Kultur digital
Tradieren und Produzieren unter neuen Vorzeichen
Gertraud Koch
Einleitung
Digitale Technologien haben in einem kulturgeschichtlich relativ kurzen Zeitraum von circa einem halben Jahrhundert Niederschlag in allen Lebensbereichen gefunden und diese schon jetzt erheblich verändert, wobei die Entwicklungen alles andere als abgeschlossen sind. Die damit verbundenen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen werden häufig als epochal empfunden. Denn immer wenn neue Medien aufkommen, ändern sich damit auch die Mittel, mit denen Kultur produziert und überliefert werden kann. Im historischen Rückblick stellt sich das sehr plausibel dar, wenn wir auf bahnbrechende neue Technologien wie Buchdruck, Telegrafie, Fotografie und Film, Radio und Fernsehen zurückblicken – um hier nur einige zu nennen. Das Repertoire an Möglichkeiten, Kultur auszudrücken und neu zu schaffen ist mit den Medienentwicklungen stetig erweitert worden. Folgt man Kaspar Maases kulturhistorischer Untersuchung zur Entwicklung der Massenkünste1 so hat unsere Beschäftigung mit künstlerischen und kulturellen Ausdrucksformen einen Anteil in unserem Lebensalltag wie nie zuvor. Die Voraussetzung für diese Verbreitung populärer Künste ist erst mit der medialen Entwicklung entstanden.2
Wenn neue Medien sich verbreitet haben, so wie das heute mit der Digitalisierung der Fall ist, haben sich auch die „alten Medien“ verändert, weil sich das Gefüge an Vermittlungsformen immer wieder neu ordnen musste. Das was wir heute an Umwälzungen auf dem Buch-, dem Zeitungs- beziehungsweise Zeitschriftenmarkt erleben, was wir an Veränderungen im Bereich der Fotografie- und Filmkunst und nicht zuletzt auch in den Archiven und Museen erleben, stellt sich in medienhistorischer Perspektive als ein üblicher, vielfach durchlebter Prozess der Reorganisation dar. „Alte“ Medien und die damit verbundenen kulturellen Vermittlungsmöglichkeiten erfahren im Lichte der anderen medialen Möglichkeiten eine Neubewertung. Ihre spezifischen Qualitäten müssen sich neu und als immer noch relevant bewähren. Die Medienwissenschaftler Boulter und Grusin haben diese als „Remediation“3 bezeichnet. Dies löst einen homologen Prozess für die Kultur beziehungsweise das kulturelle Produzieren aus. Mit dem veränderten Repertoire an Ausdrucks-, Speicher- und Kommunikationsmöglichkeiten können und müssen sich auch kulturelle Ausdrucksformen neu erfinden und in dieses erweiterte Repertoire an Vermittlungsmöglichkeiten hinein übersetzen. Das Archiv und das Museum, beides Orte der Aufbewahrung und Vermittlung von kulturellem Wissen, sind in diesem Sinne hervorragende Anschauungsbeispiele dafür, wie sich mit der Digitalisierung die Bedingungen des Tradierens, Vermittelns und auch kulturellen Produzierens verändern. Das wissen wir nicht erst seit heute, das ist ein Prozess der schon seit längerem sichtbar ist, der inzwischen aber immer präziser auch in seinen Herausforderungen und Aufgaben beschreibbar wird.
Die folgenden Betrachtungen dieser Veränderungsprozesse gliedern sich in zwei Teile. Im ersten Teil werde ich mich auf das Tradieren konzentrieren, so wie es sich im Zeichen der Digitalisierung als Aufgabe in Archiven und Sammlungen stellt.4 Kulturelle Objektivationen, die ursprünglich analog entstanden sind, Filme auf Celluloid, Musik auf Tonbändern, Fotos, Dias, Schriftstücke und anderes. werden in vielen Projekten und mit enormem Ressourceneinsatz zu Digitalisaten, damit „das Erbe in die Wolke“ geholt werden kann, hier über digitale Medien weiter zugänglich bleibt oder teils auch erst wird. Dieses Versprechen der verbesserten Verfügbar- und Zugänglichkeit ist sehr zugkräftig, aber mit vielen Herausforderungen verbunden. Nur in dem Maße, wie man sich auf die Logik des Digitalen auch einlässt, wird die schöne Vision von den Archiven als kulturellem Gedächtnis und als Speicher von Wissen auch wahr werden können.5 An diesen Ideen des kulturellen Gedächtnisses und des Speichers von Wissen möchte ich festhalten, zumindest als Leitvisionen, auch wenn die Position des Hamburger Historikers Markus Friedrich sicher zutrifft, dass Archive primär Speicher von Informationen sind, aus denen dann Wissen erzeugt werden kann.6 Gibt man die Idee, des Wissensspeichers aber gänzlich auf, dann ist man schnell bei der Schattenseite der Archive als wenig genutzte Informationshalden. Eine Gefahr, die sehr real ist wenn, wie dies vielfach erfolgt, eine vollständige und umfassende Erfassung aller Bestände angestrebt wird und die Umsetzung dann primär unter pragmatischen Gesichtspunkten geschieht. Diese richtet sich an aktuell erreichbaren Ressourcen und weniger an konzeptuellen Überlegungen aus und fragt nicht mehr, welche inhaltlich-konzeptuellen Priorisierungen sinnvoll sind und wie die heute festgelegten Strukturen digitaler Archive und Sammlungen dann noch für zukünftige Erkenntnisinteressen und Wissensabsichten offen sein können.7
