Modernes Denken
Das Wort „modern“ klingt für die meisten Menschen positiv. Sie sind mehr oder weniger stark bestrebt, „modern“ zu leben und zu denken. Eine wesentliche Bedeutung des Wortes „modern“ ist „der herrschenden Denk- und Lebensweise entsprechend“. Wahrscheinlich waren die Menschen in diesem Sinne schon immer mehrheitlich modern. Es gibt hier aber eine recht problematische Seite: Moderne Menschen glauben mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und Unbeirrbarkeit an die jeweils vorherrschenden Sichtweisen über die Welt und über das, was gerade als richtig und falsch gelten soll – ohne es meist wirklich geprüft zu haben. Nicht selten sind sie dabei über abweichende Sichtweisen empört, weil sie es als lächerlich, übelwollend oder gefährlich ansehen, andere als die allgemein vertretenen Meinungen zu haben oder zu äußern. Es kann so weit gehen, dass diejenigen, die die herrschenden Ansichten in Frage stellen, von ihren Zeitgenossen diffamiert, unterdrückt oder gar getötet werden. Der griechische Philosoph Sokrates wurde in der vermutlich frühesten Demokratie der Menschheitsgeschichte von einem Volksgericht zum Tod durch Vergiften verurteilt. Er hinterfragte Überzeugungen, mit denen sich seine Zeitgenossen offensichtlich stark identifizierten, während sie aber nicht willens oder in der Lage waren, sie argumentativ zu reflektieren.
Solche typisch menschlichen Haltungen haben Ursachen, die weitgehend unabhängig von unserer Intelligenz sind und oft unbewusst wirken. Eine Ursache ist, dass wir Menschen uns gewöhnlich sehr stark nach der Sichtweise einflussreicher und angesehener Vorbilder, einem herrschenden Trend oder der (vermuteten) Mehrheitsmeinung ausrichten. Ein solches Verhalten wird oft als „Herdentrieb“ oder „Schwarmverhalten“ bezeichnet und ist zum Beispiel an den Finanzmärkten gut erforscht. Neben einer gewissen Schwarmintelligenz gibt es dabei bekanntermaßen unzählige (und teure) Fälle kollektiven Irrtums. Eine andere Ursache ist, dass wir bei dem, was wir für wahr oder falsch halten, uns oft von unseren Wünschen und Gefühlen leiten lassen. Wir halten etwas für wahr, weil es uns angenehm erscheint, oder für falsch, weil es uns unangenehm erscheint. In der Regel versuchen wir nachträglich eine Begründung für eine gern gehegte Überzeugung zu finden. Man nennt dies „Rationalisierung“. Ähnlich wie bei Suchtkranken tun wir uns manchmal recht schwer, liebgewordene Denk- und Lebenskonzepte aufzugeben, selbst wenn gegen sie, objektiv betrachtet, sehr gewichtige Gründe im Raum stehen sollten. Die Philosophin Barbara Zehnpfennig formulierte dies in Bezug auf den Fall Sokrates so:1
„Der Widerstand, der Sokrates entgegenschlug, ist der Widerstand gegen die Aufgabe der eigenen Prämissen. Da es sich in der Regel um Prämissen handelt, auf denen Lebensgebäude errichtet sind, wird die Vehemenz des Widerstands deutlich.“
Nun ist die Ansicht, dass die Menschen zu früheren Zeiten in vielen Dingen unaufgeklärt, unvernünftig und einseitig beeinflusst gewesen seien, gerade heute fast Gemeingut. Entsprechend häufig zu hören ist die Rede vom angeblich „finsteren Mittelalter“. Und von Zeitgenossen, die sich in ihrer Denk- und Lebensweise nicht dem herrschenden Zeitgeist anpassen, sagt man heute gerne, sie seien „noch nicht in der Moderne angekommen“ – oder gar Schlimmeres. Das sind typische Kontraindikatoren. Die Berufung auf Prädikate wie „modern“ oder „zeitgemäß“ ist eher ein Indiz dafür, dass bei der Bildung einer Überzeugung die Kraft der Argumente wohl nicht die entscheidende Rolle gespielt hat. Wir Menschen neigen schnell dazu, das als Standard anzuerkennen, was wir als die aktuell vorherrschende Meinung wahrnehmen. Und diese Meinung wird, wenn überhaupt, meistens nur intuitiv und nicht gründlich argumentativ geprüft. Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman nannte es so, dass wir häufig zu sogenannten „kognitiven Verzerrungen“ neigen. Es handelt sich um ein durch unsere Intuition geleitetes, systematisch falsches Denken. Ein weiteres Beispiel neben den bereits genannten ist die sogenannte „Verfügbarkeitsheuristik“. Kahneman schrieb:2
„So haben beispielsweise Politikwissenschaftler herausgefunden, dass die Verfügbarkeitsheuristik erklären hilft, weshalb einige Probleme in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, während andere vernachlässigt werden. Menschen neigen dazu, die relative Häufigkeit von Problemen danach zu beurteilen, wie leicht sie sich aus dem Gedächtnis abrufen lassen – und diese Abrufleichtigkeit wird weitgehend von dem Ausmaß der Medienberichterstattung bestimmt. Häufig erwähnte Themen ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, während andere aus dem Bewusstsein verschwinden.“
Die genannten Faktoren machen es verständlich, dass wir Menschen kollektiv ziemlich falsche Vorstellungen über die Welt besitzen können. Und sie machen verständlich, dass gerade heute durch Massenmedien oder staatlich koordinierte Bildungseinrichtungen sehr effektive Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Meinungen zu machen, zu steuern und relativ einheitlich auszurichten.3 Eine Tatsache, die von denen, die „ihre“ Meinung einfach nur an den Zeitgeist anpassen, erfolgreich verdrängt wird.
