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Wenn keiner singt, ist es still

Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019)

AutorRaimund Hoghe
VerlagVerlag Theater der Zeit
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783957492593
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
'Wenn keiner singt, ist es still', sagt Roma B. in Rainer Werner Fassbinders Stück 'Der Müll, die Stadt und der Tod'. Raimund Hoghe zitiert diesen Satz in seinem Porträt einer Frankfurter Hausbesitzerin, die in den 1980er Jahren gegen den Bau von Europas höchstem Hochhaus in ihrer Nachbarschaft kämpfte. Die ihr von Banken angebotenen Abfindungen in Millionenhöhe schlug sie aus und sagte Nein zur Zerstörung ihres Viertels. Der Satz von Roma B. könnte aber auch über anderen Texten stehen, die Raimund Hoghe für dieses Buch zusammengestellt hat. Sie erzählen von Menschen, die Haltung zeigen und den eigenen Weg gehen, z. B. der von den Nazis verfolgte Tenor Joseph Schmidt, die Autoren Pier Paolo Pasolini und Hervé Guibert, der Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, Gret Palucca oder Pina Bausch, über die er zuerst schrieb und deren Dramaturg er dann in den achtziger Jahren war Und ob prominenter Künstler oder unbekannte Toilettenfrau in Wuppertal: immer geht es Raimund Hoghe um Würde und Respekt.

Raimund Hoghe, geboren in Wuppertal, machte sich früh einen Namen mit Porträts von Außenseitern und Prominenten, die überwiegend in Die Zeit und in mehreren Büchern erschienen. 1980 bis 1989 arbeitete er als Dramaturg für das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, über das er auch zwei Bücher schrieb. Seit 1989 entwickelt er eigene Theaterarbeiten für Tänzer und Schauspieler aus Frankreich, Italien, Belgien, Schweden, Spanien, Portugal, Irland, Kanada, Japan, Südkorea, Brasilien, Algerien und aus dem Kongo. 1992 begann seine Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Luca Giacomo Schulte, der bis heute sein künstlerischer Mitarbeiter ist. 1994 realisierte Raimund Hoghe das erste Solo für sich, Meinwärts. Neben seiner Theaterarbeit arbeitete Hoghe häufig auch für das Fernsehen und realisierte zuletzt für ARTE den Film Die Jugend ist im Kopf über die französische Theaterleiterin Marie- Thérèse Allier (2016). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, mit seinen Stücken gastierte er in verschiedenen Ländern Europas, in Nord- und Südamerika, Asien und Australien. Er lebt in Düsseldorf.

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Leseprobe

VERGESSEN – WIE MACHT MAN DAS?


Begegnungen in einem jüdischen Altenheim


Jüdisches Altenheim, Düsseldorf, Zimmer 136. An den Wänden Bilder, Erinnerungsstücke. Frau Weiss sitzt auf dem Bett und sagt: „Was vorbei ist, ist vorbei.“ Ihre Eltern seien in Auschwitz ermordet worden, aber man müsse unter die Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen, wenn man weiterleben wolle. Sie stellt das sehr bestimmt fest und fragt, ob ich das Sprichwort kenne „Fürs Gewesene gibt der Jude nichts.“ Nein, antworte ich und weiß auch nicht, wie man das macht: vergessen.

Land verloren

die vertrauten Dinge

Kein Wort mehr darüber

Unsere Toten

intakt

wohnen bei uns

Wir teilen mit ihnen

unsere vergessliche

Erde

Rose Ausländer, Jahrgang 1901, geboren in Czernowitz, Bukowina, Jüdin, verfolgt von den Nazis, Autorin des Gedichtes Wir teilen, lebt wie Eva Weiss im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf. „Elternheim der Jüdischen Gemeinde“ steht auf dem Briefkopf des Hauses, in dem mehr als achtzig alte Menschen Platz finden, Juden deutscher, polnischer, tschechischer, rumänischer Herkunft und einige Nichtjuden. Im Zusammenleben gäbe es nicht die geringsten Schwierigkeiten, betont Heimleiter Franz Fantl, „sie sitzen nicht separat, wohnen nicht separat – das alles ist eine große Familie.“

