Kapitel 1 Welt
Einheit der Schöpfung: Mythen – Einheit des Denkens: Die ionischen Philosophen – Einheit der Herrschaft: Sumer – Titulaturen – Schiffahrt und Reisen – Gastfreundschaft – Bericht über die damalige Welt: Herodot
Der Mensch lebt auf der Welt. Danach könnte er sich gleichsam von Natur aus als Bewohner und «Bürger der Welt» verstehen; Bürger in dem schlichten Sinn, daß er ein Wohnrecht auf diesem Aufenthaltsort Erde besitzt. Dem ist natürlich nicht so. Denn bevor der Gedanke des Welt-Bürgers, des Kosmopoliten gefaßt werden konnte, mußte die Welt als eine zusammengehörige Einheit ins Bewußtsein des Menschen treten und der Gedanke des Bürgers konzipiert werden. Das erforderte ein großes Ausmaß an Phantasie und nahm lange Zeit in Anspruch, viel länger als die Jahrtausende, die die bekannte Geschichte ausmachen.
Wann sich der Mensch die Welt als Einheit vorgestellt hat, wissen wir nicht, wohl aber, daß es in vorgeschichtlicher Zeit geschehen sein muß. Denn schon die Völker und Kulturen, deren Spuren wir – in Mesopotamien – am weitesten in die Vergangenheit zurückverfolgen können, gingen, wie wir aus Mythen, Titulaturen, Landkarten wissen, von einer universalistischen Vorstellung der Welt aus. Es dauerte Jahrtausende, bis der nächste Schritt erfolgte und der Begriff Bürger entwickelt wurde. Zwar war schon Sumer, wo «die Geschichte begann»[1], eine Stadtkultur. Zahlreiche Städte und Stadtstaaten rivalisierten miteinander und wurden zuzeiten von starken Herrschern zu Reichen zusammengezwungen. Bürger mit politischen Pflichten und Rechten haben in diesen Städten jedoch nicht gelebt, auch wenn – der gewiß allzu philosumerischen Auffassung Samuel N. Kramers zufolge – die sumerischen Herrscher «keine Tyrannen»[2] waren, weil ihnen ein aus Adligen und Volksvertretern bestehendes Zwei-Kammer-Parlament zur Seite stand. «Man kommt sich wie in Athen oder im republikanischen Rom vor», behauptet Kramer. Das ist aber eine zu euphemistische Darstellung, denn das sumerische «Parlament» hatte, sofern wir von dieser Interpretation des amerikanischen Gelehrten ausgehen dürfen, nur eine den Herrscher beratende Funktion. Das bewußt als solches begriffene Recht aller freien Männer, selbständig über die politischen Vorgänge der Gemeinschaft zu entscheiden, ist eine historische Neuerung, die zum ersten Mal in der griechischen Polis seit etwa dem 6. Jahrhundert erprobt worden ist. Damit begann die Demokratie. Und es mußten wiederum Jahrhunderte vergehen, bis im 4. Jahrhundert ein Bürger, Diogenes von Sinope, zum ersten Mal den Anspruch erhob, «Bürger der Welt» zu sein.
Die Einheit der Welt stellte sich dem Menschen in der Morgenfrühe der Zeiten in dreierlei Weise dar: als große geographische Ausdehnung, als sakrale Zugehörigkeit zu einer universalen Macht und als Herrschaft einzelner über ihre Mitmenschen. Es ist bezeugt, daß das Problem der Einheit die Phantasie der Völker, ihrer Priester und Könige von früh an beschäftigte.
Nach dem Selbstverständnis ihrer Wissenschaft sagen die Geographen, «man’s world includes what can be perceived on or from the surface of the earth»[3], die Welt des Menschen umfaßt, was auf der oder von der Oberfläche der Erde aus wahrgenommen werden kann. Aus der Optik der frühen Völker ist diese Definition auf die ihnen jeweils bekannten oder als bekannt vorgestellten Teile der Erde zu relativieren. Größe und Grenzen der Erde oder auch nur eines Kontinents wurden in jenen Zeiten nicht anvisiert, geschweige denn abgetastet. Die frühen Vorstellungen von Welt bezogen sich nur auf die von den Zeitgenossen überblickten Räume, schlossen auch vermutete, vom Hörensagen bekannt gewordene Gebiete mit ein. Sie reichten darum bis zu den jeweils als solchen angenommenen «Enden» der Welt. Der Bitterfluß Marratu der babylonischen Weltkarte, der, wie der Okeanosfluß der Griechen, die Erdscheibe ringförmig umspülte, galt als räumliches Ende der Welt. Und die sogenannten Alexanderaltäre an dem in das Indus-Delta mündenden Hyphasis, die der große Feldherr zu Ehren des Gottes Okeanos und seiner Schwester-Gemahlin Thetis errichten ließ, wurden als Symbole für das östliche Ende der Ökumene angesehen, wie die «Säulen des Herakles» für das westliche. «Die Welt der Antike», resümiert Christian Lange, «war äußerst begrenzt»[4]. Das theatrum mundi der Odyssee reichte im Westen bis Sizilien, im Süden bis Ägypten, im Südosten bis Kleinasien und zur Levante und im Norden bis zu den Kimerern, die an der Nordküste des Schwarzen Meeres siedelten, auch wenn vom Hörensagen weitere Gebiete bekannt waren.
