1 Wie alles begann
September 2010. Wie jedes Jahr feierten wir meinen Geburtstag mit der Familie und Freunden im Garten unseres Hauses. Mein Mann Dieter hatte den Grill angeworfen und wir genossen das Beisammensein an einem der letzten lauen Spätsommerabende auf der Terrasse. Nach dem gemütlichen Abendessen half mir meine Mutter, das Geschirr in die Küche zu bringen. Ich freute mich, dass sie mir beim Aufräumen behilflich war. »Heute haben wir mal wieder ganz schön zugeschlagen«, meinte ich. »Ja, wenn wir alle zusammen sind, schmeckt es besonders gut«, gab sie mir zur Antwort und warf mir ein kurzes Lächeln zu. Während ich mich mit den schmutzigen Tellern beschäftigte und sie bereits den Nachtisch vorbereitete, plauderten wir über zahlreiche belanglose Dinge. Plötzlich sagte sie unvermittelt: »Ich gehe morgen zum Frauenarzt, zur Routineuntersuchung.« »Wie bitte? Stimmt was nicht?«, rutschte es alarmiert aus mir heraus. Etwas in ihrer Stimme hatte mir verraten, dass es sich nicht um eine reguläre Untersuchung handelte. Ihr Gesichtsausdruck bestätigte es mir. Unsicherheit sprach aus ihr, es graute ihr vor diesem Gespräch mit dem Arzt, sie hatte Angst, mir konnte sie nichts vormachen.
Meine Mutter und mich verband eine enge Beziehung. Wenn es einer von uns beiden nicht gut ging, brauchten wir nicht darüber zu sprechen, wir fühlten es. Zu lügen, um die andere zu schonen, machte keinen Sinn, das war vergebliche Liebesmühe. Wir verstanden uns ohne Worte. Vertraut und innig war unsere Beziehung – ein besonderes Mutter-Tochter-Verhältnis, auf das ich heute noch sehr stolz bin.
Zurück zu diesem besagten Abend: Scheinbar wollte sie mich an meinem Geburtstag nicht beunruhigen und nicht die gute Stimmung beeinträchtigen, daher untertrieb sie die Tragweite des bevorstehenden Arztbesuchs. Trotz alledem konnte und wollte sie mir den Kontrolltermin ihrer Brustuntersuchung nicht vorenthalten. »Mach dir keine Sorgen, das wird schon nichts Schlimmes sein«, versuchte sie mich zu beschwichtigen und ging, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, zurück zu den Gästen in den Garten. Ich stand verstört und betroffen in der Küche. Viele Gedanken rasten durch meinen Kopf. In diesen Minuten stellte ich mir nur vage vor, was für eine Lawine auf uns zurollen würde, wenn der Arzt keine positiven Nachrichten verkündete. Keinesfalls durfte ich mich jetzt in dieses Hirngespinst hineinsteigern, Gäste waren zu Besuch, meine Gäste, die draußen auf mich warteten.
Wie betäubt verließ ich die Küche und funktionierte. So ungastlich es auch klingen mag, aber an diesem Abend war ich erleichtert, als unsere Freunde endlich das Haus verließen.
Erwartungsgemäß raubte mir die Sorge um meine Mutter nachts den Schlaf. Aufgewühlt wälzte ich mich hin und her. Finstere Gedanken ließen mich keine Ruhe finden. Am nächsten Tag konnte ich es kaum abwarten, was der Gynäkologe meiner Mutter zu sagen hatte.
Es war ein Schock! Der Arzt des Brustzentrums diagnostizierte einen Knoten in ihrer linken Brust in der Größe von 2,5 Zentimetern. Schnellstens musste eine Gewebeprobe entnommen werden. Ein Aufschub kam nicht infrage.
Die Ungewissheit, die meine Mutter bis dahin beherrscht hatte, verwandelte sich von diesem Zeitpunkt an in Angst.
Wie konnte es sein, dass sich in ihrer Brust in kurzer Zeit ein bösartiger Tumor gebildet haben sollte? Zwei Monate zuvor hatte ihre Frauenärztin in unserem kleinen Heimatort das gleiche Gewebe mittels Ultraschall begutachtet. Der Befund stellte sich als negativ heraus. Wächst ein Knoten denn so schnell? Wir waren überfragt.
Der Arzt des Brustzentrums handelte sofort. Er entnahm ein Stück Gewebe und schickte es in das Labor. »Es sieht nicht gut aus«, gestand er ein. »Hundertprozentig wissen wir es aber erst, wenn das Ergebnis vorliegt.« Hilflos und verstört verließ meine Mutter die Praxis. Jetzt hieß es abwarten, hoffen und beten, dass sich doch noch alles zum Guten wenden würde. »Vielleicht irrt er sich ja, womöglich ist es nur eine Zyste oder eine Verwachsung im Gewebe«, sprachen wir uns gegenseitig Mut zu. Wir taten das, um uns zu beruhigen und die Wartezeit, die sich unendlich dehnte, zu überbrücken. Nach zwei Tagen unerträglichen Ausharrens und Bangens – meine Mutter und ich hielten uns gerade im Wohnzimmer ihres Hauses auf – klingelte dort das Telefon.
