Die Reformation in Bochum und in der Grafschaft Mark*
Michael Basse
1. Die religiöse Lage am Vorabend der Reformation
Der Begriff „Reformation“ spielte schon im ausgehenden Mittelalter eine große Rolle und hatte eine geradezu programmatische Bedeutung.1 Die umfassende Reform der Kirche „an Haupt und Gliedern“ war ein zentrales Anliegen dieser Zeit. Zu diesem Zweck wurden im 15. Jahrhundert nicht nur die beiden großen Reformkonzilien von Konstanz und Basel abgehalten, sondern auch die Theologie und die Frömmigkeitspraxis wurden von vielfältigen Reformbestrebungen bestimmt. So wurde es als Aufgabe und Chance der Kirche begriffen, Laien ein religiöses Grundwissen zu vermitteln, um damit ihre Frömmigkeit und ihre Urteilsfähigkeit zu fördern. Ein Beispiel hierfür ist der „Christenspiegel“, den Dietrich Kolde (um 1435-1515), ein Franziskanermönch aus Münster, verfasste, damit seine Leser dieses Handbüchlein, wie Kolde sein Werk nannte, ständig bei sich tragen und auch anderen Menschen daraus vorlesen konnten – insbesondere denen, die an Sonn- und Feiertagen untätig auf der Straße saßen.2 Die Bettelorden, zu deren Niederlassungen in Westfalen neben den Franziskanern vor allem die Dominikaner und die Augustineremiten gehörten, widmeten sich insbesondere dem Predigen und der Seelsorge. Und in diesen theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext gehört auch die Bewegung der „Devotio moderna“, die sich von den Niederlanden aus im 15. Jahrhundert nach Nordwestdeutschland ausbreitete und auch in Westfalen, ausgehend von den Niederlassungen in Münster und Herford, bedeutsam war. Wegen ihrer Lebensführung erfuhren die Konvente der Devotio moderna in der Bevölkerung eine große Wertschätzung. Hier wurden Exerzitien abgehalten, gemeinsame Gebete und Meditationen praktiziert, die Heilige Schrift studiert und Enthaltsamkeit geübt. Auch die seelsorgerliche Betreuung und geistliche Förderung von Jugendlichen hatte für die Devoten einen hohen Stellenwert. Mit immer größerem Nachdruck wurde aber auch außerhalb der Devotio moderna die Forderung erhoben, dass die Laien die Bibel lesen sollten – so heißt es in der Vorrede zur Kölner Bibel von 1478/79, der ersten niederdeutschen Übersetzung der lateinischen Bibel, dass alle Menschen das Wort Gottes mit Hilfe des heiligen Geistes verstehen könnten und sie ansonsten auf die Auslegung der Kirche vertrauen sollten. In Deutschland erschienen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts so viele Bibeln in der Volkssprache wie in keinem anderen Land. Und mit Hilfe des Buchdrucks fanden religiöse Schriften Verbreitung, deren Lektüre eine eigenständige religiöse Bildung der Laien ermöglichte. Die spätmittelalterliche Lesekultur schuf eine Verbindung zwischen Klerikern und Laien, die kultur- und frömmigkeitsgeschichtlich von großer Bedeutung war. Humanistisches Gedankengut fand hier ebenso Verbreitung wie die Orientierung an monastischen Idealen, die immer mehr die Spiritualität und die Lebensführung vor allem der städtischen Gesellschaft formten.
Da nun aber die Mehrheit der Menschen dieser Zeit nicht lesen konnte, kam visuellen wie auch haptischen Eindrücken und Formen von Religiosität eine besondere Bedeutung zu.3 Bilder mit religiösen Motiven waren allgegenwärtig – nicht nur in Kirchen und Kapellen, sondern in vielen Bereichen der Öffentlichkeit und des Privaten. Dabei waren Bilder mehr als nur Abbilder, vor allem bei den Heiligenbildern kann geradezu von einer „Realpräsenz“ des Dargestellten gesprochen werden, die auf ihre Betrachter eine magische Macht ausüben konnte, weshalb es auch schon in vorreformatorischer Zeit zu einem Streit über die Relevanz der Bilder kam – wir werden noch sehen, welche Rolle dieses Thema in der Reformationsgeschichte der Grafschaft Mark gespielt hat. Für die spätmittelalterliche Frömmigkeit gilt, dass in ihr innere Empfindung und äußerer Kult in unterschiedlicher Intensität verknüpft waren. So wie die Religion das Diesseits mit dem Jenseits verband, so beherrschten religiöse Riten das gesamte Leben – nicht nur an den wichtigen Lebenseinschnitten wie Taufe, Erstkommunion, Hochzeit und Begräbnis, sondern auch im Alltag. Die Ritualisierung des religiösen Lebens hatte eine gemeinschaftsbildende Funktion und einen öffentlichen Charakter. Besonders deutlich wird das an den Prozessionen, den Wallfahrten, dem Stiftungswesen und den vielfältigen Formen der „memoria“, d.h. der Erinnerungskultur. In der Eucharistiefrömmigkeit korrelierten die religiösen Bedürfnisse der Laien mit den genuinen Interessen des Klerus. Die Schaufrömmigkeit, d. h. der Wunsch, die Hostie während der Elevation möglichst lange anzuschauen, war keineswegs nur für die Frömmigkeit des einfachen Volkes typisch, sondern verband alle gesellschaftlichen Gruppen ebenso wie Klerus und Laien. Der Vorsorge für das Seelenheil im Jenseits diente das Ablasswesen, das im gesamten 15. Jahrhundert sowohl kirchenpolitisch als auch theologisch und frömmigkeitsgeschichtlich eine große Rolle spielte. Für die Amtskirche bot sich hier die Möglichkeit, die Heilsbedeutung der Kirche noch stärker herauszustellen und damit die Institution Kirche ideell und materiell zu festigen. Dem entsprach auf Seiten der Gläubigen die Erwartung, an dem „Schatz der Kirche“ teilhaben und damit das ewige Seelenheil erlangen zu können.