Einheit der Schöpfung: Mythen
Wichtiger als die Projektionen räumlicher Einheit sind die auf vorgeschichtliche Zeiten zurückgehenden Versuche, die Vielfalt der Erscheinungen auf einen mythisch-religiösen Ursprung oder Urgrund zurückzuführen. Der unübersehbaren Fülle von Schöpfungsmythen, Theo- und Kosmogonien ist gemein, daß sie, gleich wie sich der Schöpfungsvorgang darstellte, eine einheitliche Welt der Götter und Menschen hypostasierten. Der Mensch erhielt darin einen Platz, von dem aus er sich orientieren konnte. In vielen Kulturen wird über Anfang und Entstehung des Seins berichtet, dem das Chaos oder die Finsternis vorausgegangen bzw. aus denen die Formen des Seins aufgetaucht waren.
Für die Sumerer stellte sich der Beginn in dem aus dem Urwasser sich erhebenden Urhügel oder Weltberg dar; die Phönizier nahmen das Weltei als Ursprung, das bei den Orphikern als Silberei wiederkehrt. Australische, melanesische und indonesische, nord- und südamerikanische und nordasiatische Stämme bezeichneten den Weltbaum als aller Dinge Anfang, die Germanen die Weltesche, andere den Weltpfahl oder die sagenhaften Lianen, an denen die Schamanen den Himmel erklommen. In der indischen Mythologie wurde die Erde als Ganzes in der Form einer überdimensionalen Teeschale dargestellt, die auf den Rücken dreier Riesenelefanten ruhte, welche sich ihrerseits auf den Panzer einer gigantischen Schildkröte stützten. Auch die orphischen Mysterienreligionen begriffen die Welt als eine Einheit, in der ein unabänderliches Gesetz, der kosmische Kreislauf des Werdens und Vergehens herrschte, wie diese zwei Fragmentzeilen dartun:
«Eins ist Hades und Zeus und Helios und Dionysos,
Ein Gott wohl in allen»[1].
Auch der Mensch war in den Kreislauf der Erscheinungen durch die Seelenwanderungslehre einbezogen. In diesen Gleichnissen, sagenhaften Ausgestaltungen und Metaphern tat sich das Bemühen des Menschen kund, seine mannigfaltigen und disparaten Erfahrungen auf einen einzigen Grund zurückzuführen; damit wurde die Einheit dessen, dem der Mensch im Leben gegenüberstand, was er erfuhr und was ihm widerfuhr, mythologisch postuliert. Er «besetzt allmählich immer weitere Zonen des Planeten und ‹kosmisiert› sie nach dem Musterbeispiel, das der kosmogonische Mythos geoffenbart hat. Dank diesem Mythos wird auch der Mensch zu einem Schöpfer. Auf den ersten Blick wiederholt er nur immer wieder die gleiche archetypische Geste, in Wirklichkeit aber erobert er unermüdlich die Welt, er organisiert sie, er wandelt die natürliche Landschaft in einen kulturellen Lebensraum um. Hierin ruht das große Geheimnis des kosmogonischen Mythos: er treibt den Menschen dazu, zu erschaffen, er eröffnet seinem schöpferischen Geist ständig neue Perspektiven»[2].
Im gleichen Sinne wurden in der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Erscheinungen allgemeine Regelhaftigkeiten gesucht, die meist den Vorgängen in der Natur abgesehen wurden: Geburt, Wachstum, Verfall und Tod, Tag und Nacht, Jahreszeiten, Lauf der Himmelsgestirne. Entsprechend wurden Periodizitäten festgelegt als Kreislauf der Äonen, goldene, silberne, eherne Zeitalter oder im Tagesrhythmus zum Beispiel als Fahrt des Sonnengottes Ra über den Nil von Ost nach West nebst nächtlicher Rückkehr durch das Totenreich zum Ausgangspunkt. Von welcher Seite man die Vorstellungen der Frühzeit betrachtete: Das Weltall bildete ein Ganzes.
So großartig und bewundernswert der frühe geistige Aufbruch nun auch war, er stellte nur einen ersten Schritt dar. Die Idee der Einheit der Welt wurde in Chiffren ausgedrückt, mehr erahnt als exakt definiert oder konzeptuell erkannt. Die universalistischen Formulierungen waren nicht mehr als kühne Vorblicke. Der Mensch war noch nicht zu dem kosmologischen Frageansatz durchgedrungen, von dem aus die Welt als ein gedanklich geordnetes Ganzes verstanden werden konnte. Noch forschte niemand in systematischer Absicht nach ihrem Ursprung und den Weisen ihrer Entfaltung, unternahm keiner den Versuch, ihr inneres Wesen und ihre Sinnhaftigkeit ontologisch zu deuten oder ihr Telos, ihre Zweckbestimmung zu enträtseln. Die sumerischen Skribenten, die als erste die Mythen auf Tontafeln festhielten, die Schriftsteller und Dichter also priesen die Götter und ihre oft wunderbaren Taten, die als Wesen anderer Qualität genommen und nicht in Frage gestellt wurden. Sie suchten weder nach theoretischen Beweisen noch nach logischen Argumenten. Sie schrieben Geschichten auf, die auf die Phantasie ihrer Mitmenschen wirken sollten. Auch die späteren babylonischen Anstrengungen der Welterfassung entsprangen – trotz ihrer deskriptiv-chronikalischen Genauigkeit – nicht dem Geist der Rationalität. «Die erste Regel des westlichen Bewußtseins: ‹Erkenne dich selbst›, wäre für einen Mesopotamier...