3 Fallstudien aus Geschichte und Literatur
Dieses Kapitel eröffne ich mit einem Gemälde von Hans Baldung Grien über die Heilige Familie, ergänzt durch weitere Bilder des Malers. Es handelt sich um Themen aus dem Neuen Testament, aber mir kommt es hier nicht auf die biblischen Inhalte, sondern auf die individuelle Gestaltung dieser Inhalte durch den Maler Baldung Grien an. Sieht man sich in der Kunstgeschichte um, so taucht das Thema der »Heiligen Familie« und der »Jungfrau/Madonna mit Kind« häufig auf. Die Darstellungen der verschiedenen Künstler sind grundverschieden. Die Gestaltung, die Form, die der Künstler dem Thema gegeben hat, sagt also etwas über ihn und seine Zeit aus. Nur diese Aussage interessiert mich hier, also wie der Maler Baldung Grien zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Mutter-Sohn-Verhältnis darstellt.22
In der zweiten Studie geht es um die historische Figur der Katharina von Medici, ebenfalls aus dem 16. Jahrhundert. Sie ist ein klassisches Beispiel für die Funktionalisierung von Kindern im Dienste der politischen Macht.
Die dritte Studie referiert die autobiographischen Erzählungen von Elias Canetti. Nach dem Tod seines Vaters entwickelte sich der junge Elias immer mehr zum Ersatzpartner seiner Mutter. Sie führte die Art von Gesprächen mit ihm, wie sie sie früher mit dem Vater geführt hatte. Er wachte eifersüchtig darüber, dass kein anderer Mann in ihr Leben trat. Außerdem projizierte die Mutter ihr Lebensziel auf ihn, nämlich den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Die Lektüre der Biografie von Canetti war für mich der Ausgangspunkt meiner Beschäftigung mit dem mütterlichen Missbrauch von Söhnen. Sie hat mich insbesondere dadurch beeindruckt, wie tiefgreifend das Leben eines Sohnes dadurch geprägt wurde.
In der vierten Studie stelle ich anhand von Zeitungsberichten über den Strafprozess die Geschichte eines französischen Frauenmörders dar, der 2001 in Toulouse zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Die Konstellation in seiner Herkunftsfamilie ist besonders extrem: Eine haltlose, verführerische Mutter, die den Sohn zum Komplizen ihrer sexuellen Eskapaden macht, und ein rigider, prügelnder, meist abwesender Vater. Seine Geschichte ist ein krasses Beispiel dafür, wie wenig in der Öffentlichkeit der Anteil des mütterlichen Missbrauchs an der Entwicklung des Frauenmörders gesehen wurde. Stattdessen haben Gericht, Verteidiger und Medien die Ursache der Gewalttätigkeit lediglich der physischen Misshandlung durch den Vaters zugeschrieben und somit den Vater zur Verantwortung gezogen. Kein Richter, Anwalt oder Journalist hat sich gefragt, wie aus der väterlichen Gewalttätigkeit ein mörderischer Hass auf Frauen entstehen konnte.
In der letzten Studie geht es um eine Mutter-Sohn-Beziehung in dem Roman »Die Verteidigung der Kindheit« von Martin Walser. Bei dem Roman als Gattung handelt es sich erklärtermaßen um Fiktion, nicht um die Beschreibung von Realität. Insofern ist dies die einzige Studie, die keinen direkten empirischen Beleg darstellt. Allerdings gehe ich davon aus, dass Literatur zumindest ausschnittsweise die Wirklichkeit abbildet und die Beschreibung der Romanfiguren daher relevant ist.
3.1 Gemälde von Hans Baldung Grien
Fast in der Mitte des Bildes (Abb. 1) sitzt die Mutter auf einer Bank. Sie trägt ein weites rotes Gewand, das bis zum Boden reicht. Daraus geht ein schwarzer Ärmel hervor, der den Arm bis zum Knöchel bekleidet. Auf ihrem Schoß auf einem Kissen steht ein nackter Knabe im Alter von etwa vier bis sechs Jahren – ihr Sohn – genau im Zentrum des Bildes. Er hat den rechten Arm um ihren Nacken geschlungen und macht mit dem linken Arm eine Bewegung, als ob er sie auch damit umfassen wolle. Sie hat den linken Arm um seine Körpermitte gelegt und umfasst mit der Hand seine Hüfte. Ihr rechter Unterarm liegt auf den Kissen, und der Sohn hat seinen Fuß auf ihre rechte Hand gestellt. Beide haben die Köpfe auf gleicher Höhe aneinander gelegt wie bei einem innigen Tète-à-Tète.
Abb. 1: Hans Baldung Grien, Heilige Familie, 1513, Innsbruck, Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum
Der Sohn hat sorgfältig gekämmte und gescheitelte Haare. Er hat einen Gesichtsausdruck wie ein Erwachsener. Auch seine aufrecht stehende Haltung entspricht nicht der eines Kindes seines Alters. Er wirkt wie ein kleiner Mann, der Besitz von der Frau ergreift. Bei genauer Betrachtung (beim Original deutlicher sichtbar als bei der Reproduktion) fällt noch auf, dass die Farbe seines Gesichts etwas rötlicher ist als die seines übrigen Körpers. Damit drückt der Maler eine Gemütsbewegung aus.
Links im Bild hinter der Mutter befindet sich der Mann (Ehemann, Vater). Halb sitzt er, halb liegt er, den linken Arm auf die Bank aufgestützt. Genauer müsste man sagen: Er »hängt herum«. Dazu passt auch sein Gesichtsausdruck: müde, erschöpft, resigniert. Eine Putte – Tochter? – legt ihm wie tröstend die Hand auf den Kopf.
