Für unsere Familie brach eine unglaublich schwierige Zeit an. Nach und nach wurde uns alles weggenommen, bis nichts mehr da war. Die Hauskredite bei der Bank schnürten uns die Luft zum Atmen ab. Ich war schon zum Studieren nach Essen gezogen, bekam das alles nur noch mittelbar an den Wochenenden mit. Aber meine Mutter steckte mittendrin. Ihr war klar geworden, dass sie das Haus nicht würden halten können und dass sie sich schnell nach einer anderen Lösung für die Familie umschauen musste. Unterstützung vonseiten meines Vaters konnte sie nicht erwarten, also begann sie, sich allein darum zu kümmern. Einmal mehr in diesen Jahren war sie auf sich gestellt. Mich wollte sie nicht damit belasten, meine Brüder waren zu jung. Wie aber sollte sie in unserer prekären finanziellen Lage eine neue Bleibe für die Familie finden? Ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Meine Mutter suchte nach einer günstigen Wohnung, in der sie zu fünft einziehen konnten. Sie fragte Bekannte, bat Freunde um Hilfe. »Wenn ich wahrheitsgemäß erzählte, dass wir mit drei pubertierenden Jungs in die Wohnung einziehen wollten, wurde meist direkt abgewinkt«, erzählt sie mir heute. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, aber irgendwann hatte sie es tatsächlich geschafft und eine passende Wohnung gefunden. Die Vermieterin war eine ältere Dame, die bereit war, sich auf eine fünfköpfige Familie einzulassen. »Vielleicht, weil sie mich nett fand. Vielleicht, weil ich erzählt habe, die Jungs seien gut erzogen. Vielleicht aber auch, weil ich ihr einfach leidtat.« Als meine Mutter meinem Vater von der – endlich! – gefundenen Wohnung erzählte, geschah etwas, was sie nicht verstehen konnte. Mein Vater wollte von der Wohnung nichts wissen, er weigerte sich, sie überhaupt zu besichtigen. Er wollte partout nicht dorthin und sich diese Wohnung ansehen. Meine Mutter konnte das überhaupt nicht nachvollziehen. »Ich habe gemeckert, geschimpft und getobt. Ich habe alle Register gezogen. Doch es war nichts zu machen.«
Und dann entdeckte mein Vater plötzlich dieses alte Fachwerkhaus. Er muss irgendwann allein durch die Straßen gelaufen sein und es dabei erspäht haben. Es war eine Bruchbude mitten in der Stadt. Was er in diesem Haus gesehen hat, weiß ich nicht, aber mein Vater kam ganz glücklich nach Hause und sagte, er habe etwas gefunden. Dieses Fachwerkhaus könnte er für die Familie renovieren, somit hätte er auch wieder eine neue Aufgabe. Denn nach Abwicklung der Firma hat er zu der Zeit nicht gearbeitet. Er war ganz beseelt von seiner Idee und wollte meiner Mutter das Haus unbedingt zeigen. Natürlich ging sie mit ihm hin – und war schockiert. Das Haus hatte nicht einmal eine richtige Heizung. Die Wände waren so dünn, dass meine Brüder später witzelten: »Sollen wir die Tapete abziehen, dann können wir rausgucken?« Alles war unglaublich verwinkelt. Eine Treppe hoch, ein Zimmer auf der ersten Etage, noch eine halbe Treppe hoch, ein weiteres Zimmer; hier ein Zimmer, da ein Zimmer. Zumindest gab es viel Platz für fünf Personen, das musste man dem Haus lassen. Irgendwie schaffte es mein Vater, meine Mutter zu überzeugen. Er machte ihr weis, dass er sich um das Haus kümmern würde, dass er es umbauen und schön machen würde. Handwerklich war er wirklich sehr begabt. Allein die Vorstellung, dass er wieder eine Aufgabe hätte, die ihn ausfüllen könnte, war so verheißungsvoll, dass meine Mutter einwilligte und sich für dieses neue Haus entschied. Damals verstand sie nicht, warum er partout nicht in die Mietwohnung hatte einziehen wollen, sondern sich stattdessen diese Bruchbude ans Bein band. Heute ist sie sich sicher: »Er wollte einfach nicht in ein Haus einziehen, in dem noch andere Menschen lebten. Er wollte sich unauffällig zurückziehen können.« Sie hält es inzwischen für ihren größten Fehler, dass sie meinem Vater damals zustimmte, mit ihm in dieses Haus zu ziehen. Denn hier wurde alles nur noch schlimmer.
Meine Eltern zogen mit den Jungs aus unserem schönen Haus, an das wir heute alle noch wehmütig zurückdenken, in dieses kalte, verwinkelte, marode Fachwerkhaus. Mein Vater machte sich sofort daran, die Pläne für den Umbau und die Sanierung zu erstellen. Stunde um Stunde saß er in seinem Arbeitszimmer und brütete über den Zeichnungen und Skizzen. Wie gesagt, er liebte Pläne. Und er war sehr gut darin zu planen. Nur – es passierte nichts. Mal räumte er ein bisschen im Haus, mal besorgte er sich ein Werkzeug. Er kaufte zum Beispiel eine neue Bohrmaschine, die dann aber nicht zum Einsatz kam. Meine Mutter dachte jedes Mal, wenn er aktiv wurde: Jetzt geht es endlich los, jetzt passiert etwas, jetzt fängt er mit dem Umbau an. Heute fragt sie sich, wieso sie das so lang in dieser Art und Weise mitgemacht hat. Aber ich kann sie verstehen. Man betrügt sich in solchen Situationen ja auch ein bisschen selbst. Man möchte dem anderen glauben und ihm kein Unrecht tun. Man hält sich an dem kleinsten Strohhalm fest. Wahrscheinlich hat mein Vater sogar selbst gemerkt, dass er es nicht mehr schaffte, und wollte es nicht wahrhaben. Wenn man ihn aber damit konfrontierte, fühlte er sich sofort angegriffen. Also haben wir lieber nichts gesagt und ihm keine Vorwürfe gemacht. Ich kann daher gut nachvollziehen, wieso meine Mutter so lange stillgehalten und abgewartet hat.
