Eine „Renaissance-Persönlichkeit“ und ihre Wurzeln
JOACHIM CHRISTOPH WILHELM TÄGERT war ein außerordentlich gebildeter und belesener Mann mit großem pädagogischen Talent.
Ein gewaltiger Hüne mit universaler Bildung
In seiner Lehramtsprüfung, die er als gerade 23-Jähriger an der ehrwürdigen Greifswalder Universität im Jahr 1853 „mit großem Erfolg“ absolvierte, musste er inhaltliche und pädagogische Kenntnisse im gesamten Fächerkanon nachweisen, der damals am Gymnasium gelehrt wurde, und er tat dies mit überzeugenden Auftritten, angefangen bei den drei Fremdsprachen Latein, Griechisch, Französisch, über Mathematik, Höhere Mechanik, Astronomie, Physik und Chemie, Mineralogie, Botanik und Zoologie, bis hin zu Philosophie, Pädagogik, klassischen Philologie, Deutsch und Geschichte, ja sogar Theologie. So kann ihm das begeisterte Prüfungskollegium das Zeugnis der „unbedingten facultas docendi“ ausstellen; das heißt, ihm wird die Lehrberechtigung am Gymnasium für alle diese Fächer zugesprochen.
Nur Fächer wie Musik, Kunst oder Sport fehlen auffälligerweise seinerzeit in diesem Kanon, obwohl unser Vorfahr auch in dieser Hinsicht seiner Familie einiges mitzugeben hatte. Alle Taegerts, zumindest wenn wir von unserm Zweig aus folgern dürfen, sind musikalisch und künstlerisch begabt, sie kochen und backen gern und schätzen auch den Sport und jede Form von körperlicher Bewegung. Die meisten üben diese Talente als Hobby, einzelne sogar beruflich aus.
Allenfalls im Fach Geschichte zeigt unser Vorfahr seinerzeit einige überraschende Lücken oder vielleicht einen kleinen Blackout; „Selbst Naheliegendes war ihm fremd“, so bescheinigt ihm die Kommission. Doch ist sie der Meinung, dass seine „Geistesgewandtheit und Gründlichkeit der Bildung, durch welche der Kandidat sonst sich auszeichnet“, hoffen lasse, „dass er bei näherer Beschäftigung mit der Geschichte zum Vortrag auch dieser Wissenschaft wohl geschickt sein werde, und kann ihm dieser Vortrag schon jetzt unbedenklich für die untere Gymnasialklassen übertragen werden.“
Kleine Mängel entdeckt die Prüfungskommission auch in der Theologie. Der Kandidat habe zwar „seine Kenntnis der Heiligen Schrift und des protestantischen Lehrbegriffes“ gezeigt, die aber „nicht vollständig ist, um den Forderungen im Religionsunterricht ganz zu genügen. Doch ist er zur Übernahme desselben in den unteren Klassen schon jetzt nicht untauglich und berechtigt zu der Erwartung, dass er nach einiger Zeit bei fortgesetztem Studium zum Religionsunterricht auch in den mittleren Klassen befähigt sein werde.“
Den mahnenden Zeigefinger indes erheben die Prüfer bei Wilhelms „Star-Fach“, der Mathematik. Sie sind besorgt, dass er seine Schüler überfordern könnte. Über die Darbietung der mathematischen Probelektion in der Gymnasialoberstufe vermerken sie:
„… zeichnete sich namentlich durch völlige Sicherheit und Gewandtheit aus, so dass ihm nur zu raten ist, zu bedenken, dass nur befähigte Schüler im Stande sein werden, ihm mit derselben Raschheit zu folgen, wie er seine Gedankengänge für den Kundigen mit Klarheit entwickelt.“
Wie recht das Prüfungskollegium mit seinem vorsichtigen Einwand hat, den sich WILHELM offenbar nie wirklich zu Herzen nimmt, zeigt sich in einem hübschen Bericht, den sein späterer Schüler am Siegener Realgymnasium ERICH SCHÖNBORN im Jahre 1901 im Rückblick auf seine Schulzeit abfasst. Er beschreibt zunächst sehr originell die eindrucksvolle Gestalt seines Rektors und Mathematiklehrers, der gegenüber die Schüler sich ganz klein vorgekommen seien, und schildert dann den anspruchsvollen und schülerfernen Auftritt von J. CHR. WILHELM TÄGERT wie in einer Universitätsvorlesung:
„Dr. Tägert, ein wahrer, fast 2m großer Hüne aus Pommernland. Sein Lehrfach war Mathematik, die er mehr nach der Art eines Hochschulprofessors vortrug, es dabei dem einzelnen überlassend, die Formeln und Gleichungen durchzuarbeiten und sich zum Eigentum zu machen. Auch war er ein echtes Original, aber großzügig, und schwebte wie Zeus über den Wolken. Das heißt: ‚Schweben‘ ist eine auf diesen Riesen kaum zutreffende Bemerkung, sang doch von ihm Freund Sprenger in der Einjährigenzeitung: ‚Umgürtet den Hals mit einem Kragen, so dem einfachen Erdenbürger leichtenst zum Gürtel habe gedienet‘. Ein schwarzer, ins Grünliche schillernder Gehrock unterstrich das Gewaltige dieser Persönlichkeit, vor der sich selbst der Längste unter uns wie ein Zwerg vorkam.“
Dieser Gymnasiallehrer damals neuen und fast genialischen Typs WILHELM TÄGERT las in Mußestunden zur Entspannung nicht Krimis oder Unterhaltungsromane, sondern die antiken Klassiker im griechischen Urtext. In der Vielseitigkeit seiner Bildung erinnert er nach dem Urteil seines jüngsten Sohnes WILHELM jr. „an die großen Männer der Renaissance“. Woher hatte dieser Mann seinen Bildungseifer?
