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Wenn Gefühle auf Worte treffen

Ein Gespräch mit Elisabeth Bronfen

AutorElisabeth Bronfen, Siri Hustvedt
VerlagKampa Verlag
Erscheinungsjahr2019
ReiheKampa Salon 
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783311700692
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Alles beginnt in einem Sommer in Island. Die Nächte sind lang und hell. Siri Hustvedt, 13, liest David Copperfield und weiß, dass sie Schriftstellerin werden will. Mit 14 liest sie Simone de Beauvoir und wird Feministin. Ihre Wissbegier ist schon früh enorm. Mit Anfang zwanzig flieht sie aus der amerikanischen Provinz zum Studium nach New York, wo sie noch heute lebt. Das Bewegliche, Offene dieser Stadt habe sie immer fasziniert, erzählt Hustvedt der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Sommer 2018. Alles Starre, jedes Dogma hingegen ist ihr fremd - kulturelle Stereotype, patriarchale, sexistische Denkmuster, wie sie im Amerika unter Donald Trump wieder an Popularität gewinnen. Siri Hustvedt sucht das Verbindende, nicht das Trennende, eine Vielfalt der Perspektiven. Das Spiel mit Identitäten, auch mit Geschlechteridentitäten bestimmt ihre Romane, das Zusammenwirken verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ihre essayistischen Texte. Luzide legt Siri Hustvedt dar, dass wahre Denkräume Zwischenräume sind, in denen nicht die Gewissheit regiert, sondern das Sowohl-als-auch.

Siri Hustvedt, 1955 in Northfield, Minnesota, geboren, studierte Geschichte und Anglistik und wurde mit einer Arbeit über Charles Dickens promoviert. Neben Romanen wie den internationalen Bestsellern Was ich liebteund Ein Sommer ohne Männer schreibt sie Essays und Gedichte. Seit den neunziger Jahren beschäftigt sie sich mit neurowissenschaftlichen und psychoanalytischen Themen, über die sie seit Erscheinen ihres Buchs Die zitternde Frau auch Vorträge hält. Sie ist mit dem Schriftsteller Paul Auster verheiratet, mit dem sie eine Tochter hat.

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Leseprobe

2 Das Abenteuer New York


In einem Ihrer Essays sagen Sie, New York sei beides, ein realer und ein imaginärer Ort. Warum sind Sie damals gerade in diese Stadt gegangen? Und hat sich Ihre Beziehung zu New York seit den siebziger Jahren verändert?

Ja, bevor ich umzog, war New York ein vollkommen imaginärer Ort. Ich war nur ein einziges Mal ein paar Tage dort gewesen, um mir die Columbia University anzusehen. Ich wusste nichts über die Stadt, bis auf das, was ich in Filmen gesehen und in Büchern gelesen hatte. Sie war ein mit viel Unterstützung durch fiktionale Werke aus Phantasien zusammengesponnener Ort.

An welche Bücher oder Filme denken Sie?

Zu den Büchern, die in New York spielen und einen starken Eindruck auf mich gemacht haben, gehören auf jeden Fall Henry James’ Washington Square, Edith Whartons Haus der Freude und Zeit der Unschuld, F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby sowie Die Schönen und Verdammten, John Dos Passos’ Manhattan Transfer, Ralph Ellisons Der unsichtbare Mann, Henry Roths Nenn es Schlaf, J.D. Salingers Fänger im Roggen, James Baldwins Eine andere Welt, Nathanael Wests Miss Lonelyhearts und Sylvia Plaths Die Glasglocke. Jedes dieser Bücher repräsentiert ein besonderes New York, das nicht vom Wo, sondern von Wann und Wem abhängt. Whartons New York hat wenig mit dem von Baldwin gemein. Trotz meiner vielfältigen literarischen Eindrücke hatte ich die verschwommene Vorstellung, in einer Stadt anzukommen, wo ich viele Leute mit dem klassischen Brooklyn-Akzent sprechen hören würde, jener Stimme, die ich aus Gangsterfilmen der dreißiger und dem Film noir der vierziger Jahre kannte. Manche dieser Filme hatte ich auf der Highschool und am College gesehen. Der Filmclub von St. Olaf veranstaltete jede Woche eine Vorführung. Die 42. Straße, Das Fenster zum Hof, Alles über Eva und Dein Schicksal in meiner Hand waren Filme, die nur in New York spielen konnten, nirgends sonst.

