Einleitung
Prüft jedoch alles und behaltet das Gute!
1. Thessalonicher 5:21
In dem Science-Fiction-Spektakel Matrix muss der von Keanu Reeves verkörperte Protagonist Neo erleben, wie seine gesamte bisherige Welt zusammenbricht und er in einer Welt erwacht, wie er sie sich in seinen düstersten Albträumen nicht vorgestellt hatte. In einer postapokalyptischen Landschaft herrschen die Maschinen. Für ihren eigenen Energiebedarf bauen sie Menschen an, die sie in Millionen Flüssigkeitsbehältern halten. Die unbeweglichen Körper sind über Kabel mit einem System, der »Matrix«, verbunden, das ihnen eine virtuelle Realität vorspielt. Der Moment, in dem die Hauptperson Neo erwacht und zum ersten Mal diese Welt erblickt, ist einer der beeindruckendsten Momente der jüngeren Filmgeschichte.
Eine geschickt aufgebaute Handlung führt zu diesem Moment. Immer wieder erlebt Neo in seiner Welt – seiner Traumwelt, wie sich herausstellt – Inkonsistenzen. Manche Begebenheiten passen einfach nicht. Schließlich wird er von Morpheus, dem Anführer des Widerstandes gegen die Maschinen, vor die Wahl gestellt:
Dies ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Wenn du die blaue Pille nimmst, endet diese Geschichte. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst, was du glauben willst. Wenn du die rote Pille nimmst, bleibst du im Wunderland und ich zeige dir, wie tief das Kaninchenloch wirklich ist. Denk daran: Ich biete nur die Wahrheit an. Nicht mehr.
Ich bin nicht der Erste, der die Szene von der blauen und der roten Pille zitiert. Im vorliegenden Buch werde ich sehr unangenehme Themen ansprechen und sehr unbequeme Erklärungen anbieten. Einige von Ihnen werden vielleicht denken: »Das kann doch nicht wahr sein!« Vielleicht sogar: »Das kann nicht wahr sein, weil es nicht wahr sein darf.« Manche von Ihnen werden das Buch vielleicht aus der Hand legen, weil es ihnen zu unangenehm ist.
Machen wir uns nichts vor: Die meisten Menschen ziehen es vor, in ihrer Matrix zu leben, und zwar egal, ob die »echte« Welt ein Albtraum oder ob sie eigentlich ganz nett ist. Seit Platon wissen wir, dass die Welt, die wir wahrnehmen, eine Projektion unseres Gehirns ist. Neurowissenschaftler, Anthropologen und Soziobiologen wissen mittlerweile recht gut, wie sich unser Denken entwickelt hat und wie es funktioniert: lückenhaft und selektiv, oft vorschnell und emotional sowie am Gruppenkonsens orientiert.1 Echtes Denken ist selten. Und anstrengend. Deswegen gibt es zum Beispiel in der Finanzwelt so wenige gute Investoren und so viele Schwätzer. Und deswegen machen wir es uns so gern in unserer selbstgemachten oder für uns von anderen vorbereiteten Matrix bequem.
Aber ich schreibe nicht für alle. Ich schreibe für diejenigen, die wirklich nach Erklärungen suchen für das Chaos, das derzeit auf der Welt herrscht, die Bedrohung der Freiheit, den Populismus, den Abstieg der Mittelschicht, die Kriege. Die bereit sind, ihre eigene Matrix infrage zu stellen. Es wird in diesem Buch auch um Krieg und Leiden gehen, Tatsachen, die im neuen Jahrtausend genauso präsent sind wie im vergangenen.
Dabei greife ich auf einen reichen Fundus von Klassikern und aktuellen politischen Denkern zurück, von Thukydides über Halford Mackinder und Carl Schmitt bis zu Robert Gilpin und Henry Kissinger. Alle diese Denker gehören der »realistischen Schule der Politikwissenschaft« an. Ich bin zwar als Ökonom bekannt, habe aber auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen viel geforscht.2 In diesem Buch stütze ich mich bei meiner Analyse der Ursachen und Folgen der aktuellen Weltkrise auf die gerade erwähnte realistische Schule der Politikwissenschaft, die meiner Ansicht nach die Welt besser erklären kann als Sozialismus und (Neo-)Liberalismus. Zudem sind in den letzten Jahren große Fortschritte auf dem Gebiet der Gehirnforschung, der evolutionären Erkenntnistheorie, der Anthropologie und der Soziobiologie gemacht worden. Sie stützen meinen Erklärungsansatz. Shit happens. Heute wissen wir viel besser, warum.
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Es sind verschiedene Mechanismen unseres Gehirns, die uns immer wieder Fehler machen lassen: das (vor)schnelle, instinktgetriebene und intuitive Denken, die selektive Wahrnehmung, das Phänomen der kognitiven Dissonanz und das Gruppendenken. Diese Mechanismen waren im Verlauf unserer Evolution überlebenswichtig – und sie sind es oft immer noch –, aber verleiten uns in der modernen, komplexen und technisierten Welt auch dazu, Fehler zu machen. Sie lassen uns simpler Propaganda folgen, in der Matrix der Medien gefangen bleiben, Gruppendenken und Ausgrenzung betreiben und kolossale Fehler begehen. Im schlimmsten Fall lassen wir uns in unnötige Kriege hineinziehen.3
Denn Kriege beginnen fast immer mit Lügen. Das war beim Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 der Fall, als Otto von Bismarck mit der »Emser Depesche« einen Kriegsgrund inszenierte, beim Krieg, den die USA 1903 gegen Kolumbien führten, um Panama abzuspalten und sich die Kontrolle über den Kanal zwischen Atlantik und Pazifik zu sichern4, und beim Vietnamkrieg, der mit dem Zwischenfall im Golf von Tonkin Fahrt aufnahm. Auch dieser Zwischenfall, wie sich im Nachhinein herausstellte, war inszeniert.
