3. Die Familie Haberlandt im Spiegel der Politik
Politisch ist die Familie Haberlandt eindeutig dem großdeutschen Lager des 19. bzw. dem deutschnationalen des beginnenden 20. Jahrhunderts zuzuordnen. Probleme bereitet hier der Begriff Deutschnationalismus. In einer Zeit, in der sich nationalsozialistische Anschauungen immer mehr verbreiteten, verschwammen auch die Grenzen zwischen Deutschnationalismus und Nationalsozialismus. Dass Ludwig Haberlandt ein Vertreter deutschnationaler Ansichten war, steht außer Frage. Ob er aber auch mit nationalsozialistischen Ideologien sympathisierte, kann heute nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Sein Sohn Walter hingegen bekannte sich offen zu seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Und gerade dieses Bekenntnis erschwert die eindeutige Abkoppelung Ludwig Haberlandts von nationalsozialistischem Gedankengut. So schreibt Walter Haberlandt etwa, dass seine „Familie ganz auf der Seite des freiheitsliebenden, großdeutschen Lagers [stand], für welches jedoch ein Aktionismus auf der Straße nicht zur Diskussion stand“.1 Auch notiert er, „daß der nationale Idealismus [der] Familie in den unruhigen 30er Jahren praktisch ungebrochen weiter bestand. Das galt für Mutter ebenso wie für Schwester Hilde, die schon seit 1932 dem illegalen [Bund deutscher Mädel] angehörte. […] Hilde hatte Glück und ebenso Bruder Hermann, der mit seinen Gesinnungsgenossen in [der] Wohnung – im Einvernehmen mit der Mutter – NS-Heimabende abhielt.“2
In diesem Zusammenhang problematisch ist letztendlich die Tatsache, dass Ludwig Haberlandt in den 1920er-Jahren im Bereich der temporären Sterilisation der Frau bahnbrechende Pionierarbeit leistete. Was ihn zu seinen Forschungen motivierte und wo er die Zukunft seines Kontrazeptivums sah, ist hinsichtlich der nationalsozialistischen Eugenik und Rassenlehre von Bedeutung. Susanne Köstering schreibt in diesem Zusammenhang, dass Haberlandt kein Rassenhygieniker war, der ‚geisteskranke‘ oder ‚schwachsinnige‘ Frauen daran hindern wollte, Kinder zu gebären, sondern mit leistungssteigernden Mitteln Eugenik praktisch verwirklichen wollte. Die Prophylaxe für die kranke Frau stand dabei im Vordergrund, wenngleich es Haberlandt seinen Rezipienten ermöglichte, seine Idee der temporären Sterilisierung als Methode zur negativen Auslese zu vereinnahmen.3
Die wissenschaftliche Abkoppelung von nationalsozialistischem Gedankengut schließt allerdings nicht aus, dass Ludwig Haberlandt als Privatmann Sympathien für die eine oder andere nationalsozialistische Auffassung hegte.
Die autobiographischen Aufzeichnungen Gottlieb und Ludwig Haberlandts lassen allerdings vermuten, dass dieselben politisch nicht aktiv agierten, wenngleich ihre deutsche Gesinnung in unzähligen Passagen mehr als nur deutlich zu Tage tritt. Friedrich Haberlandt hingegen schloss sich 1848 dem ungarischen Freikorps von Lajos Kossuth (1802–1894) an, das gegen Wien marschierte.4 Gottlieb Haberlandt schreibt hierzu, dass sein Vater den 1848er Idealen zeitlebens treu geblieben sei. Deutschtum und Weltbürgertum waren ihm kein Gegensatz.5 Walter Haberlandt fügt dem hinzu, dass Kaiser Franz Josef I. von den Achtundvierzigeraktivitäten Friedrich Haberlandts wohl keine Kenntnis hatte, als er ihn für „dessen Verdienste um die Monarchie“ in den Adelsstand6 erheben wollte.7 Selbstreflektierend berichtet Gottlieb Haberlandt, dass sein „Deutschtum […] den jüngeren Lehrern, die starke madjarische Chauvinisten waren, ein Dorn im Auge“ war.8 Was den jungen Haberlandt offensichtlich nicht weiter störte, denn ein von ihm in bürgerlicher Manier verfasstes Gedicht spiegelt seinen „geheimen Nationalstolz“ wieder:
Am Lech da standen die Madjaren,
Und munter, wie sie immer waren,
Durchschwammen sie den Fluß.
