Einleitung
Die Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 1954 begann für die deutsche Mannschaft ganz unspektakulär. Am 11. Juni, sechs Tage vor dem ersten Spiel gegen die Türkei, reiste sie mit dem Zug von Karlsruhe in die Schweiz. Auf den Bahnhöfen, so in Freiburg, versammelten sich einige Fans, die alles Gute wünschten, und in Basel fand ein herzlicher Empfang statt. Doch von einem Weltmeisterschaftsfieber, einer allgemeinen Begeisterung oder einer ausufernden Berichterstattung in den Medien kann keine Rede sein. Das gilt auch für die Schweiz, wo das Interesse an dem bevorstehenden Turnier erst allmählich zunahm. Andere Ereignisse fanden größere Aufmerksamkeit, so der gerade stattfindende Giro d’Italia, den der Schweizer Carlo Clerici anführte und zwei Tage später gewinnen sollte, die Debatte um das Frauenstimmrecht oder der am 20. Juni bevorstehende Volksentscheid über den Befähigungsnachweis im Handwerk.
Entsprechend ruhig setzte die deutsche Delegation, zu der gerade einmal zweiundzwanzig Spieler, ihr Trainer Sepp Herberger und weitere sechs Begleiter gehörten, die Reise fort. Per Bus ging es nach Bern, um das Wankdorfstadion in Augenschein zu nehmen, da dort das Spiel gegen die Türkei angesetzt war. Anschließend fuhr die Mannschaft weiter und traf spät am Abend im Hotel Belvedere in Spiez ein, einem kleinen Ort am Thuner See im Berner Oberland. Das Hotel, das Reporter als ›behaglich eingerichtet‹ beschrieben, gehörte dem Verband der Schweizer Metzgermeister.
Im Souterrain befand sich eine Fachschule, gleich nebenan ein Schulgarten mit feinen Gemüsen und Salaten. Ansonsten gab es wenig Aufregendes zu vermerken. Das Hotel lag in einem großen Park, umgeben von weiten Wiesen und einige Schritte vom See entfernt. Dort befand sich ein Badestrand und – wichtiger für Herberger – ein stiller Uferweg für das Konditionstraining. Die Mannschaft war in einem Idyll angekommen. Genau deshalb hatte Albert Sing, ein ehemaliger Nationalspieler, das Hotel in Absprache mit dem Bundestrainer ausgesucht. Für die drei Wochen der Weltmeisterschaft sollte die Mannschaft von allem Trubel ferngehalten werden, sich in Ruhe auf die Spiele vorbereiten und vor der ersten Begegnung noch ein hartes Training absolvieren, um den Strapazen des bevorstehenden Turniers gewachsen zu sein.
Diese Erwartung ging weitgehend auf, wenngleich sich bereits am Samstag erste Reisebusse mit deutschen Touristen vor dem Hotel einfanden, um die Mannschaft zu sehen und Autogramme zu erhalten. Ihre Zahl hielt sich jedoch in Grenzen, ebenso wie die der begleitenden Journalisten. Auch Fan-Post ging kaum ein. Einer der wenigen Briefe, die Herberger in den ersten Tagen erhielt, kam aus Templin in der DDR, ein kleiner Ort im Landkreis Uckermark, nordöstlich von Berlin. Abgeschickt hatte ihn ein fünfzehnjähriger Jugendlicher, der ebenso wie sein Vater ein begeisterter Fußballanhänger war. Der Vater verbüßte eine langjährige Freiheitsstrafe in der berüchtigten Haftanstalt Bautzen und hatte beim letzten Besuch »sehnsüchtig nach den Aussichten unserer N.-Elf in der Schweiz gefragt«. Auch in seinem Namen äußerte der Sohn eine große Bitte: »Können Sie mir, Herr Herberger, von der Weltmeisterschaft eine Karte von Ihnen und den Spielern unterschrieben senden.« Er wisse bestimmt nicht, »welche Freude damit viele Kilometer entfernt, nicht weit von der Oder entfacht wird«.1 Als die Karte einige Wochen später eintraf, war die Freude kaum noch zu bremsen, denn in der Zwischenzeit war etwas ganz Unerwartetes passiert: Die deutsche Mannschaft war Weltmeister geworden.
Hotel Belvedere in Spiez
Die geringe Fanpost und die große Ruhe in Spiez dürfen keinen falschen Eindruck erwecken. Fußball war zur Zeit der Weltmeisterschaft die bei weitem populärste Sportart in Deutschland, und nicht nur der Verfasser des gerade genannten Briefes fieberte der Weltmeisterschaft entgegen. Das tat vielmehr ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung, die vielfach selbst Fußball spielte, als Zuschauer Woche für Woche in die Stadien strömte, die Sportseiten las und sich bei jeder passenden – wie auch unpassenden – Gelegenheit über den Fußball, seine Stars, die letzten Spiele und die bevorstehenden Begegnungen unterhielt. Doch daneben gab es zahlreiche andere Personen, vielleicht sogar eine Mehrheit – nicht nur unter Frauen –, die sich dafür überhaupt nicht interessierten oder Fußball sogar entschieden ablehnten.