Von großer Familie spricht auch Adolf Lilienthal, 84, und davon, dass man „außerordentlich zufrieden und glücklich“ sei. „Ausgezeichnet“ war es ihm auch vor Hitlers Machtergreifung gegangen: in Berlin hatte sich der Kaufmann Lilienthal nach dem Ersten Weltkrieg selbstständig gemacht, zunächst in der Speditions-, später in der Versicherungsbranche gearbeitet – „aber 1933 war für mich als Jude Schluss“. 1936 emigrierte er mit seiner Frau nach Portugal. „Nach den berühmten Gesetzen kamen wir mit zehn Mark da an.“ Fast vier Jahrzehnte blieb das Ehepaar in der Emigration und konnte sich im Lauf der Jahre eine neue Existenz aufbauen. „Wir lebten gut.“ Doch 1974, „nach der Revolution gingen wir weg“, zurück nach Deutschland. Der damals Achtzigjährige jüdische Emigrant fand „überall offene Türen“, und, wie er sagt, „im Altenheim eine neue Heimat. Wir haben uns wunderbar hier eingelebt.“

Im Nelly-Sachs-Haus zählt das Ehepaar Lilienthal zur relativ kleinen Gruppe der in Deutschland geborenen Heimbewohner. „Sie wissen ja: Die deutschen Juden sind im Wesentlichen ausgerottet. Auch meine gesamte Familie und die Familie meiner Frau sind ermordet worden – mit Kindern und allem. Das soll man nicht vergessen.“ Herr Lilienthal sagt das leise, ohne Hass. Wenig später zeigt er mir seine Briefmarkensammlung und lässt sich bereitwillig fotografieren. Seine Frau zieht sich während der Aufnahmen in die Diele zurück. Sie möchte nicht mit aufs Foto. Herr Lilienthal meint: „Sie hat immer noch so Angst.“

„Jeder hier hat Erlebnisse.“ Ein Satz, der mir oft gesagt wird im jüdischen Altenheim, auf dem Flur von einer 91-jährigen Jüdin, der es früher leicht fiel, über die Vergangenheit zu sprechen, „die Wahrheit zu sagen – aber jetzt kann ich es nicht mehr“, und auch von Ilse und Erich Unger, dem jüdischen Ehepaar, das noch kurz vor Ausbruch des Krieges vor den Nazis nach Chile fliehen konnte, dort einige Jahrzehnte blieb, arbeitete und überlebte. Man sei chilenischer Staatsbürger geworden, aber doch ein Fremder geblieben. „In Chile sagte man: ein Gringo“, erinnert sich der ehemalige Warenhausangestellte Erich Unger. Anfang der siebziger Jahre verließ er Südamerika, aus politischen Gründen. „Wenn Allende nicht gekommen wäre, wären wir geblieben.“ Mit zwei großen Kisten ging das jüdische Ehepaar vor fünf Jahren zurück nach Deutschland. „Jetzt ziehe ich nicht mehr weiter“, erklärt Herr Unger, und „kann nicht klagen: Die Zimmer sind schön, das Essen schmeckt mir auch, Radio, Fernsehen – wir haben alles, was wir brauchen.“ Unsicher, mit mehr offenen Fragen als vor dem Gespräch verabschiede ich mich. An der Wohnungstür holt mich Herr Unger noch einmal zurück. „Ich muss Ihnen noch etwas zeigen.“ Auf einem kleinen Bücherbord stehen Boxerhunde aus Porzellan. „Die habe ich schon in Berlin gehabt“, berichtet Erich Unger und weist nicht ohne Stolz·auf die zerbrechlichen Figuren, die die Flucht vor der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches, Emigration und Rückkehr nach Deutschland ohne äußere Spuren überstanden. Unbeschädigt sind sie über dem Buch Exodus postiert.

