Neue Wege
Weihnachten ist ein merkwürdiges Fest, merkwürdig im wahrsten Sinne des Wortes. Am Heiligen Abend denken viele von uns zurück, ja, es beschleicht uns eine kleine Sehnsucht nach Gestern: Weihnachten damals, als wir Kinder waren – erinnerst du dich? Das erste Weihnachten zu zweit, als Paar. Oder: Weißt du noch, als die Kinder klein waren? Oder auch: das erste Weihnachen wieder allein.
Weihnachten ist für viele Menschen wie ein Brennpunkt, an dem sich das Leben und damit die Erinnerung konzentriert. Während die Tage des Jahres oft auch scheinbar unterschiedslos zerfließen, ist das Weihnachtsfest ein klarer Höhepunkt. Und wenn es uns nicht gut geht, ein entscheidender Tiefpunkt. Auch und gerade ein Weihnachtsfest, an dem wir traurig waren, einsam oder verzweifelt, gräbt sich tief in das Gedächtnis ein. Ich denke an so manche Berichte vor allem von Kriegsweihnachten, die in der Adventszeit erinnert werden: Weihnachten 1914 – Kriegswinter. Bitterkeit nach glanzvoller Euphorie. Und auch 1944: wieder ein Winter im Krieg. Weihnachten im Zeichen des Hakenkreuzes. Festredner, die Weihnachten als Symbol des zu erwartenden Endsieges priesen, in ihrem ideologischen Irrwahn missbrauchten – und die Wirklichkeit der Menschen in Kälte, Hunger und Angst.
Viele schauen Weihnachten auch nach vorn: Was wäre, wenn? Kann ich wohl hoffen auf die neue Arbeitsstelle? Ob unsere Liebe Bestand haben wird? Was wird kommen? Kann ich mich Gott anvertrauen?
Weihnachten ist ein Jahreshöhepunkt in unserem Leben. Deshalb gibt es wohl auch diesen Perfektionsdruck, der aus der biblischen Geschichte ja gar nicht abzuleiten ist. Das ist mir immer wieder wichtig: Diese Geburt war kein romantisches Kapitel einer Soap Opera! Es geht um Gott, der zu uns Menschen kommt. Bitte, hier im Land der Reformation, erinnert euch doch wieder oder lasst euch erzählen von dem, was sich begab zu der Zeit, als ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging. Es hat mich schon schwer enttäuscht, dass unter den zu Weihnachten befragten Promis selbst der sympathische Til Schweiger nicht so genau wusste, was eigentlich der Grund für dieses Fest ist. Der Mann hat Kinder! Was wird denn da erzählt unterm Weihnachtsbaum? Und im Radio wurde berichtet, wie Madonna Weihnachten feiert, mit Kerzen und Geschichten. Dabei hatten wir doch gerade erst erfahren, sie sei mit großer Ernsthaftigkeit jetzt Anhängerin der Kabbala, eine jüdischen Glaubensrichtung. Ist Weihnachten wirklich zu einem Familien-Geschenke-Anlass geworden, einem Winterwohlfühlfest? Wissen die Menschen denn nicht, was sie feiern, wenn sie Weihnachten feiern? Oder ist es tatsächlich so weit, dass jene Karikatur einer Tageszeitung zutrifft, die ich einmal gesehen habe: Da stehen Eltern vor dem geschmückten Weihnachtsbaum, etliche Päckchen darunter, es glänzt und blinkt.
Das Kind aber schaut fasziniert weg von der Glitzerdeko auf eine ganz schlichte Krippe mit Ochs, Esel, Maria, Josef – und Kind. Der Vater sagt irritiert: »Was soll das denn jetzt?«
Vielleicht ist es manchen nicht mehr bewusst: Ohne das Jesuskind in der kärglichen Krippe gibt es keine Heilige Nacht, ohne den sterbenden Jesus und den auferstandenen Christus weder Christkind noch Christfest!
Weihnachten empfinden wir immer wieder als Zäsur im Jahr – deshalb sind wir vielleicht an diesem Fest auch besonders verletzlich. Und so kommen die großen Lebensfragen und die großen Glaubensfragen an die Oberfläche, die wir sonst im Alltag oft zur Seite schieben: Wo bin ich eigentlich angekommen in meinem Leben? Weiß ich, wo ich hin will? Wer steht mir zur Seite? Was heißt das: wenn Gott Mensch wird? Wie verstehen wir das: Jesus als Gottes Sohn? Können wir diese alte Geschichte glauben in unserer modernen und hochtechnisierten Welt?
Die Frage, warum die Geburt eines Kindes in Bethlehem eine Bedeutung für das eigene Leben haben soll, ist so alt wie der christliche Glaube. Und ich denke über sie nach mit einem Text der Bibel, der uns mitten hineinführt in ein intensives Gespräch aus allererster Stunde: Nikodemus, ein gebildeter Pharisäer, führt es mit Jesus. Nikodemus fragt, will verstehen, ringt mit dem Glauben daran, dass Jesus Gottes Sohn ist. Wie soll er das begreifen? Wie sollen wir das begreifen? Jesus versucht zu erklären und sagt dabei einen entscheidenden Satz, der im Johannesevangelium, Kapitel 3,16 überliefert ist »Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«
Das ist sozusagen eine kurze Erklärung des christlichen Glaubens, kürzer geht es kaum, das passt sogar in das 90-Sekunden-Format im Radio. Auf drei Faktoren, die darin eine Rolle spielen, möchte ich im folgenden genauer eingehen: Das ist die Liebe Gottes; der Sohn, an den wir glauben, und das sind wir, die nicht verloren sind.
