Fünfzehn
In Namche-Nebeln
Ich bin da, bin in Namche angekommen. Mein Wille jubelt über diese Ankunft. Meinen brennenden Lungen steht der Sinn nach mehr Luft. Meine Haut will eine heiße Dusche, mein Kopf ein Stück Käsekuchen aus der deutschen Bäckerei. Ich habe vorübergehend das Gefühl, meine Höhenkrankheit irgendwo unterhalb von Namche abgeschüttelt zu haben. Ich bin froh. Meine Stimmung schwankt zwischen feierlicher Zufriedenheit, Unruhe und Ermüdung.
Namche ist voller Nebel. Was ich erkennen kann, sind Steinhäuser, die roten, grünen und blauen Dächer der Lodges, qualmende Schornsteine, Läden, Bäckereien, Pubs, Internetcafés. Die Lodges haben Namen wie Hill-Ten Hotel, Panorama Lodge oder Everest View Hotel. Die Kulisse ist mittelalterlich, das Leben westlich geprägt. Es dämmert. Ich stapfe runter in den Irish-Pub. Sherpas trinken Bier und spielen Billard, Musik von Abba und Coldplay. Dann kommt Radiohead, The Tourist: »Hey man slow down, slow down / Idiot slow down, slow down.« Hier klingt der Song wie ein Warnschild, wie eine Hymne für bergunerprobte Wandertouristen. Ich hätte mir noch Morrissey gewünscht: »Die Natur ist eine Sprache, kannst du nicht lesen?«
Eine junge Frau, mit Rock und Schürze traditionell wie eine Sherpani gekleidet, steht hinter dem Tresen. Sie hat große, mandelförmige Augen und hohe Wangenknochen, ein Muttermal auf ihrer bronzescheinenden Haut blitzt über der Oberlippe. Langes schwarzes Haar schimmert, wohl weil sie es mit Butter einreibt. Sie ist hübsch, geheimnisvoll. Ich setze mich an die Bar und sehe dem Mädchen zu. Sie schaut doch noch zu mir herüber, schenkt mir ein Lächeln. Dann kehre ich zur Lodge zurück. Bin betrunken – von der Höhenluft und der Freude. Nebel vor meinem Fenster, das Mondlicht. Ich ziehe meine Wanderstiefel aus und schlüpfe todmüde mit Klamotten in meinen Schlafsack, den ich bis über den Kopf ziehe. Diese Kälte. Das dauernde Denken. Ich brenne darauf, die höchsten Berge zu sehen.
Den nächsten Tag streife ich durch Namche. Ich entscheide, noch zu bleiben, um mich weiter an die Höhe zu gewöhnen. Mein Körper muss mehr rote Blutkörperchen bilden, mehr Sauerstoff binden. Meine Reisegefährten, die die Höhe besser vertragen, steigen weiter auf nach Khumjung. Ich hocke vor dem Ofen der Lodge, blicke hinaus, Milliarden Gedanken prasseln ans Fenster. Unter mir der Namche-Nebel. Ich erreichte diesen Ort, weil ich meinem eigenen Tempo folgte, weil ich acht gab auf meinen Atem. Ein Gedanke schlägt Wurzeln: Gilt das nicht auch, wenn ich ein freies, reiches, zufriedenes, ja, ein friedliches Leben führen will? Ist Eile nicht Verschwendung? Hier oben, während ich über den Wolken wandere, kann ich nur lernen. Über die Berge, die Wildnis und den Zustand der Welt. Über mein Innenleben. Ob ich eines besitze. Nur mein Rhythmus zählt, das lerne ich auf dem Weg. Tempo runterdrosseln, immer eine Sache zur Zeit, mit allen Sinnen. Momentan heißt das: einen Schritt vor den anderen setzen. Ich lerne das Leben neu. Rilke wanderte und wusste: »Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war.« Der steile Weg, tausend Schritte Qual. Ich möchte weiterhin jeden Schmerz skippen – minimaler Schmerz, maximales Glück. Doch die Jagd nach einem ewig besseren Zustand, die habe ich aufgegeben. Alles gehört dazu. Zu einem reichen Leben. Man muss nur die Verbindung, das Verwandte sehen. Wahlverwandtschaften schließen. Laufe ich davon? Nein, im Gegenteil. Ich laufe in mein Leben hinein. Ich laufe mir entgegen. Hier oben gibt es nichts. Nur die Schönheit. Sie ist Sehenswürdigkeit, Glück. Und dann habe ich noch eine Hintertür für jene Zustände, die zu ertragen, die auszuhalten sind: Ich schreibe jeden Tag in mein Tagebuch.
Am vierten Morgen warmer Porridge und ein Omelett. Und auch die Nacht scheint mir wieder etwas Kraft eingehaucht zu haben. Wolken verdunkeln den Tag. Ich trete aus der Lodge hinaus, in eine kalte Morgenluft. In meiner Nase brennt jeder Atemzug. Die ersten Schritte sind unsicher. Als würde ich gerade erst das Laufen lernen. Markttag in Namche. Weil die Natur hier oben kaum Dinge hergibt, werden sie herbeigeschafft. Ich wanke hinunter auf eine der weiten Terrassen, wo die Händler warten.
