«Est etiam sermo societatis humanae instrumentum.»
Juan Luis Vives (1492–1540)
Einleitung
Die Frage, wie die menschliche Sprache entstanden und wie es zu der kaum überschaubaren Sprachenvielfalt gekommen ist, hat seit frühesten Zeiten die Menschen beschäftigt. Welche Laute, Wörter, Äußerungen standen am Anfang? Wie ist es zu komplexen Sprachen mit einem vielfältigen Wortschatz und komplizierten grammatischen Strukturen gekommen? Nach welchen Bauplänen sind die Sprachen der Welt konstruiert? Was läßt sich über die Sprachen in Zeiten und in Regionen sagen, aus denen wir keine schriftlichen Hinterlassenschaften haben? Läßt sich eine Ursprache rekonstruieren für so große Sprachfamilien wie die indoeuropäische, zu der zwischen Westeuropa und Indien Hunderte von Sprachen gehören? Wie ist es zu dieser extremen Ausgliederung gekommen? Und was wird die Zukunft unserer Sprachenwelt sein? Werden die großen Sprachen immer weiter in Einzelsprachen zersplittern? Oder wird das Englische zur alles dominierenden globalen Supersprache?
Die vorliegende Weltgeschichte der Sprachen will Antworten auf solche Fragen geben. Aussagen über die Zukunft können freilich nur vorsichtige Prognosen sein, aber diese werden um so realistischer ausfallen, je besser man die lange Geschichte der Sprachen kennt. Diese Darstellung hat ihren Schwerpunkt auf dem Zeitraum von etwa 10.000 Jahren, in dem sich die großen Sprachfamilien und die derzeitige globale Sprachenvielfalt entwickelt haben; sie greift aber auch in die Frühzeit des Menschen zurück. Ein so weiter Überblick birgt Risiken. Zu vielen Entwicklungen, insbesondere sehr frühen, empirisch kaum faßbaren, gibt es unterschiedliche Theorien und Hypothesen; die wichtigsten werden in diesem Buch genannt, vor allem dann, wenn sich noch keine weitgehend einheitliche Meinung zu einer Frage herausgebildet hat. Der weite Überblick bietet aber auch Chancen, denn nur wenn man in evolutionsgeschichtlicher Perspektive die Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von verbaler Kommunikation begreift, kann man – so jedenfalls die Überzeugung, die diesem Buch zugrundeliegt – auch die Weltgeschichte der Sprachen nachvollziehen.
Die vorliegende Darstellung folgt chronologischen wie geographischen Entwicklungslinien: von den Anfängen der Sprachfähigkeit der Hominiden über die Ausbreitung menschlicher Populationen und ihrer Sprachen in die Alte und Neue Welt – aus Afrika in den Nahen Osten, von dort nach Europa und Südasien, sodann nach Australien und Neuguinea, in das östliche Sibirien und auf den amerikanischen Doppelkontinent, schließlich, erst im 10. Jahrhundert, nach Neuseeland –, über die Ausbildung der ältesten, rekonstruierbaren Zentren der heute bekannten Sprachfamilien – angefangen mit der nostratischen und eurasiatischen Superfamilie – bis zur Ausgliederung in regionale Zweige und Einzelsprachen, die unsere heutige Sprachenwelt ausmachen.
Es ist aber nicht möglich, die Entwicklung der rund 6400 Einzelsprachen der Welt flächendeckend in einem Band darzustellen. Allgemeine Trends werden zwar für alle Regionen erläutert; spezielle regionale Entwicklungen werden dagegen exemplarisch in verschiedenen Exkursen «unter die Lupe genommen», so die Verbreitung des Gotischen, die Ausgliederung des Lateinischen in die romanischen Sprachen, die Entstehung des Deutschen, die baltisch-ostseefinnischen Sprachkontakte, die Verbreitung der Turksprachen und der Bantusprachen, Sprachkontakte in Südostasien oder die Verbreitung der Sprachen in Ozeanien.
Was ist eine Sprache?
Über die Gesamtzahl aller Sprachen der Welt ist viel spekuliert worden. Schätzungen bewegen sich zwischen rund 2500 und 10.000 Sprachen. Beide Extremwerte sind unrealistisch. Nach neueren Erkenntnissen liegt die Zahl zwischen 6000 und 6500. Die Zahl der Sprachen zu bestimmen, ist jedoch mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Es besteht immer noch die Möglichkeit, daß bisher unbekannte Sprachen für die westliche Welt «entdeckt» werden. Zwar ist die große Zeit der Neuentdeckungen und Klassifizierungen längst vorbei – das war die Periode zwischen ca. 1750 und ca. 1950 –, aber in den unzugänglichen Bergtälern Papua-Neuguineas, in der Regenwaldzone des Amazonas-Gebiets oder im tropischen Westafrika dürfte auch heute noch die eine oder andere Sprache zu entdecken sein. Immerhin sind Neuentdeckungen bis in die jüngste Zeit gemacht worden. Manda, eine dravidische Sprache im indischen Bundestaat Orissa, wurde erst 1964 von westlichen Forschern entdeckt. Zu den Neuentdeckungen gehört auch das Suruí im brasilianischen Amazonasgebiet. Mit den damals rund 300 Sprechern dieser Indianersprache haben Weiße erst 1969 Kontakt aufgenommen (Derbyshire/Pullum 1986a: 14). Und erst Anfang der 1980er Jahre wurde das von rund 9000 Menschen gesprochene Jowulu im Süden Malis von europäischen Anthropologen «entdeckt».