Vorbehaltlose Liebe
Gott liebt tatsächlich diese Welt. Das ist schwer zu verstehen, denn sie ist ja wahrhaftig nicht immer liebenswert. Und wir Menschen sind es auch nicht. Selbst wenn wir nach außen eine großartige Fassade darstellen – wir wissen schon, wo wir gerade nicht perfekt sind und schon gar nicht liebenswert. Aber diese Welt mit ihren Mängeln, mit dem, was nicht stimmt, die liebt Gott so sehr, dass er sich auf sie einlässt. Das ist wie mit der Liebe bei uns. Da sagt doch mancher: Die Frau? Lass die Finger von ihr! Der Mann? Mit dem wird das nichts! Sieh zu, dass du Land gewinnst! Aber wo die Liebe hinfällt, das entscheidet manches Mal nicht die Vernunft. Und so liebt Gott wohl auch dich und mich und diese Welt...
Deshalb können wir uns auch da Gott anvertrauen, wo wir Fehler machen, nicht weiter wissen. Wer leidenschaftlich liebt, hat ein großes Herz, kann vergeben. Das ist Ihnen doch sicher schon mal begegnet, dass plötzlich die Liebe stärker ist als das, was Recht ist. Oder wir sehen unsere Kinder und werden nachsichtig, weil sie so liebenswert sind, auch wenn sie nicht unseren Vorstellungen und Erwartungen entsprechen. Und ich weiß, das gilt auch vice versa für die Eltern! Da müssen die Kinder manches Mal Nachsicht haben und Geduld bewahren. Die großartige Botschaft von Weihnachten lautet: Gott liebt uns leidenschaftlich! Auch wenn alle anderen sich abwenden, wenn ich mich völlig verlassen fühle, wenn ich nicht mithalten kann, ist diese Liebe da, als Angebot. Nicht bestellt, nicht vorgemerkt, einfach so. Ein kostbarer Schatz. Für mich.
Da ist schon ein Plus auf unserem Konto, von Anfang an. Deshalb können wir unseren Lebensweg mit Gott gehen. Ja, Menschen versagen, das weiß auch Gott. Wie viele wenden sich ab und sagen: Gott – brauche ich nicht! Wer einmal in der Liebe enttäuscht wurde, weiß, wie weh das tut. Liebe begegnet Zurückweisung. Du liebst mich? Dein Problem! Ich will dich nicht! Ich kann ohne dich leben. Ich liebe einen anderen, eine andere. Das kann zutiefst verletzen. Wohl auch Gott... Aber die Liebe Gottes zu uns ist größer als unsere Zurückweisung, sie nimmt sich unserer Fragen und Fehler an und ist auch eine schmerzhafte Liebeserfahrung. Angst und Verletzung und Trauer gehören zur Liebe dazu. Wenn die Liebe erkaltet in Lieblosigkeit, erst dann verletzt auch nichts mehr. Dann aber ist die Beziehung zuende.
Hoffnung über den Glanz hinaus
Mit Jesus will Gott die ganze Welt retten, sagt der Vers aus dem Johannesevangelium. Das ist schon ein großes Spannungsfeld: Gott liebt nicht nur die, die alles wissen, die korrekt leben und richtig glauben. Nein, Gott hat großes Interesse an denen, die wie Nikodemus fragen und zweifeln und nachhaken. Das hat schon so manchen geärgert, der meinte, so richtig auf dem rechten Weg zu sein. Gott aber gibt nicht nur Zinsen nach eingezahltem Guthaben, sondern schenkt, einfach so, ganz unwirtschaftlich! Das zu erkennen, war für so manchen, beispielsweise für Martin Luther, eine Erfahrung von Befreiung: Ich muss nicht alles wissen, nicht alles immer hundertprozentig richtig machen. Gott denkt an mich, Gott sieht mein Leben an und will mir einen Weg in die Zukunft eröffnen, der viel weiter ist als das, was wir sehen, und natürlich kennt er meine Grenzen.
Oder ist das jetzt wieder zu billig? »Billige Nacht – Heilige Nacht« titelte der »Spiegel« in der Vorweihnachtszeit. Deutschland auf dem Weg zum Geizwahn – ist da auch Weihnachten billig zu haben? Ein bisschen Kitsch, ein bisschen Lichterglanz, schönste Harmonie, und das war’s dann? Das wäre und ist in der Tat eine Täuschung. So würde Weihnachten verscherbelt im aktuellen deutschen Geizwahn (Habgier und Geiz werden übrigens von Anfang an in der Bibel zu den Lastern gezählt). Zurück bliebe dann Enttäuschung und Leere. Der Vers aus dem Johannesevangelium bringt Anfang und Ende zusammen.
Auf Jesus wartet am Lebensende der Galgen. Erst von Ostern her verstehen wir seine Geburt als eine ganz besondere Geburt. Und das ist nicht billig. Wer sich mit dem Tod auseinandersetzt, erkennt, wie begrenzt und wie teuer das Leben ist. Erkennt, dass Leben mehr ist, als wir in Euro oder Shareholder Value oder Ansehen oder Sicherheit rechnen können, darum geht es. Das Leben jetzt und hier ist eine begrenzte Zeit, beschränkt durch den Tod – den jenes Kind in der Krippe schließlich in die Schranken gewiesen hat. Das ist das Entscheidende!
Wir sind nicht verloren
Der Evangelist Johannes nennt das Ziel der Liebe Gottes: Wir Menschen sollen nicht verloren sein. Mich berührt das sehr. Wie schnell ist ein Leben verloren, wie oft haben wir das Gefühl, verloren zu sein. Ich denke an die, die keinen Halt finden. Ich verstehe ja den Wunsch nach Sterbehilfe. Aber was ist das für eine Welt? Wer nicht mehr mithalten will – wird entsorgt. Statt dass wir fürsorgen!!! Oder...