Im zweiten Teil wird dann das kulturelle Produzieren thematisiert, wie es sich in der digitalen Welt darstellt, also die Bereiche, die mit den Schlagworten „Heritage 2.0“ oder auch „born digital“ bezeichnet werden können.8 Begriffe, die immer häufiger zu hören sind, ohne dass sie dann entsprechend auch ausbuchstabiert werden. Hier wird der Beitrag etwas in die Zukunft schauen, nicht sehr weit und nicht mit dem Ziel große Entwürfe zu skizzieren, aber doch so weit wie sich aktuell schon Entwicklungen abzeichnen und Fragen aufwerfen. Denn wie eingangs festgestellt, haben sich mit „dem Digitalen“ auch die Möglichkeiten des kulturellen Produzierens verändert. Alltagsdinge und gegenwärtige kulturelle Artikulationen sind heute vielfach bereits „born digital“ und haben damit auch neue Merkmale und Qualitäten. Sie haben dann beispielsweise ein sogenanntes „interface“, also eine Oberfläche mit der die digitalen Objekte bedient werden können.9 Die Institutionen und Wissenschaften, die sich mit Kultur im weitesten Sinne befassen werden somit nicht umhin kommen, sich mit neuen Entwicklungen im Digitalen auseinanderzusetzen, wollen sie die Veränderungen des kulturellen Produzierens auch angemessen in ihrer Arbeit aufgreifen. In die Zukunft gedacht werden diese Veränderungen nicht ohne Konsequenzen für das Sammeln, Archivieren und Tradieren bleiben, denn kulturelle Ausdrucksformen und Kultur insgesamt verändern sich mit diesen neuen Medien, wie wir aktuell an den Beiträgen in den sozialen Medien beobachten können.
Tradieren
Wenn hier von Tradieren die Rede ist, so geht es um die allgemeine kulturelle Praxis, welche in Archiven und Sammlungen spezifische Formen findet, die häufig die gerade nicht mehr aktuell praktizierten Ausdrucksformen, Artefakte, Texte, Ton-, Bild- und Filmaufzeichnungen beinhalten und damit einen Teil eines kulturellen Gedächtnisses darstellen. Solange die kulturellen Traditionen noch lebendig sind, sind sie selbstverständlich und zwangsläufig über viele Medien verteilt und werden durch diese vermittelt. Sie werden auf vielen „Kanälen“ verbreitet und praktiziert, wobei gerade auch nicht-technische, direkte, angesichtige und performative Medienformen eine wichtige Rolle spielen, die dann später wiederum entsprechend schwieriger in die Archive und Sammlungen zu bringen sind. Performative Aspekte des Wissens lassen sich vergleichsweise schlechter bewahren und vermitteln, weil sie an Erfahrung und Körper gebunden sind.10
Das kulturelle Gedächtnis hängt zentral von den zur Verfügung stehenden Speichermedien ab, es hat gegenwärtig in den westlichen Gesellschaften einen enormen Umfang angenommen. Wer nun hofft, dass mit der Digitalität die Kapazitäten des Archivierens und Sammelns unbegrenzt geworden sind, wird sich allerdings enttäuscht sehen, denn auch hier gibt es Grenzen in der Speicherkapazität. Es wird insofern notwendig sein auszuwählen, was bewahrt werden soll und das bedeutet im Kontext von Archiven und Sammlungen zugleich, die Idee eines Wissensspeichers nicht gänzlich aufgeben zu können, um nicht mit Datensilos zu enden. Im Sinne eines kulturellen Gedächtnisses wird es also immer wieder neu darum gehen, die lagernden und über bestimmte Zeiträume unbeachteten Wissensschätze zu heben und in neuem Lichte zu betrachten, vielleicht auch nutzbar zu machen. Insofern ist hier von besonderem Interesse, wie wir das, was wir in Archiven und Sammlungen gesammelt haben, nun doch ein Stück weit als Wissensspeicher konzipieren können. Das ergibt sich nicht automatisch und bringt auch die Schwierigkeit mit sich, dass wir die Fragen und Perspektiven der Zukunft noch nicht kennen.
Die Überlegungen in diesem Bereich zum Tradieren sind ganz wesentlich aus einem fruchtbaren Arbeitskontext an der Universität Hamburg im Bereich der Digital Humanities, digitale Geisteswissenschaften hervorgegangen. Es wird hierbei...