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Wer nicht hören kann, lernt fühlen

Die Freuden eines Lebens als gehörlose Naturärztin

AutorIngrid Mundschin-Bohn
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783743198715
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Mit drei Jahren erlitt Ingrid Mundschin-Bohn eine Hirnhautentzündung, an der sie fast gestorben wäre. In Deutschland, wo sie als Tochter eines deutschen Vaters und einer Schweizer Mutter aufwuchs, war gerade der Krieg zu Ende gegangen, die Medikamente waren immer noch knapp, und die Ärzte wollten keine Antibiotika verschwenden an einem Kind, das in ihren Augen bereits abgeschrieben war. Aber Ingrid Mundschin ließ sich nicht abschreiben, sondern wuchs zu einer lebensfrohen und selbstbewussten Frau heran, die nicht nur gelernt hat, mit ihrem Handicap zu leben, sondern sogar die Vorteile darin sehen kann. Seit über fünfunddreißig Jahren betreibt die heute 74-Jährige eine erfolgreiche Naturarztpraxis in Basel. Wie sie dahin gekommen ist und was sie alles erlebt hat, erzählt dieses Buch in spannender und unterhaltsamer Weise. Zwischen den biografischen Details finden sowohl Naturheilkundler wie auch interessierte Patienten ganz viele nützliche Gesundheits- und allgemeine Lebens-Tipps.

Ingrid Mundschin-Bohn, ursprünglich gelernte Hochbauzeichnerin, betreibt seit über 35 Jahren eine blühende Naturarztpraxis in Basel. Als ein Mensch, der mit drei Jahren sein Gehör verlor, war sie gezwungen, ihre restlichen vier Sinne zu schärfen. Und wenn man ihre Geschichte kennt, kommt man nicht umhin zu vermuten, dass da noch ein weiterer Sinn dazu kam: Ingrid Mundschin verfügt über eine außergewöhnliche Intuition, um nicht zu sagen, sie ist in hohem Masse hellsichtig. Dabei entspricht sie so gar nicht dem Klischee des entrückten Mediums. Im Gegenteil: Eine bodenständigere und lebensfrohere Natur wie die ihre findet man selten.

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Leseprobe

Im Paradies der Klänge


Am 25. April 1943 um 9 Uhr 35 erblickte ich in der Privatklinik Dr. Haas an der Richard-Wagner-Strasse in München das Licht der Welt. Es war ein Ostersonntag, und meine Mutter erinnerte mich später oft daran. Wenn sie sich über mich freute, war ich ihr „Osterhäschen“, und wenn es etwas zu schimpfen gab, reichte es nur für ein unwirsches „ach, du Osterhas’, du!“

Astrologisch gesehen ist meine Sonne im Stier, aber mein astrologischer Berater sagt, durch die Sonne und den Merkur im elften Haus und den südlichen Mondknoten im Wassermann hätte ich einiges an wassermännischer Revoluzzer-Energie im Gepäck. Das stimmt, und wenn ich dieser Energie damals schon hätte Ausdruck verleihen können, hätte ich mit Sicherheit den Doktor Haas gefragt, warum man Kinder eigentlich im Krankenhaus zur Welt bringe, und ob eine Schwangerschaft womöglich ansteckend sei.

Diese Vintage-Schönheit ist meine Mutter Mia Bohn, 1899-1984

Niemand konnte ahnen, dass ich einen Monat später wieder im Krankenhaus landen würde, aber diesmal zu Recht, mit einer Darm-Krankheit, die so schwer war, dass ich fast ein halbes Jahr im Kinder-Krankenhaus in Augsburg bleiben musste.

Aber ich sollte nicht vorgreifen, hat mir mein Schreib-Coach gesagt, also spulen wir nochmals zurück. Meine Mutter hieß Mia Bohn. Im Jahr 1939, also kurz vor Ausbruch des Krieges, folgte sie ihrem damaligen Freund, einem feschen und sehr gebildeten Flugzeug-Ingenieur, nach München. In dieser Zeit muss sie sich so sehr in diesen Walter Engelhardt verliebt haben, dass daraus Klein-Ingrid entstanden ist. Ich habe den Namen Engelhardt nie getragen, denn meine Mutter merkte bald, dass dieser Mann sie unglücklich machen würde. Ich vermute, mein Vater hat mit anderen Frauen rumgemacht, und meine Mutter war so freiheitsliebend, dass sie sich einem solchen Mann nicht unterordnen wollte. So kam es, dass ich auf den Mädchennamen meiner Mutter getauft wurde: Ingrid Bohn.