Wenn der Tisch nach Brot duftet

Erdbeeren der Wein Kristall

denk an den Raum aus Rauch

Rauch ohne Gestalt

Noch nicht abgestreift

das Gettokleid

sitzen wir um den duftenden Tisch

verwundert

dass wir hier sitzen

Man habe jetzt Zeit, viel zu viel Zeit, meint Hertha B., 77, und erinnert sich in ihrer gutbürgerlich eingerichteten Altenheimwohnung bruchstückhaft an die Vergangenheit. Zu dieser Vergangenheit gehört für die in Düsseldorf geborene Jüdin unter anderem das Konzentrationslager Theresienstadt. Im Februar 1945, unmittelbar nach dem Tod ihres nichtjüdischen Mannes, wurde sie in das KZ gebracht. Die dort erlebten Grausamkeiten: „Das setzt sich aus tausend kleinen Episoden zusammen – da fällt mir immer wieder anderes ein.“ Hertha B. berichtet von Anordnungen, Toiletten mit den Händen zu reinigen, sich vor den Bewachern umzudrehen, spricht von Schüssen, die im KZ auch noch nachts fielen und davon, „dass ein Menschenleben ja nicht viel galt, wir nicht Menschen, sondern Tiere waren“. Und zwischen Fernsehgerät und Wohnzimmerschrank erinnert sie sich an ihre in fremder Sprache gelernte Lagernummer. „Ich habe sie bis heute behalten.“ Die 77-Jährige im kleingemusterten Hemdblusenkleid richtet sich ein wenig im Sessel auf, spricht langsam ein paar tschechische Worte, wiederholt sie: die KZ-Nummer der Jüdin Hertha B.

Hertha B. zählt zu den wenigen Überlebenden der Konzentrationslager. Im Sommer 1945, nach der Befreiung des Lagers Theresienstadt durch die Sowjets, war sie wieder im Rheinland. „Aber ein Heim habe ich jetzt nicht mehr gehabt. Ich war die erste Zeit sehr deprimiert und total vereinsamt. Da habe ich oft vor dem Gasherd gestanden und gedacht: Entweder machst du Schluss oder gehst weg.“ Die ausgebildete Klavierlehrerin folgte einer befreundeten Familie nach Kolumbien, arbeitete in ihrem Beruf und als Korrespondentin. „Ich hatte mich gut eingelebt, aber doch immer wieder zurückgesehnt.“ Auf einem kleinen Bananendampfer fuhr die Jüdin wieder nach Deutschland, zurück in das Land, in dem über sechs Millionen Juden getötet wurden, darunter auch ihre Geschwister. „Zum Schluss kamen vorgedruckte Karten aus dem KZ zurück. ‚Abgereist‘ stand da drauf, und ‚Aufenthalt unbekannt‘.“

„Jetzt kommen so viele Erinnerungen hoch“, sagt Hertha B., geht ins Nebenzimmer und kehrt mit einigen Geldscheinen zurück. „Das war das Lagergeld – doch anfangen konnten wir damit nichts. Die Geschäfte von Theresienstadt waren nur für die im Lager stattfindenden Besichtigungen eingerichtet worden. Alles war Schau. Auch der Theatersaal, in dem Komödien aufgeführt werden sollten – aber ich habe da keine Komödie gesehen.“ Sie erzählt das, ohne Hass zu zeigen. Klagen, Anklagen äußert sie nicht. Die 77-Jährige klagt nicht über die Vergangenheit, nicht über die Gegenwart. „Alles ist geregelt, warm ist es auch – was wollen wir mehr?“, fragt die seit 1972 im Altenheim lebende Jüdin. „Selbstverständlich bleiben immer Wünsche offen“, stellt sie leise fest. „Man kommt sich schon sehr überflüssig vor und wird auch einsam – aber das muss man bestehen.“

„Man möchte ja gern allen gerecht werden, aber man möchte auch gern sich selber gerecht werden, seine eigene Stimme hören, keine frommen Wünsche haben, einmal alles verwünschen dürfen. Dieses Glück ist einem selten vergönnt“, schreibt Rose Ausländer, die nach Kriegsende in die USA emigrierte und dort als Sekretärin, Korrespondentin und Dolmetscherin arbeitende Jüdin in einem ihrer kurzen Prosatexte. Abseits nicht nur vom Kulturbetrieb lebt die 1963 in den deutschen Sprachraum zurückgekehrte Dichterin seit einigen Jahren im jüdischen Altenheim. „Ich kann leider keinen Besuch mehr empfangen“, bedauert sie am Telefon – „ich bin schwer krank.“ Der Kontakt mit der Bewohnerin von Zimmer 419 ist nur noch über ihre Bücher möglich, Texte, die Auskunft geben nicht nur über ihre Geschichte, Vergangenheit, Verfolgung, Versuche, zu...

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