Bei aller Kritik an der Kirche und ihren Amtsträgern war die Religiosität an diese Institution immer noch eng gebunden und in ihrer Heilserwartung auch so darauf fixiert, dass die „Kirchlichkeit“ im Verlauf des 15. Jahrhunderts eher zu- denn abgenommen hat.4 Und so kann insgesamt die Zeit vor der Reformation nicht einfach als eine Krisen- und Verfallserscheinung wahrgenommen werden, um davon die Reformation umso schärfer abzugrenzen, wie es lange Zeit aus einem konfessionell und national verengten Blickwinkel geschehen ist. Vielmehr konnten die reformatorischen Bestrebungen an die unterschiedlichen Reformansätze des späten Mittelalters anknüpfen, dabei wurden aber aus theologischen und auch politischen Gründen eigene Akzente gesetzt, die für die Geschichte und das Profil der Reformation von entscheidender Bedeutung waren.
2. Die Anfänge der Reformation in der Grafschaft Mark
Die Einführung der Reformation vollzog sich in der Grafschaft Mark in einem längeren, stufenweisen Prozess, der nicht zuletzt von den politischen Rahmenbedingungen abhängig war.5 Die Grafschaft Mark gehörte zu Beginn des 16. Jahrhunderts zum Herzogtum Kleve-Jülich-Berg. Dieses Herzogtum bildete in der Reformationszeit einen Sonderfall, insofern die Herzöge einen Mittelweg zwischen der Wittenberger Reformation und dem Katholizismus im Sinne der römischen Kurie beschritten.7 Sie orientierten sich dabei am Humanismus des Erasmus von Rotterdam (1465/69-1536), dessen Ansichten zu einer notwendigen Reform der Kirche und der Frömmigkeit sie ebenso teilten wie die Auffassung, dass eine solche Reform grundsätzlich innerhalb der römischen Kirche möglich sei und nicht einen Bruch mit ihr erfordere, wie ihn Martin Luther vollzogen hat. Eine wichtige Rolle spielte der Humanist Konrad Heresbach (1496-1576), der zunächst als Erzieher des Erbprinzen Wilhelm und dann vierzig Jahre lang als enger Berater der Herzöge eminenten Einfluss gerade auch auf die Religions- und Bildungspolitik ausübte. Diese reformorientierte Ausrichtung der Klever Religionspolitik erwies sich auf lange Sicht aber nicht als erfolgreich, vielmehr übernahmen an vielen Orten die städtischen Magistrate die Initiative und setzten sich für die Einführung der Reformation ein.
Die Ausbreitung der reformatorischen Gedanken Martin Luthers ging in der Grafschaft Mark von dem Lippstädter Konvent der Augustinereremiten aus. So studierten die beiden Ordensbrüder Johannes Westermann und Hermann Koiten in Wittenberg und schlossen dort auch ihre Promotion ab, bevor sie nach Lippstadt zurückkehrten. Dort predigten sie fortan im reformatorischen Sinne, womit sie eine große Menge an Zuhörern anzogen. Westermann verfasste dann 1524 einen Katechismus, der über Lippstadt hinaus Wirkung entfaltete.7 Für die Ausweitung der evangelischen Bewegung waren Philipp Melanchthons Kontakte zu humanistischen Kreisen insbesondere im nördlichen Rheinland und Martin Luthers Unterstützung für die Reformation in Soest bedeutsam. Dort, in Soest, setzte sich die Reformation zu Beginn der 1530er Jahre durch und strahlte in der Folgezeit in die gesamte Grafschaft Mark aus. Die Sonderrolle Soests erklärt sich dadurch, dass es eigenständig war, aber unter der Schutzherrschaft des Herzogs von Kleve stand. Ab 1526 versammelte sich in einem Soester Patrizierhaus ein Kreis von Interessierten – unter ihnen auch der bedeutende Kupferstecher und Maler Heinrich Aldegrever –, die über Luthers Lehre diskutierten.8 Johann Kelberg, Kaplan an St. Pauli, und der Dominikaner Thomas Borchwede waren dann die ersten, die im...