Natürlich ist eine Sichtweise nicht deshalb falsch, weil sie heute modern ist oder es zu irgendeiner anderen Zeit war. Es kann aber sehr irreführend sein, etwas deshalb für wahr zu halten, weil es allgemein als selbstverständlich angesehen wird.
Der Naturalismus
Das Wort „Naturalismus“ ist in der Öffentlichkeit nicht sehr geläufig. Dabei ist der Naturalismus der weltanschauliche Denkrahmen, der den modernen Menschen sehr stark prägt. Dieser Denkrahmen wird in diesem Buch dargestellt, analysiert und schließlich widerlegt. Warum ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen? Die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit unserer Weltsicht betrifft die grundlegendsten und wichtigsten Dinge, die es gibt. Eine vorherrschende Weltsicht kann nicht nur gesellschaftliche und politische Auswirkungen haben. Wenn es ein objektives Ziel, einen objektiven Sinn unseres Lebens geben sollte, wenn es, in anderen Worten, Gott gibt, wäre es vermutlich das Schlimmste, was uns passieren könnte, dass wir an diesem Ziel vorbeileben.
Die Wirklichkeitsauffassung des Naturalismus kann grob so dargestellt werden:
1. Der Ursprung der Welt ist nichtgeistig, materiell und nicht oder wenig geordnet.
2. Das Höhere und Komplexere stammt vom Niederen und Einfachen ab.
3. Die Welt und alle ihre Ausstattungsmerkmale entwickelten sich auf Grundlage blinder Naturvorgänge mit einem praktisch unbegrenzten schöpferischen Potenzial.
4. Die hochgradige Ordnung der Welt ist eine Variante der Unordnung. Sie ist letztlich eine radikal unerklärbare Tatsache.
5. Geist ist eine Variante des Nichtgeistigen und ebenfalls eine radikal unerklärbare Tatsache, die „einfach so“ zustande gekommen ist.
6. Der Mensch ist nichts als Materie. Er ist letztlich vollständig durch blinde, nichtgeistige Faktoren festgelegt und hat keinen freien Willen.
7. Objektive Moral oder Ethik gibt es nicht. Moralvorstellungen sind relativ und beliebig und sie entwickeln sich. Letztlich stammen sie von nichtmoralischen Sachverhalten her und sind darauf zurückführbar.
8. Es gibt keinen Gott, keine objektive Gerechtigkeit, keinen Sinn. Mit dem körperlichen Tod hören alle Menschen endgültig auf zu existieren. Sie müssen keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen.
Der moderne Naturalismus wird auch weitgehend bedeutungsgleich als „Materialismus“, „Physikalismus“ oder „Reduktionismus“ bezeichnet, insofern für ihn Grundlage und Ursprung der Welt materieller und physikalischer Natur sind. „Reduktionismus“ bedeutet, dass alles, was es gibt, auf Materie beziehungsweise auf Physikalisches zurückgeführt (reduziert) werden kann.
Der Naturalismus gilt heute weitgehend als die moderne, wissenschaftliche Weltsicht. Gleichzeitig werden seine weltanschaulichen Prinzipien einer Interpretation wissenschaftlicher Daten zugrundegelegt. Insbesondere wird vorausgesetzt, dass prinzipiell alle Aspekte der Wirklichkeit mittels der fortschreitenden Naturwissenschaft irgendwann erklärt werden könnten. Hier werden aber die methodischen und begrifflichen Grenzen der Naturwissenschaft in entscheidender Weise überschritten: Tatsächlich beschreiben die Naturwissenschaften lediglich die Regelmäßigkeiten unserer Naturbeobachtungen. Die Regelmäßigkeiten als solche können naturwissenschaftlich nicht erklärt werden, genauso wenig wie der menschliche Geist, der die Natur wahrnimmt, die Daten ordnet und Naturwissenschaft betreibt. Wir werden diese und ähnliche Punkte an geeigneter Stelle recht gründlich betrachten.
Ein weiterer, bemerkenswerter Umstand ist, dass der Naturalismus wesentliche weltanschauliche Prinzipien mit pantheistischen oder polytheistischen4 Mythen des Altertums teilt. Zentral ist hier ein fundamentales Entwicklungs- und Fortschrittsprinzip, das letztlich im Wesen der Materie gründen soll. Nach dieser Vorstellung wird aus einem realen „Weniger“ (oder gar aus dem Nichts) spontan ein ebenso reales „Mehr“. Dies war offenbar im Altertum genauso wie heute für viele Menschen intuitiv eingängig. Wir werden aber sehen, dass eine solche Vorstellung rational unhaltbar ist, weil die nötigen realen Voraussetzungen für das Zustandekommen dessen, was durch dieses Prinzip erklärt werden soll, systematisch ausgeblendet werden.
Nichtsdestotrotz wird der...