Walter Engelhardt, mein stattlicher Erzeuger.

Meine Mutter hatte meinen Vater in der Schweiz kennengelernt. Er war ein stattlicher Mann und arbeitete damals in Lindau bei den Dornier-Flugzeugwerken. Später zog er nach München, wohin ihm meine Mutter folgte, nachdem er sie mehrmals leidenschaftlich bekniet und mit Hochzeitsversprechen gelockt hatte.

Mami war Krankenschwester und täglich damit beschäftigt, Tote und Verletzte aus den Luftschutzkellern zu holen. Das muss schrecklich gewesen sein. Wir lebten zusammen in einem Haus, das als einziges intaktes Gebäude zwischen Bomben-Ruinen lag. Die Fünfzimmer-Wohnung wurde Flüchtlingen zugesprochen, die damals bevorzugt behandelt wurden, und meine Mutter, meine blinde Tante Else und ich durften uns eines dieser Zimmer teilen. Im Wohnzimmer gab es einen Brandbomben-Fleck. Über uns wohnte ein dunkelhäutiger Besatzungssoldat mit seiner weißen Frau und der kleinen Tochter Benita. Mit ihr habe ich später oft gespielt.

In den ersten zwei Jahren meines Lebens herrschte noch Krieg. Aber eine bewusste Erinnerung an Bombenalarme habe ich keine. Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich jedoch, dass ich im Alter von einem Monat erkrankt und ins Krankenhaus eingeliefert worden bin. Dort muss die Sehnsucht nach meiner Mutter und die Angst vor dem schrecklichen Sirenen-Geheul so groß gewesen sein, dass ich Verdauungsprobleme entwickelte. Diese haben sich leider bis heute gehalten. Wie heißt es so schön? Der Schuster selbst trägt die lausigsten Schuhe. Heute weiß ich auch, dass mit mir etwas passiert ist, was man „unterbrochene Hinbewegung“ nennt. Ein so kleines Kind begreift nicht, warum die Mutter auf einmal nicht mehr da ist, und es versteht auch nicht, wenn man ihm sagt, sie komme „bald wieder“. Wenn dann die Mutter endlich wieder da ist, lehnt das Kind die angebotene Liebe und Geborgenheit ab, weil es ihr nicht mehr traut. Damit habe ich mir sicher einige Chancen im Leben verbaut, aber ich sehe das Ganze trotzdem positiv. Denn dadurch, dass ich damals unbewusst beschloss, „es selbst zu schaffen“, erwarb ich wichtige Bewältigungsstrategien, die mir später sehr zugute kamen, ja vermutlich sogar überlebenswichtig waren.

Ich mit 2 Jahren, damals noch hörend.

Meine Mutter musste hart arbeiten, um uns beide durchzubringen, und weil sie wollte, dass ich gut versorgt bin, kam ich zu ihrer Schwester nach Isny im Allgäu, wo sie mich jedes Wochenende besuchte. Meine Mutter nannte ich „Mami“, die Tante war „Mutti“ und ihren Mann rief ich „Vati“. Wir wohnten im Rathaus, und Vati führte unten im Haus eine Apotheke. Im Dachstock gab es eine Art Miniatur-Stadt, die bei bestimmten Festen öffentlich ausgestellt wurde. In diesem „Puppenhaus“-Paradies durfte ich immer spielen, während es in der Abstellkammer auf den nächsten großen Auftritt wartete.

Für mein Leben gern spielte ich auch unten bei Vati in der Apotheke. Dort hatte es viele faszinierende Gefäße mit lateinischen Namen. Mit der Zeit kannte ich dreijähriger Naseweis die alle. Gewöhnlichen Zucker „Sacharum Album Pulvis“ zu nennen, das war ein erhebendes Gefühl. Auch Fremdsprachen gingen mir schon damals leicht von den Lippen. Isny lag in einer französischen Besatzungszone, und so war es für mich normal, mich mit den Soldaten in Französisch zu unterhalten.

