EINLEITUNG:
FASZINATION GRIECHISCHE ANTIKE – MYTHISCHE VERKLÄRUNG UND REALE KULTURGESCHICHTE
Im Anfang war das Licht. Das Licht der frühen Zivilisationen ging im Osten auf (»ex oriente lux«) und strahlte bis nach Europa. Die Barbarei Europas trat aus ihrem unkultivierten Dunkel ins Licht und nahm die zivilisatorischen Segnungen entgegen, die Schrift von den Phöniziern und die Zeitrechnung von den Babyloniern. Mit diesem Rüstzeug gelang es ihnen, ihre eigene Zivilisation aufzubauen, die der Griechen, die ihrerseits auf andere Völker ausstrahlte. Man könnte hier anschließen: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.« Haben wir es hier mit einem Märchen zu tun? In der Tat sind die Märchenerzähler nicht ausgestorben, und immer neue Generationen erzählen die alten Geschichten. Was uns Europäern durch unsere Schulausbildung vertraut ist, hört man sich gerne immer wieder an, so wie es Kinder gern haben, wenn ihnen bestimmte Märchen immer aufs Neue vorgelesen werden.
Von den Mythen, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden sind und sich um die antike Zivilisation der Griechen ranken, hat der Mythos vom Licht aus dem Osten Eingang in den Kanon der Schulausbildung gefunden. Als festes Versatzstück des Geschichtsunterrichts wird die Erleuchtung der europäischen Barbarei durch orientalische Zivilisiertheit seit Generationen für den Aufbau kulturorientierten Wissens mobilisiert, und dieser Trend scheint ungebrochen, unabhängig davon, dass die wissenschaftliche Forschung bereits vor vielen Jahren berechtigte Zweifel am Wert solcher kulturhistorischer Klischeevorstellungen angemeldet hat. Im Grunde genommen handelt es sich bei den Versatzstücken zur Kulturgeschichte, die zum Kanon des Schulunterrichts gehören, um die Kombination zweier Mythen: Auf die Basis des Lichtmythos werden selektiv Kernelemente des »Griechenmythos« von der Einmaligkeit aufgepfropft.
Der Zeitgeist vom Licht aus dem Osten wird seit den Zeiten der Aufklärung bis heute in immer neuen Variationen beschworen. Es hat sich eine Denkweise verfestigt, wonach es vor dem Aufstieg der griechischen Hochkultur keine vergleichbaren zivilisatorischen Standards gegeben haben kann. Mit diesem märchenhaft verschleierten Geschichtsbild ist auch der Autor des vorliegenden Buches aufgewachsen. Vor dem Hintergrund solch fest gefügter Wertungen ist es eine besondere Herausforderung, will man die Qualität vorgriechischer Kulturstufen von einem unabhängigen Standort aus einschätzen.
Die Mythenbildung rings um das Thema des Lichts aus dem Osten hat den Autor durch die Schule und die Universitätsausbildung begleitet. Schon früh keimten im kritischen Geist des jungen Hobbyforschers Zweifel auf, wie es denn sein kann, dass die Europäer angeblich so lange in kultureller Unterentwicklung gelebt hätten. Aber es fehlte ihm noch das Rüstzeug, um seinen eigenen Weg in der Betrachtung der Kulturgeschichte zu finden. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis seine Zweifel schließlich konkrete Form annahmen, bis sich ein Alternativbild abzuzeichnen begann, ein Korrektiv zu den überkommenen Klischees.
In diesem Kanon der Schulweisheiten, mit denen wir erzogen werden, bleibt kein Platz für realistische Überlegungen. Eine davon mündet z. B. in der Frage, wie es denn sein kann, dass die Griechen ihre Hochkultur sozusagen aus dem Nichts aufbauten. »Von nichts kommt nichts«, hat der vorsokratische Philosoph Parmenides (5. Jahrhundert v. Chr.) formuliert, und diese Erkenntnis ist von bleibendem Wert. Der gesunde Menschenverstand und die Erkenntnisse der modernen Forschung zur Problematik kultureller Kontinuität stimmen darin weitestgehend überein, dass keine Zivilisation der Antike bei null angefangen hat, sondern dass es jeweils lokale Vorbedingungen gab, die die Entstehung einer Hochkultur ermöglichten und die Entwicklung vorantrieben.
Es ist somit berechtigt, den Wahrheitsgehalt des europäischen Geschichtsbildes zu hinterfragen, das uns den nahöstlichen Kulturimport als Auslöser für den Innovationsschub der griechischen Zivilisation nahelegt. Die Forderungen der modernen Forschung über antike Kulturgeschichte nach einer Revision althergebrachter Schulweisheiten werden immer dringlicher. Im Licht neuen Wissens hat der Griechenmythos, das kanonische Klischee des europäischen Bildungsbürgertums, längst ausgedient. Es ist höchste Zeit, dass an seine Stelle ein aktualisiertes Bewusstsein kulturhistorischer Realitäten tritt.
