I
Die Hebamme hieß Frau Rassmann und wohnte in Mathesdorf, fünf Straßenbahnstationen vom Haus der Eckerts entfernt. Die Geburt, einschließlich der zwei mal dreißig Pfennig für die Hin- und Rückfahrt, kostete elf Reichsmark.
»Die Zahl konnte ich damals und werde sie bis an mein Lebensende nie vergessen, meine Mutter rechnete sie immer wieder auf bis zum Ende«1, erzählt Janosch.
Die Stube war dunkel, denn der Strom (dessen Kosten in der Miete enthalten waren) reichte gerade mal für ein winziges Lämpchen. In der Stube stand ein Vertiko und darauf eine Jesus-Figur aus Gips mit einer Girlande aus Papierrosen und einem Heiligenschein aus Katzengold. Daneben standen der Herd mit einem speziellen Behälter zum Wassererhitzen sowie ein abgenutzter Blecheimer. Alle Bewohner der Grubenhäuser hatten ähnliche Eimer.2
Und in genau so einem Blecheimer wurde Horst, der Sohn der Hausfrau Hildegard Godny und des Reisevertreters Johann Valentin Eckert, geboren. Nach Janoschs eigenem Bericht soll er imponierende fünfeinhalb Kilo gewogen haben, »so wie eine gut gefütterte Gans«.3
Er kam in dem Jahr zur Welt, in dem das Luftschiff »Graf Zeppelin« über Schlesien geflogen war, Bela Lugosi Graf Dracula spielte und in New York das Empire State Building eröffnet wurde. An jenem Tag stand die Sonne im Zeichen der Fische. Wer in diesem Tierzeichen geboren wird, so wird Janosch später sagen, wird sich an alles erinnern, was er je erlebt hatte. Der 11.3.1931: die Einsen und die Dreien wurden zu seiner Lebensformel. Du befindest dich noch nicht ganz in der Welt, und schon ist alles festgelegt und du bist ausgeliefert.
Abb. 2 – Der kleine Horst wurde Chlopek oder Totek genannt.
Sein Vater war bei der Geburt nicht anwesend. Zu jener Zeit saß er eine dreimonatige Haftstrafe wegen Schmuggels ab – er hatte Feuersteine in den Hosentaschen nach Polen geschmuggelt. Für so einen Stein konnte man von einem Polen zehn Eier bekommen. Diese waren damals bettelarm und trugen Schuhe mit Löchern, hatten aber genug Hühner und Eier. Johann dachte, die Zöllner an der Grenze würden seine Taschen nicht durchsuchen, und falls doch, hatte er die Feuersteine schlau in ein schmutziges Taschentuch geknotet, denn:
»So einen dreckigen Fetzen werden Zöllner doch nicht anfassen wollen. Die Zöllner gehören doch zu den besseren Leuten, sind Beamte sozusagen. Die fassen nicht alles an. Der Vater trug nichts in der Hand, um nicht in Verdacht zu geraten, etwas zu schmuggeln. Und genau diese auffällige Unauffälligkeit fiel ihnen auf. Denn wer geht schon nach Polen ohne Gepäck? Wenigstens eine alte Aktentasche hätte er dabei haben müssen«, erzählte Janosch später.
Johann Eckert landete im Gefängnis. Doch schon bald wurde er zu einem unbescholtenen Bürger: »Später gelang es ihm dann, die Vorstrafe aus seinen Papieren entfernen zu lassen. Er kannte einen bei der Behörde. Das hat zwar einiges Geld gekostet, aber als Vorbestraftem würden dir auf Lebenszeit alle Türen verschlossen bleiben.«4 Vor allem die der NSDAP.
Janosch wird später in seinem ersten schlesischen Roman »Cholonek oder Der liebe Gott aus Lehm« eine Szene beschreiben, die an die Begebenheiten bei seiner Geburt erinnert:
»Bloß mit dem Stanik (Stanisław Cholonek) war das eine Qual. In Mickels schwerster Stunde saß der Lump beim Kapitza in der Kneipe, hielt große Vorträge über seinen Sohn, den er heute oder morgen gebären würde. (…) Und Mickel Cholonek, die Mutter, saß bei ihrer Mama in der Wohnung auf der Chaiselongue allein, verlassen von der ganzen Welt, mit dem Kind in ihrem Bauch, verheiratet mit einem (…), der sich einen Scheißdreck kümmerte.«5
Das Kind wurde zehn Tage später in der neuen Kirche St. Hedwig in Hindenburg getauft. Eine gemauerte Kirche wäre wegen der durch den Bergbau entstandenen Bodenschäden wohl eingestürzt, also baute man eine Kirche aus Holz, eine mächtige, zeltartige Kirche, die von vier Seiten mit Türmen flankiert war. Die Pateneltern des kleinen Horst waren die Tante Emma Eckert (die Frau von Johanns Bruder Ludwig) und Vaters Saufkumpan Viktor Sachnik. Dieser stank nach Mäusegift und Tabak, und seine Augen waren immer rot vom Suff, wie bei einem Auerhahn.
Der Junge bekam einen stolzen Kampfnamen: Horst. Der Vater, der damals mit allen Mitteln versuchte, seine polnische Herkunft zu verschleiern, um sich bei der NSDAP einzuschmeicheln, benannte den Sohn nach dem ein Jahr zuvor erschossenen SA-Sturmführer Horst Wessel, dem von den Nazis stilisierten Märtyrer.
Abb. 3a – Das Kind wurde zehn Tage später in der neuen Kirche St. Hedwig in Hindenburg getauft.