Interpretation: In der Darstellung des Malers hat die Mutter den Sohn in den Mittelpunkt gestellt. Ihre Köpfe befinden sich auf gleicher Höhe. Mutter und Sohn haben eine innige Beziehung – wie zwei Verliebte.23 Das Bild hat auch einen Bezug zur Geschlechtlichkeit, zwar nicht in der Person der Mutter, deren weiblicher Körper durch das weit wallende Gewand verhüllt ist, sondern durch den Körper des nackten Knaben, dessen Geschlechtsteile deutlich zu sehen sind. Der Ehemann ist im Hintergrund »abgehängt«.
Abb. 2: Hans Baldung Grien, Marienkrönung, 1512–16, Freiburger Münster, Hochaltar Innenseite Mitteltafel
Zur Antwort auf die Frage, warum die Mutter den Sohn in den Mittelpunkt stellt, kann man ein anderes Gemälde (Abb. 2) des Malers als Darstellung der Hoffnungen der Mutter heranziehen, nämlich die Krönung der Mutter im Himmel. Beide Gemälde im Zusammenhang betrachtet legen folgende Phantasie nahe. Die Mutter will von Anfang an, dass etwas Besonderes aus dem Sohn wird: nichts weniger als ein König. Was hat sie davon, wenn der Sohn ein König wird? Ruhm und Glanz des Königs scheinen dann auch auf sie, ja sie wird selbst zur Königin gekrönt und kann herrschen. Das ist der klassische Kern der Mutter-Sohn-Verstrickung.
Auf dem Gemälde des Hochaltars des Freiburger Münsters wird der Mutter vom Sohn – jetzt ein erwachsener gekrönter König – zusammen mit dem eine Krone tragenden himmlischen Vater eine Krone aufgesetzt. Daran sind zwei weitere Aspekte bemerkenswert. Zum einen ist die Figur des Vaters rehabilitiert und integriert, und zwar in Gestalt des himmlischen Vaters. Mit ihm als dem Allmächtigen kann sich der Sohn identifizieren. Und die Mutter kann ihn als allmächtigen König akzeptieren: So hat sie ihn sich vielleicht schon immer gewünscht, bevor sie ihre Hoffnungen auf den Sohn setzte.
Der zweite Aspekt bezieht sich auf das Verhältnis von Mann und Frau im Verständnis des Malers und seiner Epoche, nämlich dass Ruhm und Macht der gekrönten Frau und Mutter eine von Vater und Sohn – von den Männern – abgeleitete Macht ist. Die Männer haben sich selbst gekrönt. An der originären Macht der Männer lässt der Maler keinen Zweifel.
Zwischen diesen beiden Bildern stellt das Gemälde »Schmerzensmann, von Maria und Engeln beweint« von 1513 (Abb. 3) die Mutter-Sohn-Dyade in einer ganz anderen Beziehung dar: Die Mutter vor Mitleid mit seinem Unglück und Schmerz zerfließend, während der Sohn mit der Dornenkrone einen ausgesprochen bitteren Zug um den Mund trägt. Woher diese Bitterkeit? Weil die Versprechungen der Mutter sich nicht bewahrheitet haben? »Retten« und »Opfern« spielen bei Mutter-Sohn-Verstrickungen eine zentrale Rolle.
Die christlich-katholische Lehre liefert mit dem Dogma der »unbefleckten Empfängnis« von Maria einen weiteren Aspekt der Geschichte der Mutter-Sohn-Verstrickung. Darin wird die Mutter als geschlechtslos idealisiert. Die Söhne verdrängen damit ihr eigenes inzestuöses Begehren ebenso wie das der Mutter. Die geschlechtlichen Frauen sind Hexen. Davon gibt es viele sehr erotische, manchmal fast pornographische Zeichnungen des Malers Hans Baldung Grien, z. B. »Hexe und fischgestaltiger Drache« von 1515 (Abb. 4) oder »Drei wild bewegte Hexen« von 1514 (Abb. 5).
Abb. 3: Hans Baldung Grien, Schmerzensmann, von Maria und Engeln beweint, 1513, Freiburg, Augustinermuseum
Diese Aufspaltung der Frau in die »reine« (d. h. geschlechtslose) Mutter einerseits und die Hure andererseits durchzieht die ganze abendländische Geschichte.
Abb. 4: Hans Baldung Grien, Hexe und fischgestaltiger Drache, 1515, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle
Abb. 5: Hans Baldung Grien, Drei wild bewegte Hexen, 1514, Albertina – Graphische Sammlung, Wien
3.2 Katharina von Medici
Katharina von Medici (1519–1589) ist ein extremes Beispiel dafür, wie es einer Mutter gelang, durch ihre Kinder, vor allem durch ihre Söhne zu herrschen. Schon die Geburt der Kinder war ein Mittel zum Zweck der politischen Herrschaft über Frankreich und Europa. Katharina erzog ihre Kinder selbst – ein für die damalige Zeit sehr ungewöhnlicher Vorgang. Der Zweck scheint klar: Katharina hielt ihre Kinder damit in enger Abhängigkeit von sich. Sie hatte vier Söhne, von denen drei nacheinander den französischen Thron bestiegen. Als Königinmutter versuchte Katharina, jeden von ihnen unter ihrer Kontrolle zu behalten, zu manipulieren und durch ihn die Herrschaft auszuüben. Vor allem die Söhne Katharinas waren als Folge ihrer Erziehung psychisch schwer gestört. Drei von ihnen starben eines frühen Todes mit unklaren...