Unsicher schauten wir uns an, wie bei jedem Telefonläuten in den letzten beiden Tagen, die ich überwiegend mit ihr zusammen verbracht hatte, um sie zu stützen, und kaum zu bändigende Nervosität überfiel uns. »Komm, geh schon ans Telefon, es wird gut gehen, Mama«, versuchte ich sie zu ermuntern. Zögernd begab sie sich zum Apparat und hob den Hörer ab.
Ich beobachtete ihren Gesichtsausdruck. Meine Mutter wirkte wie erstarrt, sie folgte angespannt den Worten ihres Arztes und antwortete mehrfach mit Ja. »Danke, das mache ich. Auf Wiederhören«, sagte sie am Ende des Gesprächs. Langsam ließ sie den Hörer sinken. Ihr Blick blieb starr. Zuerst musste sie sich sammeln und Luft holen, bevor sie zu sprechen in der Lage war.
Eigentlich brauchte meine Mutter nichts zu sagen. Ihre Reaktion verriet alles. Dennoch fragte ich: »Und, was hat der Arzt gesagt?« Ehe sie sich an den Tisch setzte, rief sie meinen Vater, der sich mit Gartenarbeit ablenkte, zu uns herein. Schnell legte er seine Gartenschere aus der Hand, zog die Arbeitshandschuhe aus und kam ins Haus.
»Setzt euch bitte«, forderte uns meine Mutter auf. Man hörte das Zittern in ihrer Stimme, als sie weitersprach: »Ich habe Krebs. Ich soll morgen in die Praxis kommen, damit alles Weitere besprochen werden kann.« Obwohl sie sich um Tapferkeit bemühte, traten Tränen in ihre Augen. Mehr vermochte sie in diesem Augenblick nicht zu sagen. Mama wirkte ratlos. Etwas Einschneidendes war über sie hereingebrochen. Auf einmal ging es ums pure Überleben. Dieser unmissverständliche Befund, der ab sofort das Leben meiner Mutter und auch unseren Alltag bestimmen würde, nahm ihr schlagartig all ihre Lebensfreude. Bis dahin hatten wir mit lebensbedrohlichen Krankheiten keine Berührungspunkte, Gott sei Dank.
Doch nun überfiel uns diese gefährliche Krankheit als existenzielle Bedrohung und sie würde meine Mutter auf eine harte Probe stellen.
Wir verspürten Machtlosigkeit in diesem Augenblick, fühlten uns wie gelähmt. Krebs, dieses Unwort mit fünf Buchstaben, degradierte sie zu einer Gezeichneten herab, die ab sofort gezwungen war, um ihr Leben zu kämpfen.
Begreifen konnte sie es nicht – weder in den ersten Tagen nach der Diagnose noch in den späteren Stadien der Erkrankung – und begann an sich und an ihrem bisherigen Lebensstil zu zweifeln.
Der Schock saß tief. Aber es überwog der Lebenswille. Mama war fest entschlossen, den Kampf aufzunehmen, alles zu tun, um wieder ein »normales« Leben zu erlangen und diesen unerbittlichen Krebs zu besiegen. Nachdem die erste Kopflosigkeit gewichen war, beschlossen wir einträchtig im Familienrat, dass wir uns auf den behandelnden Arzt im Brustzentrum verlassen sollten. Wir setzten hundertprozentiges Vertrauen in ihn und in sein professionelles Team. Alle mussten jetzt vernünftig zusammenarbeiten und perfekt funktionieren, insbesondere Mama.
Wenige Tage später folgten die ersten Untersuchungen, wie Mammografie, Knochenszintigramm, Röntgen der Lunge, Ultraschall und unzählige Blutabnahmen. Hierbei stellten die Ärzte einen weiteren minimalen, aber inoperablen Krebsherd auf ihrem Brustbein fest. Die Nachricht war ein zweiter Schlag ins Gesicht. Meine Mutter war fassungslos, aber sie funktionierte weiter, brach nicht vollends zusammen.
Von nun an beschleunigte sich der Prozess, Arztbesuche beherrschten ihren Tagesablauf. Mama gelangte wie von selbst in einen Trott, vergleichbar mit einem Hamsterrad, in dem die notwendigen Vorbereitungen zur geplanten Therapie abgespult wurden. Wenn man leben will, wie es meine Mutter vorhatte, war, den ärztlichen Anweisungen zu folgen, der einzige Weg.
In unregelmäßigen Abständen trafen wir uns dazwischen zu kurzen Gesprächen mit dem behandelnden Arzt, die uns Halt und Beistand gaben. Wir fühlten uns zu diesem Zeitpunkt niemals verlassen.
Trotz der beispielhaften Unterstützung des Ärzteteams ging meine Mutter nie alleine zur Untersuchung. Mein Vater oder ich begleiteten sie. Wenn auch manchmal nur, um ihr Mut zu geben oder die endlosen Wartezeiten zu überbrücken.
Nach diesem ersten Untersuchungsmarathon wurde meiner Mutter mitgeteilt, dass der besagte bösartige Knoten operativ entfernt werde. Darauf folge eine Chemotherapie über acht Zyklen mit abschließender Strahlentherapie in voraussichtlich 36 Sitzungen. Mit diesem Kompass zu ihrer Gesundung ausgestattet konzentrierte sich Mama von diesem Augenblick an auf ihr neues Lebensziel. Sie musste gesund werden.
Alle Behandlungen und Nebenwirkungen der Medikamente sowie der Therapien wollte sie tapfer über sich ergehen lassen. Sicher führte dieser Weg durch die Hölle, aber sie war bereit, alles auf sich...