Vor allem hängt die Zahl der Sprachen aber davon ab, was man unter einer Sprache versteht. Über das Verhältnis von Sprache und Dialekt sind bereits ganze Bibliotheken geschrieben worden, aber bis heute gibt es keine allgemein anerkannte Definition (siehe Auburger 1993 zur Geschichte der Definitionen von «Sprache»). In der älteren Sprachwissenschaft wurden beispielsweise das Chinesische, das Saamische (Lappische), das Eskimo und das moderne Quechua als jeweils eine Sprache gezählt. Seit einigen Jahren geht der Trend der Sprachklassifizierung jedoch dahin, der gegenseitigen Verständlichkeit von regionalen Sprachvarianten und regionalen Sonderentwicklungen mehr Bedeutung beizumessen. Dadurch erhöht sich die Zahl der eigenständigen Sprachformen deutlich. Allein das Saamische wird heute als Gruppe von zehn Einzelsprachen klassifiziert (Sammallahti 1998: 6ff.).
Will man Sprachen voneinander abgrenzen, denkt man meist an ihre unterschiedlichen lexikalischen und grammatischen Strukturen. Sprachtheoretiker gelangen auf diese Weise zu einer Definition von Sprache als Regelapparat, den wir Grammatik nennen. Dieser Regelapparat repräsentiert die Sprache, der wiederum Dialekte als Subsysteme untergeordnet sind. Solche rein formalen Kriterien lassen jedoch die kommunikative Funktion von Sprachen außer acht. Daher wird oft die Frage, ob sich Sprecher unterschiedlicher Dialekte bzw. Sprachen gegenseitig verstehen, zum weiteren Kriterium für die Abgrenzung von Sprachen gemacht.
Aber auch Verständnisbarrieren sind kein ausreichendes Kriterium, um von einer anderen Sprache und nicht nur von einem Dialekt zu sprechen, wenn es eine gemeinsame schriftsprachliche Variante gibt. Für das Bairische und das Sächsische etwa existiert eine gemeinsame Standardsprache. Obwohl viele Sachsen Schwierigkeiten haben, Bairisch zu verstehen, handelt es sich nicht um unterschiedliche Sprachen. Aus dem gleichen Grund werden Schwyzertütsch oder das österreichische Deutsch nicht als unabhängige Sprachen vom Deutschen getrennt. Dahinter steht ein – in diesem Falle staatlich übergreifender – sprachpolitischer Konsens. Wenn der wegfiele, würde das gemeinsame Dach der Schriftsprache kaum ausreichen und wir hätten es mit mehreren Sprachen zu tun. In Lappland dagegen führt das Fehlen einer gemeinsamen Standardsprache verbunden mit Kommunikationsbarrieren zwischen den regionalen Schriftsprachen trotz ähnlicher struktureller Differenzen wie zwischen deutschen Dialekten dazu, daß mehrere regionale Sprachen des Saamischen unterschieden werden.
Angesichts solcher Stolpersteine lassen sich Sprachen nicht allgemeingültig definieren. Pragmatisch könnte man von einer eigenen Sprache sprechen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (1) Es muß sich um ein System von Lauten, grammatischen Formen und Wörtern handeln, das sich strukturell von anderen Systemen unterscheidet; (2) dieses System muß als multifunktionales Kommunikationsmittel sowie als kulturelles Identitätssymbol verwendet werden; (3) und es muß sich von anderen Sprachen durch Verständlichkeitsbarrieren ihrer Sprecher absetzen. (4) Schließlich darf es keine abweichende Schriftform einer Standardsprache geben. Die Ausprägung einer eigenen Schriftform ist zwar keine Voraussetzung für die Bezeichnung als Sprache, denn es gibt viele schriftlose Sprachen, wohl aber eine markante Eigenschaft von Sprachen.
Dieser pragmatischen Definition zufolge ist das Deutsche eine eigene Sprache, da es sich strukturell beispielsweise vom Französischen unterscheidet, und für die Sprecher von Nachbarsprachen nicht verständlich ist, sofern diese nicht Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache erlernen. Das Deutsche ist zudem der Motor für die Ausgestaltung einer deutschen Kultur, die entscheidend durch die deutsche Schriftsprache geprägt ist. Die Sprecher des Deutschen identifizieren sich als Mitglieder der deutschen Sprachgemeinschaft, die ihnen einen sprachspezifischen Freiraum für die Kommunikation bietet. Was hier über das Deutsche gesagt worden ist, gilt ähnlich für die Identifizierung aller anderen Sprachen dieser Welt, unabhängig davon, ob sie viele oder wenige Sprecher haben, ob sie schriftlos sind oder geschrieben werden, oder in wie vielen Ländern sie verwendet werden.
Bei sehr weit verbreiteten Sprachen stellt sich die Frage der Abgrenzung auch im Hinblick auf ihre verschiedenen...