Die Händler kommen aus Tibet. Sie tragen bunte Wollmützen auf den Köpfen und Fleece- oder Daunenjacken, um doch irgendwie der Kälte zu trotzen. In der einen Hand eine braune »Mala«, eine rosenkranzähnliche Gebetskette, in der anderen Rupien. Die Finger sind von einer schwarzen Dreckkruste ummantelt, man müsste mehrere Schichten abtragen. Zwei Männer bei der Begrüßung: Sie verschränken die Arme vor der Brust, verbeugen sich, bis sie sich mit der Stirn berühren. Zeichen tiefen Respekts nach einer langen Abwesenheit. Die Händler liegen lässig auf dem Boden oder hocken hinter ihren Waren. Um die Waren in Namche loszuschlagen, überqueren die tibetischen Händler zu Fuß den fast 6000 Meter hohen Nangpa-La-Pass. Teppiche, Tierhäute und gefälschte Markenschuhe liegen auf Planen und unter provisorischen Zeltdächern aus. Händler fragen, was ich kaufen will. »Ich schaue nur«, antworte ich, weil ich nichts brauche, mein Leib nicht mehr Gewicht schultern kann. Ich jede Kraft für nichts brauche. Weil meine Seele nicht mehr Gerümpel will. Weil mir gerade Landschaften Besitz genug sind. Das Comeback der Einfachheit. Die Händler verstehen mich nicht, für sie hat die Zusammenkunft auf dem Markt immer einen Zweck.
Ein Händler pfeift auf den Fingern. Er ruft ein Yak. Als es noch keine The-North-Face-Jacken und Nike-Schuhe waren, da zogen die Salz- und Getreide-Karawanen Hunderte Kilometer über die himmelhohen Pässe zwischen Tibet und Nepal. Weil der Boden zu karg ist, sind Sherpas und Tibeter auch weiterhin auf einen Tauschhandel angewiesen, um das Überleben zu sichern, vor allem Kartoffeln und Gerste sind wertvolle Güter. Die Händler schaffen die Waren mithilfe der Yaks über die Pässe, denn nur diese Tiere sind so kräftig, dass sie die Lasten in höchsten Höhen tragen und den reißenden Kräften der Flüsse entlang des Weges standhalten können.
Nuri läuft vor mir, der Weg führt hoch zum alten Flugplatz von Namche. Wir setzen uns auf einen Vorsprung und blicken auf die winzigen bunten Dächer herunter. Nuri ist einer der älteren Sherpas. Immer trägt er seinen gelben Anorak, der eine Nummer zu groß geraten scheint, und eine graue Stoffhose. Auf seinem Rücken die Last meines großen Rucksacks. Sein weicher Blick kommt aus mandelförmigen Augen. Nuri ist zäh, immer gelassen, nie jammert er, nie scheint seine Kraft oder Ausdauer zu versiegen. Ich bewundere die geistige und körperliche Kraft für so ein Leben. »Auf den Gipfeln wohnen unsere Götter«, sagt Nuri, und in seinen Augen kann man die Götter sehen. Die Berge und das Gebet, für Nuri ist es eins. »In beiden finde ich Frieden.« Ein Sherpa steigt selten auf einen Gipfel. Zu groß der Respekt, zu innig die Verehrung ihrer Gottheiten. Wenn sie einen Gipfel besteigen, dann aus Vergnügen, um zu opfern oder zu beten. Denn nah sein müsse man den Göttern, sonst könne die Seele nicht sehen. Aber die Höhe eines Berges als herausforderndes, ruhmreiches Abenteuer? Die ständigen Handelsreisen, immer wieder Yaks über die gewaltigen Pässe treiben, das sei mühsam genug. Nuri zwinkert mir zu.
»Unser Leben hat sich verändert«, sagt Nuri und holt sein Motorola-Handy aus der Hosentasche, um mit seiner Frau zu telefonieren. Mit den Bergsteiger-Expeditionen machen sich viele Sherpas heute unabhängiger vom Ackerbau und dem unsicheren Handel mit Tibet. Viele besteigen nun gegen Geld die höchsten Gipfel, als Expeditionsgefährten. Was die Bergsteiger aus dem Westen auf die Berge ihrer Götter treibt, das kann Nuri allerdings nicht verstehen. Ein Aufstieg ist in seinen Augen zu riskant, ohne Sinn – zu nah bei Shiva und den anderen.
Das alte Leben der Sherpas ist in Namche kaum noch zu erkennen. Dieser Ort war undenkbar, bevor Bergsteiger aus dem Westen diese Welt betraten, weil sie den Mount Everest zu ihrem heiligen Berg erklärten. Namche ist ein dritter Pol, ein Außenposten westlicher Bergkolonialisation.
Im Himalaja wehen zwei Lüfte: Sherpa-Luft und westliche Luft. Während Nuri Lieder pfeift und Gebete spricht, keuche ich und ringe nach Atem. Muss mich auf jeden Schritt konzentrieren, darauf, langsam zu laufen und auf jede Stufe bewusst fest aufzutreten. Erst als wir oben auf dem Plateau angekommen sind, der Landepiste des Flugplatzes, habe ich wieder Gelegenheit, die Umgebung wahrzunehmen. Die Aussicht auf Namche ist prächtig. Wie dieses Dorf in den Berg gehauen wurde. Schnee beginnt zu rieseln, frostig ist die Luft. Ich ziehe die Kapuze meiner Daunenjacke über den Kopf. Dann klopft mir Nuri auf die Schulter, ruft etwas und wirft einen Finger in die Luft. Nuri leuchtet jetzt. Sein Sherpa-Land, seine Berge. Eine Flut Blau, plötzlich kommt sie, bricht durch die Wolken, die von den Gipfeln weggerissen werden. Licht. Blendend. Ich blicke nach Osten und sehe das erste Mal in meinem Leben einen Sechstausender-Gipfel. Der Thamserku, »Das goldene Tor«, 6608 Meter hoch. Mit einem Stock ziehe ich Striche in den Schnee:
Morning glory,
the clouds are melting
on the mighty...