Umfassende Anregungen im bald verlorenen Elternhaus und bei den Großeltern
Solche Universalbildung verdankte JOACHIM CHRISTOPH WILHELM TÄGERT natürlich, neben seiner immensen breitbandigen Begabung und raschen Auffassungsgabe, insbesondere auch den Einflüssen seines Elternhauses. Zwar schien ihm sein Aufstieg nicht in die Wiege gelegt. Er war ja von scheinbar einfacher bürgerlicher Herkunft. Seine Eltern waren Küstersleute an der Hauptkirche St. Nicolai, der Vater war zugleich Lehrer an der Greifswalder Bürgerschule, die nach jahrzehntelangem Siechtum gerade wieder im Neuaufbau war. Dieses Ehepaar hatte fünf kleine Kinder zu versorgen und war deshalb keineswegs wohlhabend.
Die Pflasterstraße als Spielplatz: Dom St. Nikolai zu GREIFSWALD, Arbeitsplatz von PAUL TÄGERT, davor die Hunnenstraße (hist. Aufnahme)
Vor allem aber war es nur eine sehr begrenzte Zeitdauer gewesen, in welcher der kleine WILHELM dieses Elternhaus genießen durfte. Er war erst 10 Jahre alt, als seine beiden Elternteile fast zum gleichen Zeitpunkt unerwartet starben; der Vater wurde nur 34, die Mutter 37 Jahre alt. Die Todesursache geht aus den Angaben über die Ahnen leider nicht hervor; wir sind in unsern Recherchen daher auf Vermutungen angewiesen, für die es aber Anhaltspunkte gibt:
Auffallend ist, dass die Eltern nach dem Kirchenbucheintrag beide im Abstand von nur zwei Tagen am 21. und 23. August des Jahres 1840 starben. Aufhorchen lässt zudem, dass auch die zweitjüngste Schwester, LUISE MARIA MATHILDE TÄGERT (*12.10.1835 in GREIFSWALD, +18.11. 1840 in KEMNITZ) nur knapp drei Monate später im gleichen Jahr stirbt. Das Kind ist gerade erst fünf Jahre alt geworden.
Diese Zusammenhänge lassen auf möglicherweise äußerliche Schrecknisse zurückschließen. Denkbar wäre etwa, dass sich ein Unfall ereignet hat, z.B. bei einer Kutschfahrt. Die Pferde könnten gescheut haben, die Kutsche könnte umgestürzt sein. Und die Drei könnten lebensgefährliche Verletzungen davongetragen haben, an deren Folgen sie dann erlegen wären.
Nicht auszuschließen sind aber auch Nachklänge einer Ruhr-Epidemie, die GREIFSWALD seinerzeit mehrmals heimsuchte. Der Greifswalder Arzt Dr. FRIEDRICH AUGUST GOTTLIEB BERNDT berichtet genau in diesem Jahr 1840 in einer Druckschrift über eine solche Epidemie, die einige Todesopfer gefordert hat. Sie hatte allerdings ihren Höhepunkt schon im November 1839. Möglicherweise ist diese Krankheitswelle im Sommer des Jahres 1840 noch einmal zurückgekehrt. Fest steht, dass ein Küster und Lehrer, wie PAUL TÄGERT, und mit ihm auch seine Familie, durch die vielfältigen Berührungen mit anderen Kindern und Erwachsenen auf jeden Fall stark ansteckungsgefährdet waren.
Was auch immer die Ursache dieser unerwarteten Todesfälle gewesen sein mag, der zehnjährige WILHELM war also jetzt über Nacht verwaist, und mit ihm seine vier weiteren Geschwister im Alter von zwölf, sieben, vier und zwei Jahren. Sein Vater PAUL, der seinen Nachnamen übrigens als erster in der Familie mit einem „t“ am Ende geschrieben und sich auf diese Weise für immer in der Familiengeschichte verewigt hatte – alle Menschen in Deutschland, die sich „TÄGERT“ oder „TAEGERT“ schreiben, stammen von diesem Vorfahren ab – war Küster am heutigen Dom St. Nicolai gewesen, der Hauptkirche von GREIFSWALD, und er war zugleich Lehrer an der Greifswalder Bürgerschule, also dem heutigen Gymnasium. Sehr wahrscheinlich hat er, solange er lebte, den Sohn JOACHIM CHRISTOPH WILHELM und auch seinen knapp drei Jahre älteren Bruder CARL AUGUST HERMANN TÄGERT (1828–1892) persönlich in dieser weiterführenden Schule unterrichtet. Das war nun vorbei.
Aber im Lehrerhaus im nah gelegenen KEMNITZ lebten ja zum Glück noch Wilhelms Großeltern: der inzwischen 61-jährige JACOB CHRISTOPHER TÄGERT, und seine etwa gleichaltrige Ehefrau MARIA CATHARINA, geb. BUCHHOLZ.
Zuflucht der Waisenkinder im Lehrerhaus auf dem...