Die griechische Zivilisation hat zwar Impulse aus dem Nahen Osten empfangen, aber dies erst zu einer Zeit, als die Grundlagen für ihre eigene Zivilisation bereits aufgebaut waren. Und der Aufbau der griechischen Zivilisation mitsamt ihren Institutionen hatte einheimische Vorbilder aus Europa. Die Griechen der Antike haben sich für den Aufbau ihrer eigenen Hochkultur an den Errungenschaften ihrer Vorgänger in Südosteuropa bedient wie an einem Steinbruch. Das Image der klassischen griechischen Zivilisation ist im Wandel begriffen und wird heute eher als das einer Mosaikkultur verstanden, deren Wurzeln in eine tiefere Dimension der Zeit greifen als spätere Einflüsse aus dem Osten.
Das Licht, das diese Mosaikkultur zum Strahlen brachte, kam nicht von weit her, sondern war sozusagen hausgemacht europäisch. Das Licht aus dem Westen, das lange Zeit wie der Stoff einer dunklen Materie behandelt wurde und vom Geröll der mesopotamischen Mythenbildung verschüttet geblieben war, ist inzwischen freigelegt und strahlt mit eigener Kraft. Die neueren Erkenntnisse der Kulturwissenschaft, der Archäologie und der Sprachkontaktforschung weisen in folgende Richtung: Das Fundament der griechischen Antike ist weder ein Eigenbau der Griechen selbst noch ein Kulturimport von außerhalb Europas, sondern ein Gebilde, das auf Vorgaben einer älteren einheimischen Kulturtradition, der Zivilisation Alteuropas (bzw. der Donauzivilisation), aufbaut.
Das sogenannte »griechische« Kulturerbe unserer westlichen Zivilisation ist ein Multikulti-Produkt im positiven Sinn. Seine Wurzeln reichen bis ins europäische Neolithikum zurück. Immer mehr Einblicke in das Wirken des kulturellen Gedächtnisses bei den Griechen (und auch bei anderen Völkern Südosteuropas) lassen immer mehr Konturen einer facettenreichen, traditionsorientierten Identität erkennen, mit der die Menschen in der Antike lebten und die sie an die nachfolgenden Generationen weitervermittelt haben.
Die griechische Zivilisation, so wie sie uns in der klassischen Antike entgegentritt, ist das Produkt einer kulturellen Fusion. Da ist die einheimisch-alteuropäische Komponente, die sich eigenständig in Südosteuropa entwickelt hatte, lange bevor helladische Gruppen von Indoeuropäern aus dem nördlichen Balkan in die Region einwanderten, die sie zu ihrer Heimat machten und später Hellas nannten. Und da ist das kulturelle Erbe, das die Migranten aus ihrer Urheimat in der eurasischen Steppe mitbrachten. Diese Migranten waren ursprünglich Viehnomaden, die sich im Kontakt mit den sesshaften Ackerbauern akkulturierten und selbst zur Pflanzenkultivation überwechselten. Aufgabe dieser Studie ist es, die Kultursymbiose zwischen einheimischen Alteuropäern und den nach Griechenland einwandernden Migranten aus dem Norden auszuleuchten.
Die frühgriechischen Neusiedler der Bronzezeit, die Hellas als ihre neue Heimat wählten, haben vieles von ihren Vorgängern übernommen. Zum alteuropäischen Kulturerbe gehören sowohl materielle Elemente (das Sichtbare in der Kultur) als auch symbolische Formen (die unsichtbare, geistige Kultur). Die Leistung der Griechen besteht darin, dass sie vorgriechische Errungenschaften weiterentwickelt und perfektioniert haben. Wenn wir uns klarmachen wollen, in welchem Umfang und in welchen Bereichen sich das alteuropäische Kulturerbe im Griechentum nachweisen lässt, sind wir auf die Erkenntnisse der verschiedensten Disziplinen angewiesen, die mit der Antikenforschung zu tun haben.
Der einzige Forschungsansatz nämlich, der Erfolg verspricht, um die Verankerung der Grundpfeiler der griechischen Mosaikkultur auszuleuchten, ist eine Annäherung auf interdisziplinärer Basis. Das Tor zu einer Gesamtschau öffnet sich in unserem Fall über die historische Sprachforschung, deren Erkenntnisse mit den Befunden der Kulturwissenschaft, der Religionsgeschichte, der Archäologie, der Epigrafik (Erforschung des Inschriftenmaterials) sowie mit dem Studium literarischer Quellen der Antike abgeglichen werden müssen.
Inzwischen sind die Elemente des vorgriechischen Lehnwortschatzes nach dem neuesten Stand der griechischen Wortgeschichte (Etymologie) abgesichert worden (Beekes 2010, Haarmann 2014). Die Zahl der Substratwörter im Altgriechischen beläuft sich auf mehr als 2000 Elemente, die vom Autor dieses Buches in einer Datenbank registriert worden sind. Dabei handelt es sich um solche Ausdrücke, die als Entlehnungen aus der (vor-indoeuropäischen) Sprache der einheimischen Alteuropäer (Substratsprache) von den frühen griechischen Neusiedlern in ihre (indoeuropäische) Sprache übernommen wurden. Solche frühen Lehnwörter...