Mit uns Kindern hat sie damals nicht über ihre Ängste und Sorgen gesprochen. Sie wollte uns verständlicherweise nicht belasten. Meine Brüder waren noch jung und hatten schon genug auszuhalten. Die sollten weiterhin mit ihren Freunden zusammen sein und sich nicht mit den Nöten ihrer Mutter beschäftigen. Ich selbst war in Essen und hatte mir vorgenommen, mein Studium so schnell wie möglich durchzuziehen. Je schneller, desto besser, war mein oberstes Gebot, weil ich niemandem zur Last fallen wollte. Ich arbeitete an meinem Traum, einen Job in einer Werbeagentur zu bekommen. Ach, was sage ich, einen Job in DER Werbeagentur schlechthin. Seit ich 14 Jahre alt war, wollte ich immer zu BBDO. Das war damals die weltweit größte und beste Werbeagentur mit internationalem Netzwerk, »the hottest shit«, wenn man so will. Und ich wollte unbedingt in die Werbung. Das war mein Traum. Jahrelang bemühte ich mich in dieser Branche Praktikumsplätze zu ergattern. Natürlich auch bei BBDO. Und dann eröffnete sich mir tatsächlich die Chance. Ich bekam zunächst ein Praktikum in der Strategischen Planung und Marktforschung, wechselte später in die Mediaplanung. Dort wurde ich dann tatsächlich in eine Teilzeitstelle übernommen und war meinem Ziel ein großes Stück näher gekommen. Endlich konnte ich Geld in dem Beruf verdienen, den ich schon immer ausüben wollte. Werbung war absolut mein Ding. Seit meinen Teenagertagen wünschte ich mir jedes Jahr zu Weihnachten das aktuelle Jahrbuch der Werbung, in dem die besten Kampagnen des jeweiligen Jahres veröffentlicht wurden. Diese Jahrbücher stehen bis heute in meinem Bücherregal. Eine gute Werbung zu kreieren, hat mich schon immer fasziniert. Welche Psychologie steckt dahinter? Wie funktioniert Beeinflussung? In meinem Psychologiestudium setzte ich im Hauptstudium dementsprechend den Schwerpunkt auf Medien- und Werbepsychologie. Ich fand das wahnsinnig spannend. Meine Magisterarbeit schrieb ich dann über das Thema »Parasoziale Interaktion am Beispiel vom Jugendfernsehen«, also eigentlich Wirkungsforschung des Fernsehens auf Zuschauer und umgekehrt. Das hat mir hinterher bei meiner Arbeit beim Fernsehen natürlich geholfen, Prozesse zu verstehen. Medienpsychologie eben. Zu meinem ersten TV-Casting kam ich auch eher durch Zufall. Oder besser gesagt: Ich ging zu diesem Casting, um für meine Magisterarbeit zu recherchieren, und nicht, um diesen Job zu bekommen. Ich wollte einfach Bonuspunkte von meinem Professor erhaschen. Der MDR suchte eine Moderatorin fürs Jugendfernsehen und hatte einen Aushang am Schwarzen Brett der Uni gemacht. Dass ich das Casting tatsächlich gewann und plötzlich einen Job als Moderatorin beim MDR hatte, war überhaupt nicht geplant gewesen. Aber das war mein Startschuss beim Fernsehen.
Während meiner Heimatbesuche bemerkte ich natürlich die Veränderungen an meinem Vater. Anfangs verließ er noch sein Arbeitszimmer, wenn ich nach Hause kam. Er freute sich, wollte wissen, wie es mir im Studium erging, und nahm sich Zeit für mich und den Rest der Familie. Wir saßen dann am Tisch, und er erzählte stundenlang von seinen Plänen. Er zeigte uns seine Ideen für das Haus und erzählte, dass er wieder freiberuflich als Ingenieur arbeiten wolle. Natürlich wurde auch mir irgendwann klar, dass er zwar viele Pläne hatte, aber nichts davon umsetzte. Irgendwann ließ er sich immer seltener außerhalb seines Arbeitszimmers blicken. Und oftmals stand er ganz schnell wieder vom Tisch auf und zog sich in sein Zimmer zurück. Er raffte sich noch für einen Kaffee auf und war wieder weg. Der Kontakt wurde weniger und weniger. Zwei meiner engsten Freundinnen, die ich seit meiner Kindheit kenne, bekamen den fortschreitenden Rückzug meines Vaters ebenfalls mit. Normalerweise begrüßte er sie herzlich, wenn sie zu Besuch kamen, und wollte immer wissen, was in ihrem Leben gerade los war. Aber irgendwann bekamen auch sie ihn nicht mehr zu Gesicht. Sie erlebten hautnah mit, was bei uns zu Hause los war. Sie sind bis heute Freunde der Familie, waren immer am Start, wenn es darum ging, Hilfe anzubieten. Von vielen anderen kann man das leider nicht sagen.
Ein gemeinsamer Freund meiner Eltern bot meinem Vater später noch mal eine Stelle als Ingenieur an. Ein positives Beispiel unter vielen negativen. Meine Mutter jubilierte natürlich: endlich wieder ein richtiger Job! Doch mein Vater sagte: »Ich glaube, das möchte ich nicht machen.« Meine Mutter konnte es nicht fassen. Wie bitte? Er wollte...