Das sollte sich im Verlaufe der Weltmeisterschaft grundlegend ändern. Mit den Erfolgen der Mannschaft nahm das Interesse in Deutschland sprunghaft zu und erreichte beim Endspiel ein Ausmaß, das es bis dahin noch nicht gegeben hatte, weder im Sport noch bei einem anderen Anlass. Am Nachmittag des Endspiels waren beide Teile Deutschlands wie ausgestorben, nahezu die gesamte Bevölkerung hatte sich um Radioapparate geschart, um die Übertragung zu hören, einige Privilegierte auch um die etwa 30–40.000 Fernsehapparate, die damals vorwiegend in Wirtshäusern und Schaufenstern standen.2 Gebannt lauschten nicht nur die Fußball-Begeisterten, die ansonsten die Stadien bevölkerten. Ebenso angespannt waren auch die Personen, die sich bis dahin für diesen Sport nicht interessiert hatten und kaum wussten, worum es dabei eigentlich ging. An diesem Tag wussten sie es: Es ging um das Endspiel der Weltmeisterschaft, um Ungarn gegen Deutschland, um einen haushohen Favoriten gegen einen krassen Außenseiter.
Das Ergebnis kam völlig überraschend. Deutschland gewann 3 : 2. Nicht nur hatte der Außenseiter gewonnen; er hatte zudem einen 2 : 0 Rückstand wettgemacht. Das war bis dahin bei keinem Endspiel einer Weltmeisterschaft geschehen und sollte auch später keiner anderen Mannschaft wieder gelingen. Entsprechend groß waren die Dramatik des Spiels und die Begeisterung, die unmittelbar nach dem Schlusspfiff und in den nächsten Tagen herrschte. Am Montag nach dem Spiel kehrte die Mannschaft – erneut mit dem Zug – aus der Schweiz nach Deutschland zurück. Als sie die Grenze überquerte, schien die Welt Kopf zu stehen: Die Bahnhöfe waren völlig überfüllt, an den Wegstrecken standen Hunderttausende, bloß um die Spieler zu sehen, ihnen zuzuwinken oder Geschenke zu überreichen, darunter Kuchen und frisch geschmierte Brote. In München, wo die offizielle Begrüßung stattfand, säumten etwa 300.000 die Straßen.
Ebenso groß war die Begeisterung, als die Spieler in den kommenden Tagen in ihre Heimatorte zurückkehrten und Ende des Monats zuerst in Berlin vom Bundespräsidenten sowie anschließend in Bonn von der Regierung geehrt wurden. Schon den Zeitgenossen war klar, dass etwas Außergewöhnliches geschehen war und dass es hierbei nicht nur um ein Fußballspiel ging. Dieses war in Bern überaus dramatisch verlaufen und hatte ein überraschendes Ergebnis gefunden. Es ist deshalb leicht zu erklären, warum die Anhänger dieses Sports so begeistert waren und mit ihrer Begeisterung auch andere ansteckten. Doch warum ließen sich so viele, ja fast alle mitreißen? Warum haben Hunderttausende die Spieler begrüßt, und dies ganz aus eigenem Antrieb, ohne dass jemand dazu aufgerufen oder den Empfang organisiert hatte? Was hatte das Endspiel ausgelöst, warum konnte es derartige Emotionen freisetzen? Fand Anfang Juli 1954, wie es später hieß, die dritte Gründung der Bundesrepublik statt, nach der Währungsreform 1948 und der Verabschiedung des Grundgesetzes im Mai 1949? Vielleicht waren die Tage nach dem Titelgewinn für viele Deutsche sogar die eigentliche Gründung des neuen Staates. Denn die Währungsreform hatte zu vollen Schaufenstern geführt, war aber von oben auf Anregung der westlichen Alliierten verkündet worden und ging der Gründung des neuen Staates voraus, während die Verabschiedung des Grundgesetzes ein wichtiges Ereignis markierte und als feierlicher Staatsakt begangen wurde, aber keine Emotionen auslöste. Die Ereignisse im Juli 1954 hingegen sprachen die Gefühle an. Sie lösten ein Gemeinschaftsgefühl aus und gelten als »Gründungsakt einer nationalen Identität«3, als »mentaler Gründungsmoment«4 der noch jungen Bundesrepublik.
Empfang der Mannschaft nach dem Endspiel auf dem Marienplatz in München, 6. Juli 1954
Diese Bezeichnungen klingen plausibel, sind jedoch zu sehr aus der Distanz formuliert. Die ungewöhnlichen Ereignisse vom Juli 1954, die damals freigesetzten Gefühle und die Mischung von Freude und Unsicherheit erfassen sie nur teilweise. Denn die Begeisterung und das Gemeinschaftsgefühl wirkten nicht nur ansteckend, sondern auch beunruhigend und warfen viele Fragen auf: Welche nationale Identität wurde hier deutlich? War in der allgemeinen Begeisterung ein neuer Nationalismus zu erkennen, der sich nach dem Krieg aus vielen Gründen öffentlich nicht äußern konnte und hier das lange ersehnte Ventil fand? Der dänischen Zeitung Information zufolge überlief es...