototyp des Wildnisgehers verkörpert. Dass er alleine geht, dass er in Gegenden unterwegs ist, die auch von der raueren Gattung nordischer Wanderer noch nicht genutzt werden – die also noch nicht einmal einen Wanderpfad aufweisen, von Hütten ganz zu schweigen – dass er außergewöhnlich lange Zeiten ohne jede zivilisatorische Infrastruktur auskommt, dass er große Strecken in wegloser Wildnis bewältigen und vor allem, dass er sich in seiner Lebensmittelplanung wirklich auf Gewehr und Angel verlassen kann, verweisen ihn in die extrem kleine Spitzengruppe reinrassiger, europäischer Wildnisgeher. Neben seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten steht Harald aber vor allem wegen seiner Geisteshaltung hier am Anfang. Es ist die Liebe zur Wildnis und die Freude in ihr zu sein, die den reiferen Wildnisgeher auszeichnen. Wildnis ist für den Anfänger immer auch eine gehörige Portion Kampf. Die nicht enden wollenden Strapazen, die Erschöpfung, die Schnaken, die einem auch den schönsten Fischfang verderben können, so dass man genervt vom Lagerfeuer ins Zelt flüchtet, das launische Wetter, das einem auch im August mit Zelt zerreißenden Stürmen, langen Regenperioden oder gar Schneefall bedroht, die fehlende Ablenkung, die Eintönigkeit – an Herausforderungen herrscht im Norden wahrlich kein Mangel. Und oft sind es ja gerade die Schwierigkeiten und deren heldenhafte Überwindung, die uns anfänglich reizen in die Wildnis zu gehen. Doch mit den Jahren tritt eine langsame Änderung ein. Man wird ein Freund der Wildnis. Man wird ein Teil von ihr. Dafür steht Harald. Und für noch etwas: Die großen Wildnisgeher können uns Inspiration und Anregung sein, aber nie Vorbild. Dazu sind sie viel zu individuell. Jeder Anfänger, der mit Blick auf Harald meint, ein dicker Bauch, ein zentnerschwerer Rucksack mit batteriebetriebener HiFi-Anlage, ein bestenfalls spartanisch gefüllter Lebensmittelbeutel, keine nennenswerte Erste-Hilfe-Ausrüstung, aber dafür ein Macheten ähnliches Finnenmesser seien nun genau das Richtige, um in der Wildnis zu bestehen, wird voraussichtlich kläglich scheitern. Also: Inspiration ja, Vorbild nein. Oder anders ausgedrückt: Jeder, der in die Wildnis geht, muss seinen eigenen Weg und Stil finden. Eigene Erfahrung ist durch nichts, aber auch durch wirklich gar nichts zu ersetzen. Es gibt beim Streifen durch die Wildnis keine letzten Wahrheiten und kein Dogma, nur Hinweise. Deshalb führt dieses Buch auch das Wort „Anregungen“ im Untertitel und nicht etwa „Handbuch des Wildnisgehens“.
Wenn Harald ein Beispiel für den Gipfel des Wildnisgehens ist, dann hat der Berg zu diesem Gipfel eine breite Basis. Skandinavier nennen diese Basis „Friluftsliv“, im englischsprachigen Raum heißt sie „Outdoor“. Im Deutschen gibt es ein entsprechendes Wort nicht. Zu den „Frischluftaktivitäten“ zählen ja zum Beispiel auch Jogging, Beachvolleyball oder Paragliding, aber...