Mutti und Vati hatten Personal, eine Flickfrau, eine Putzfrau, eine Bügelfrau und eine Näherin. Die Näherin sagte einmal zu meiner Mutter: „Das Kind ist zu g’scheit, da passiert einmal was!“ Sie sollte recht behalten; ein halbes Jahr später passierte es.

In Isny besuchte ich auch den Kindergarten. Natürlich wurde man damals noch nicht mit dem Auto dorthin gebracht, sondern man ging allein und zu Fuß. Auf dem Weg zum Kindergarten gab es eine Konditorei. Die machten im Sommer immer leckeres Eis, natürlich von Hand und mit Salz als Kühlmedium, denn damals gab es noch keine Eismaschinen. Bald hatte ich den Trick heraus, wie man zu einer Kugel Eis kommen konnte. Ich starrte diesen Eisbehälter einfach so lange an, bis der Konditor nicht anders konnte und mir eine Kugel Vanille-Eis in die Hand drückte. Auch heute noch kann ich einem guten selbstgemachten Eis nicht widerstehen.

Dass ich keinen Vater hatte, war damals nichts Besonderes. Erstens wusste man praktisch nichts von den familiären Verhältnissen der Kinder; man spielte einfach miteinander, und das war’s. Und später in der Schule waren diejenigen die Exoten, die noch einen Vater hatten, denn die anderen Väter waren alle im Krieg gefallen. Wenn ich mich richtig erinnere, hatten in meiner Klasse lediglich drei Kinder noch einen Vater.

Mein 15 Jahre älterer Bruder Hans besuchte uns manchmal in Isny, und ich wollte immer, dass er mit mir spielt. Aber der war natürlich eine andere Generation, und er konnte mit seiner kleinen, vorwitzigen Schwester nicht viel anfangen. Mein Bruder hatte zwar einen anderen Vater, aber ich habe ihn nie als „Halb“-Bruder wahrgenommen. Nur manchmal überwand er seine Scham und nahm mich auf seinem Motorrad mit auf eine Spritztour. Hans war sozusagen ein Kind der Liebe, genau wie ich auch. Meine Mutter arbeitete damals als Dienstmädchen in einem wohlhabenden Haushalt, und der Herr des Hauses fand Gefallen an dieser selbstbewussten jungen Frau. Für Hans war es ein Glück, dass die beiden etwas miteinander hatten, und ich glaube, er hat es auch immer als solches empfunden.

Hans wuchs bei einer Tante in Basel auf. Später wurde er ein erfolgreicher Bauunternehmer, und seine frühere Scham bezüglich seiner kleinen Schwester wandelte sich in eine lebenslange Bewunderung, wie er mir immer wieder versicherte. Sein biologischer Vater verstarb, als Hans sieben Jahre alt war.

Mami hatte Jahrgang 1899, war also in jungen Jahren durch zwei Weltkriege gegangen. Kein Wunder, dass sie sich nach etwas Liebe, Wärme und Geborgenheit sehnte und die Avancen der Männer nur zu gern belohnte. Nachdem sie sich allerdings von meinem Vater getrennt hatte, wollte sie von der Männerwelt nichts mehr wissen. Mein Bruder erklärte ihr mehrmals, dass sie halt zu „schnäderfräßig“ sei, ein Helvetismus, der vom schweizerdeutschen Wörterbuch als „heikel“ übersetzt wird. Was natürlich längst nicht dasselbe ist wie „schnäderfräßig“. Wenn allerdings die Geschichten stimmen, die mir Mami über die Männer in ihrem Leben anvertraut hat, dann habe ich vollstes Verständnis für sie.

Interessant finde ich, dass die klassischen Vierzigerjahre-Machos sich von dieser aufmüpfigen Revoluzzer-Braut offensichtlich angezogen fühlten. Es ist zwar praktisch, wenn man zu Hause eine gefügige und angepasste Gattin hat, die zu allem, was der Gatte befiehlt, Ja und Amen sagt, aber faszinieren tun einen dann halt schon die Frechen und Selbstbewussten.

Zu dem Zeitabschnitt vor meiner Krankheit fällt mir nur noch ein, dass ich eine Nachteule war. Ich wollte am Abend nie ins Bett; das Leben war einfach zu spannend, um einen Großteil davon zu verschlafen. Nach einer kurzen Nacht...

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