Kaum jemand nannte den kleinen Eckert jedoch beim Vornamen. Die Oma sagte Chopeczek, Chłopek oder Chopek zu ihm, der Opa Chottek, und die Kinder aus der Umgebung Tottek. Der Vater war selten nüchtern, doch wenn es hin und wieder mal vorkam, benutzte er den Taufnamen des Sohnes. Wenn er besonders gut gelaunt war, nannte er das Kind Janek – so wie ihn seine eigene Mutter einst gerufen hatte.
Und obwohl er über so viele Namen verfügte, fühlte sich der kleine Horst wie ein Namenloser. Als er erwachsen wurde, taufte er sich selbst auf den Namen Janosch.
II
Der Junge lebte mit der Familie der Mutter im Grubenhaus Nummer 6 im Ciupkaweg, so benannt nach dem in Hindenburg berühmten Bäcker Philipp Ciupka. Erst einige Jahrzehnte zuvor waren in der Straße Grubenschächte errichtet worden und mit ihnen die neue Siedlung mit Arbeiterhäusern, Kirchen, Schulen und Geschäften. Die Siedlung Hindenburg-Poremba wurde zu einem Arbeiterstädtchen, in das immer mehr neue Bewohner zogen. Der preußische Staat lockte die Bergarbeiter nach der Erschließung der »Königin Luise«- und »Königin Luise Ost«-Steinkohlegruben mit viel besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen als beispielsweise in den Gruben der Grafen Ballestrem und Schaffgotsch im benachbarten Ruda.
Der 81-jährige ehemalige Grubenarbeiter Emanuel Majnusz erinnerte sich in einem Gespräch mit der Zeitung »Przegląd«, dass die Arbeiter der »Königin Luise«-Grube jedes Jahr ein Bergarbeiterfest feiern konnten: »Jeder Kumpel bekam seine Zuteilung – 1 Kilo Wurst, 6 Brötchen, 3 Liter Bier und 5 Zigarren. In den Gruben gab es von abends bis zum nächsten Morgen Bälle, zu denen das Grubenorchester spielte. Der Eintritt war gratis.«6 Das waren mehr als anständige Arbeitsbedingungen.
Für diese Großzügigkeit bedankten sich die Einwohner von Hindenburg mit ihrer Stimme bei der oberschlesischen Volksabstimmung 1921. Ruda, das hinter dem Flüsschen Czarniawka (Scharnafka) gelegen war, fiel an die junge, gerade mal drei Jahre alte Republik Polen, und Hindenburg mit Poremba verblieb bei Deutschland.
Hier konnte man damals sowohl Polnisch, Deutsch als auch Schlesisch hören. Im März 1921 votierten in der Volksabstimmung in Oberschlesien 59,6% der Wähler der Gemeinde Zabrze für den Verbleib bei Deutschland, während 40,4% der Bewohner ihre Zukunft in Polen sahen.
Poremba war eine typische Grubensiedlung. Dort wohnte das Proletariat, die Armen, die kränklichen Bergleute, Invaliden, Hausierer, Straßenfeger, Ablader von Straßenbahnschwellen und Steinen oder einfache Schmuggler. Diese Mischung von Menschen lebte nach bestimmten Regeln und hatte ihre eigenen Gewohnheiten und Rituale. Jahrzehnte später erinnert sich Janosch an die Oberschlesier und die Bewohner der Stadt Hindenburg als eine Mischung der Kulturen und Temperamente voller oft zwielichtiger Charaktere.
Für Janosch war Poremba ein besonderer und einmaliger Ort, fast ein Paradies. Eine andere Welt kannte er nicht.
»Das Leben in Hindenburg war wie ein Leben im Wilden Westen. Die Menschen waren so verschieden wie nirgendwo anders, wie in einer Goldgräberstadt. Manche waren wie Tiere, andere wollten reich und elegant werden. So viele verschiedene Sorten von Menschen habe ich sonst nur im Paris der 70er Jahre gesehen. Der Bruder meines Großvaters Franz Eckert war ein geisteskrank tapferer Mensch. Arm weg, Bein weg, Auge weg. Und meldete sich dennoch freiwillig für den Krieg 1939. Wurde aber abgelehnt. Es gab versteckte Kommunistenführer, die in Zabrze untergetaucht waren, wie den Schlossermeister Sauer. Sehr viele wurden Nazis und extreme Mörder, z.B. als Lagerverwalter in Konzentrationslagern. Menschen morden war ihnen so eine große Freude wie Hühnerschlachten. Ich habe dort wenig gute Menschen gekannt.
Ich war in der Unterschicht geboren worden. Ich kann nur diese Unterschicht beschreiben. Es gab vielleicht noch andere Erfahrungen. Tiere wurden sehr gequält. Ich glaube, dass ein Mensch, der selbst gequält wird, den nächsten quält, über welchen er die Macht hat. Ich habe gesehen, wie Fuhrmänner (konioszki) ihr Pferd blutig prügelten, wenn es die Fuhre mit der Kohle nicht ziehen konnte und umfiel. In meinem 1. Schuljahr gab es einen Jungen, er war 10 Jahre alt, der mit so einem Pferd Kohlen transportierte und das Pferd mit dem dicken Ende der Peitsche blutig prügelte. Er hieß Ballon. Der Kaplan in der Kirche quälte die Kinder bestialisch. Er zog die Haut unter dem Kinn nach unten, bis es blutete und lachte dabei.
Fast alle Leute waren...