Ich vernarrte mich in Komödien, deren Schauplatz ein Manhattan der Hollywood-Phantasie war: Dinner um acht, Der dünne Mann, Mein Mann Godfrey, Lustige Sünder, Es geschah in einer Nacht, Die Frau, von der man spricht, Ehekrieg und Holiday ragen in meiner Erinnerung heraus. Diese Schwarzweißfilme haben einen raffinierten Glanz. Ich liebte die dichten, ausgefeilten Drehbücher mit scharfen Wortgefechten und die Frauen, die starke, interessante Rollen innehatten, Rollen, die in den sechziger und siebziger Jahren, als Schauspielerinnen meistens in Sexspielzeug, Mütter oder Ehefrauen verwandelt wurden, weitgehend verschwunden sind. In Minnesota, wo ich aufwuchs, sehnte ich mich nach Witz und Raffinesse, nach Ironie, Humor und Eleganz. Ich träumte von einem New York, das es nie irgendwo gegeben hatte, außer im kollektiven Gehirn von Hollywood-Drehbuchautoren, und doch war das reale Manhattan der vierziger, fünfziger und sechziger Jahre besser in Schuss und zivilisierter gewesen als die Stadt, die ich im Herbst 1978 antraf, nicht lange nach der verheerenden Finanzkrise. Zu dieser Zeit gab es schon mehrere dreckige Filme, die im dreckigen New York spielten, aber um ehrlich zu sein, fand ich New York auch als Ruine romantisch.

Denken Sie an Taxi Driver, der 1976 herausgekommen war?

Taxi Driver ist wohl der Urfilm der ruinierten Stadt. Ich sah ihn, kurz bevor ich Minnesota verließ.

Es waren ja gerade die Schäbigkeit, das Verkommene, die Gefahr, die New York in den späten Siebzigern so anziehend für die Punk-Rock-Szene machten, für aufstrebende Musiker wie Madonna und natürlich für Avantgarde-Künstler. Es gab so viele Nischen unter dem Radar der gewöhnlichen Einwohner. Wie eine Stadt in der Stadt. Man vergisst oft, dass viele Lokale in Tribeca – wie etwa das Restaurant Odeon, das in den Achtzigern von stilbewussten Künstlern frequentiert wurde – in Gegenden lagen, wo es nachts kaum Straßenbeleuchtung gab. Dieses urbane Grenzmilieu war extrem glamourös, weil es eine Zone der Freiheit war.

Ja, Freiheit ist das Schlüsselwort. Ob es stimmte oder nicht, viele von uns glaubten, in New York könnten wir uns auf eine Weise erfinden oder neu erfinden, die anderswo unzulässig gewesen wäre. Die Menschen verließen die Stadt in Scharen. New York hatte innerhalb von zehn Jahren ungefähr eine Million Einwohner verloren, keine armen Leute, die sich einen Umzug gar nicht leisten konnten, sondern Leute aus der Mittelschicht. Künstlermilieus gedeihen, wo man billig unterkommt und ein Pioniergeist herrscht. In den späten Siebzigern gab es noch eine Menge Künstler, die Downtown in SoHo oder Tribeca in Lofts lebten – Gewerbeflächen, die sie illegal besetzt hatten. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich auf Partys in Räumlichkeiten war, die sich im Rohzustand befanden, mit Kabeln, die aus den Wänden hingen, improvisierten Sanitäranlagen und unfertigen Fußböden. Das Gefühl der offenen Möglichkeiten war auch dem Verfall der Stadt geschuldet. Man lebte nach dem Motto Mach-dein-eigenes-Ding-aus-Nichts. Ich erinnere mich, dass ich während meines ersten Jahres in New York mehrmals mit Freunden in den Mudd Club in der 77 White Street ging. Das war ein hässlicher kleiner Club, laut, schmutzig, überfüllt und extrem angesagt, wo die Leute massenhaft Pillen schluckten, zu ohrenbetäubender Musik auf und ab hüpften und sich großartig fühlten, weil der Türsteher sie reingelassen hatte. Ich fand diese Szene nie sonderlich anziehend, für mich hatte das schon damals etwas irgendwie Lächerliches und Verzweifeltes, aber es stimmt, dass die dunklen, leeren Straßen downtown eine Aura kreativer, destruktiver Freude hatten. Und diese punkige Alles-scheißegal-Einstellung besaß ihre ganz eigene Energie. Die Leute takelten sich auf. Abends zogen sie die absurdesten Sachen an, verrückte Outfits waren das Nonplusultra der Szene, ein Sammelsurium von Transvestiten-, Schwulenkleidung und einfach vollkommen irrwitzigem Zeug, das sich unter langweilige Heteroanzüge mischte. Der Mix war begehrenswert. Ich erinnere mich auch an mein Entzücken in der Subway. Jeder Wagen war mit Graffiti bedeckt, innen wie außen. Aus dem rechtschaffenen Minnesota kommend, fand ich diese Spraykunst wunderbar rebellisch. Die wilden, illegalen Malereien – manche schön, andere nicht – entsprachen meinen Bildern von einer ungezähmten Stadt. New York ist dieser doppelte Ort geblieben, imaginär und real, bis heute. Und ich lebe hier jetzt seit fast vierzig Jahren.