In jüngerer Zeit begannen beide Kriege der USA gegen den Irak mit Lügen. Im Ersten Irakkrieg 1990 war es die professionell inszenierte »Brutkastenlüge«, die die amerikanische Öffentlichkeit mobilisierte, im Zweiten Irakkrieg die Lüge von irakischen Massenvernichtungswaffen, die der sichtlich gestresste Außenminister Colin Powell der UNO auftischen musste. Zwar brachte Powell einen Disclaimer an – er sagte: »nach dem, was mir meine Quellen berichten« –, aber es war ihm wohl klar, dass er die Unwahrheit verbreiten musste, damit die USA einen Kriegsgrund hatten. In ihren Büchern und Vorträgen zeigen der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders und der Friedensforscher Daniele Ganser auf, wie westliche Politik, gestützt auf Lügen und Legenden, den Nahen Osten ins Chaos gestürzt hat, mit Folgen, die wir ab 2015 auch in Deutschland unmittelbar zu spüren bekamen.5
Im Bücherschrank meines Vaters stand Psychologie der Massen von Gustave Le Bon, ein Klassiker aus dem Jahr 1895. In diesem Buch legt der Arzt und Psychologe eine Theorie des Herdentriebs vor und zeigt systematisch auf, wie in vielen Massenphänomenen das Unbewusste die Entscheidungen der Menschen beeinflusst: »Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert.«6 Das »Gehirnleben« tritt zurück, das »Rückenmarkleben« herrscht vor. »In der Gemeinschaftsseele versinkt das Ungleichartige im Gleichartigen, und die unbewussten Eigenschaften überwiegen.«7
Heute ist das, was Le Bon so treffend beschrieb, durch viele wissenschaftliche Experimente erhärtet. Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman nennt es »schnelles Denken«. Es läuft intuitiv, reflexartig und automatisch ab, während bewusstes, rationales Denken langsam ist. Kahneman erhielt 2002 den Nobelpreis für Ökonomie, und zwar für seine Forschungen im Bereich »Behavioral Finance« (verhaltenstheoretische Erklärungsansätze bei ökonomischen Entscheidungen), in denen er das Herdenverhalten bei Investmententscheidungen auf spezielle Gehirnaktivitäten zurückführen konnte. Probanden wurden in einen Kernspintomografen geschoben und mit Fragen zu Geldanlagen konfrontiert. Diese sollten sie per Knopfdruck beantworten. So wurden sie gefragt: »Hätten Sie lieber 100 Dollar jetzt oder 110 Dollar in vier Monaten?« Die Fragen waren zum Teil sehr einfach, zum Teil aber recht knifflig. Der Kernspintomograf machte sichtbar, welche Bereiche des Gehirns bei der Beantwortung der Fragen besonders aktiv waren.
Die Erkenntnisse waren verblüffend: Immer wenn sich der Proband für die sofortige Geldauszahlung entschied, war besonders der Hirnstamm aktiv, Le Bons »Rückenmark«. Dieser evolutionsgeschichtlich sehr alte Gehirnteil ist auch bei Reptilien vorhanden und wird deswegen auch »Reptiliengehirn« genannt. Das bewusste Denken, für das das Großhirn verantwortlich ist, wurde nur dann »eingeschaltet«, wenn der Teilnehmer der Studie sich für eine spätere Geldauszahlung entschied.
Kahnemans Schlussfolgerung: Ein Großteil unseres Investmentverhaltens wird von Mechanismen gesteuert, die aus einer Zeit stammen, als es nur um eines ging: ums Fressen oder Gefressenwerden. Kampf, Angriff oder Flucht sind Verhaltensmuster, die uns bis heute beeinflussen. Bei der Geldanlage oder bei vielen anderen Entscheidungen sollten jedoch nicht Emotionen den Ausschlag geben, sondern ein kühl kalkulierender Kopf, der zukünftige Renditen und Risiken möglichst sachlich und nüchtern analysiert. Spontane Reaktionen sind absolut kontraproduktiv. Wir steuern unsere Investmententscheidungen mit Mechanismen, auf die sich auch Reptilien verlassen. Erfahrene Anleger haben damit den Beleg für das, was sie schon immer wussten: 90 Prozent des Anlageerfolgs bestehen darin, die eigenen Emotionen unter Kontrolle zu halten. Das Kahneman-Experiment hat gezeigt, warum Anleger sich gelegentlich extrem idiotisch verhalten. Und was für Anlageentscheidungen gilt, gilt auch für viele andere Bereich des Lebens.
Der kognitive Archäologe Steven Mithen, langjähriger Leiter der School of Human and Environmental Sciences an der University...