Sie stürzten auf des Königs Heer,
Das aber setzte sich zu Wehr,
Den Feinden zum Verdruß.9
An diesem vermeintlichen Widerspruch zur Freikorpstätigkeit seines Vaters, der 1848 antihabsburgische Töne anschlug, wird deutlich, wie schwierig es ist, den Begriff des ‚Deutschnationalismus‘ am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts als eindeutige, unverwechselbare Definition anzuführen. So befürworteten mitunter Vertreter der deutschnationalen Vereinigungen den Anschluss der deutschsprachigen Gebiete Österreichs an Deutschland. Am Linzer Programm10 arbeiteten unter anderem auch renommierte Persönlichkeiten wie Viktor Adler (1852–1918), der Historiker Heinrich Friedjung (1851–1920) oder der Politiker und Journalist Engelbert Pernerstorfer (1850–1918) mit.11 Selbst die österreichischen Sozialdemokraten legten bisweilen einen recht offenen Deutschnationalismus an den Tag, und die Orientierung am Weiterbestand der Donaumonarchie, wie sie Karl Renner verfolgte, stand im krassen Gegensatz zum Gedanken der sozialdemokratischen internationalen Solidarität.12
Innerhalb der Familie Haberlandt war man jedenfalls stolz auf seine ‚deutschen Wurzeln‘. Gottlieb Haberlandt berichtet unter anderem, dass sein Vater seiner Mutter 1866 mit Tränen in den Augen einen kurzen Bericht über die Schlacht bei Königgrätz vorlas. In Folge des 1867 vollzogenen österreichisch-ungarischen Ausgleiches wurde die Altenburgische Lehranstalt zu einer ungarischen Akademie umfunktioniert. Friedrich Haberlandt war zwar der ungarischen Sprache mächtig, jedoch „fühlte [er sich] zu sehr als Deutscher, um [der Karriere] halber zu bleiben. Auf seinen Antrag hin errichtete das österreichische Ackerbauministerium in Görz […] eine Seidenbauversuchsstation“, [deren Leitung Friedrich Haberlandt dann 1869 übernahm].13
Deckblatt zur Arbeit über den Seidenspinner von Friedrich Haberlandt. Scan aus dem Nachlass der Familie Haberlandt.
Politisch von größerem Interesse ist hingegen die schulische Laufbahn von Ludwig Haberlandt. In Graz schloss er sich dem „akademischen Gesangsverein ‚Gothia‘ “, einer deutschnationalen Studentenverbindung, an.14 In Innsbruck trat er dann 1913 den ‚Skalden‘ bei15, einer Korporation, die sich heute selbst als „Lebensbund nationalbewusster, parteipolitischer, unabhängiger, freiheitlicher Akademiker“ darstellt. Die Studentenverbindung steht nach eigenen Angaben für konfessionelle Neutralität, freies Denken, liberale Anschauungen und die Werte der Aufklärung. Ihre „nationale Gesinnung und deutsche Identität […] verpflichten [zum] Bekenntnis [der] ganzen deutschen Geschichte und zur deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft.“16 Von allen Skalden wird die Mitwirkung in Leistungs- und Funktionseliten sowie gesellschaftspolitisches Engagement erwartet. Zudem steht die Farben tragende Verbindung in waffenstudentischer Tradition.17
Korporationen orientieren sich grundsätzlich an Autorität, Disziplin, Selbstkontrolle und Gehorsam.18 Prägend für das Studentenleben war die Mensur.19 Viele Verbindungen verpflichteten ihre Mitglieder zu täglichen Fechtübungen. In den Korporationen sollte der „blasierte Jüngling“ zum „ganzen Mann“ herangezogen werden. Mut, Härte, das klaglose Ertragen von Schmerz und Unterordnung spiegelten das soldatische Prinzip wider und waren weder spezifisch studentisch noch neu, sondern entsprachen den Männlichkeitsidealen einer militärisch geprägten Zeit. Die Mensur, also das geregelte Duell, sollte die studentische Aufopferung für Volk und Nation symbolisieren. Narben, vor allem im Gesicht, die bei derartigen Gefechten entstanden, waren zwar nicht primäres Ziel eines Kampfes, galten dennoch als besonders maskulin.20 Ludwig Haberlandt schreibt in seinem Jahrbuch, dass er ein „blutiges Säbelduell“ für seine „Farben ausgefochten“ habe, wobei ihn ein ausgiebiger Primhieb „mit der Chirurgenkunst in recht empfindsame Beziehung brachte“.21 Auch wenn es auf Fotografien nicht erkennbar ist, dürfte Ludwig Haberlandt einen sogenannten ‚Schmiss‘ sein eigen genannt haben. ‚Schmisse‘ sind Verletzungen bzw. Narben, die durch einen Fechthieb bei der Mensur entstehen. Bis in die 1930er-Jahre galten sie als regelrechte Statussymbole unter Akademikern. Es soll sogar Studenten gegeben haben, die ihre Wunden immer wieder auseinanderzogen, um die Narbenbildung zu unterstützen.22
Neben der Mensur zählte das Biertrinken bis 1914 zu den wichtigsten studentischen Männlichkeitsritualen.23 Ganz in der Tradition des Fechtcomments entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein Biercomment, in dem die Regeln für die Trinkrituale und -spiele festgehalten wurden.24 Auch beim Alkoholkonsum bis an bzw. über die eigenen Grenzen hinaus wurde von den Verbindungsbrüdern Gehorsam und Selbstkontrolle erwartet. Die Trinkregeln zielten darauf ab, im...