Aber seit damals hat es sich dramatisch verändert. Bürgermeister Giuliani brachte den metaphorischen »Regen«, von dem Travis Bickle in seiner berüchtigten Tirade in Taxi Driver phantasiert, und spülte mit seiner Nulltoleranzstrategie »den ganzen Abschaum von der Straße«. Und als die verblüffende Welle der Gentrifizierung in den späten neunziger Jahren weiter um sich griff, war es dann endgültig mit der Untergrundszene vorbei. Hat sich Ihre Beziehung zu New York verändert, auch wenn es eine Quelle der Inspiration für Sie bleibt?

Ja, Manhattan im Allgemeinen und die Upper West Side im Besonderen sind heute bürgerliche Oasen. 1978 war die Gegend rund um die Columbia sehr viel ungemütlicher, gefährlicher. Ich war eine arme Masterstudentin, die von fast nichts lebte und kaum ihre Miete aufbringen konnte. Ich bezahlte zweihundertzehn Dollar im Monat für ein kleines, dunkles Zwei-Zimmer-Apartment an der 309 West 109th Street zwischen Broadway und Riverside Drive. Als ich zwei Jahre später dort auszog, war die Miete um zwanzig Dollar gestiegen. Eine saftige Erhöhung, wie ich fand. Die Miete kam vor dem Essen. Geldsorgen waren mein ständiger Begleiter. Aber ich hatte auch andere Ängste. Ich lebte in einem dauernden Habachtzustand, überfallen zu werden. Meine Sinne waren jede Sekunde in Alarmbereitschaft, besonders, wenn ich zu Fuß durch mein Viertel ging. Eine junge Frau wurde im Aufzug meines Gebäudes vergewaltigt. In meinem Apartment wurde eingebrochen und alles durchwühlt, während ich ausgegangen war. Der Dieb nahm nichts mit, weil ich nichts hatte, was sich zu stehlen lohnte, keinen Fernseher, kein Radio, ja zu diesem Zeitpunkt nicht mal eine Schreibmaschine. Immerfort kursierten Gerüchte von Raubüberfällen, Messerattacken und Morden. Über mehrere Monate hinweg wurde jeder Studentin, Professorin oder weiblichen Angestellten, die die Magazine der Butler Library an der Columbia betrat, eine Trillerpfeife in die Hand gedrückt. Wir sollten kräftig reinblasen, wenn wir »in Schwierigkeiten« gerieten. Ich schätze, in der Butler lungerten Stalker und Grabscher herum. In Morningside Heights bot nicht einmal die Bibliothek Zuflucht vor Gewalt. Ich war immer auf der Hut, bereit, wegzurennen oder zu treten und zu schreien, falls mich jemand angriff.

Nachdem ich 1981 aus der 109th Street ausgezogen war, wohnte ich ein paar Monate lang bei einer Freundin, der Künstlerin Françoise Schein, in deren Loft am 422 West Broadway zwischen Prince und Spring Street, direkt neben den Kunstgalerien Castelli und Sonnabend. Ich kam mir vor, als wäre ich in den Himmel eingewandert. Downtown war es viel sicherer, viel weniger belebt. Zu dem Zeitpunkt galt die Gegend schon als schick. Das Odeon, von dem Sie...

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