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Per Anhalter durch die Antike

1400 Jahre griechisch-römische Geschichte und ihre Aktualität

AutorAlexander Rubel
Verlagmarixverlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783843805513
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Das, was wir heute geläufig als 'Antike' bezeichnen, ist mehr als eine zeitlich ferne Epoche. Die Antike ist seit der Renaissance Vorbild und Kristallisationspunkt der Moderne, der Aufklärung und der gesamten Wissenschaft. Auf ihren geistigen Hinterlassenschaften errichteten Denker, Philosophen und Staatsmänner die Grundpfeiler des heutigen Europas und unserer westlichen Welt. Alexander Rubel liefert einen kenntnisreichen Überblick über die sozial- und geistesgeschichtlichen Realitäten der Antike und macht darüber hinaus die Bedeutung dieser Gründungsepoche des Abendlandes für unsere Gegenwart deutlich. Dem Leser eröffnet sich die schillernde Welt einer der spannendsten und prägendsten Epochen, mit ihren strahlenden Triumphen und dunklen Abgründen. Dieses Buch macht in verständlicher Form und mit erhellenden Beispielen deutlich, dass unsere moderne Welt 2.0 ihre 'fremd gewordenen Fundamente' (Manfred Fuhrmann) nicht verleugnen kann. Die Beschäftigung mit der positiven Kraft der Antike ist für unsere Gesellschaft ein Gewinn.

Prof. Dr. Alexander Rubel, ist Inhaber einer Forschungsprofessur am Archäologischen Institut der Rumänischen Akademie in Jassy, dem er seit 2011 als Direktor vorsteht. Neben Arbeiten aus dem engeren Bereich von Archäologie und Alter Geschichte publiziert er regelmäßig zu breiteren kulturgeschichtlichen Themen. Seine Forschungsschwerpunkte sind das klassische Griechenland, antike Religionsgeschichte, die Romanisierung in den Provinzen des römischen Reiches und die Rezeption der Antike in Mittelalter und Moderne.

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Leseprobe

1.


GIECHENLAND


1.1. Archaische Zeit: Die Geburt des Stadtstaats, Adelskultur und Tyrannis


Einstieg ins Thema: Was uns Scherben mitteilen können.

Abb. 1 zeigt eine Tonscherbe, auf der griechische Buchstaben eingeritzt sind. Diese kleine Scherbe ist gewissermaßen die Nussschale, in die ich das gesamte antike Griechenland hineinpacken möchte. Das ist vielleicht etwas vermessen, aber man wird sehen, dass viele Aspekte der griechischen Lebenswelt sich anhand dieses kleinen Stücks Ton anschaulich machen lassen.

Abb. 1: Óstrakon mit der Aufschrift »Aristeides Lysimacho«

Zunächst einmal handelt es sich bei der Scherbe um ein sogenanntes Óstrakon, eine beim athenischen Scherbengericht, dem Ostrakismós, verwendetes Stimmtäfelchen. Das Scherbengericht war eine bemerkenswerte Institution, mit der die Athener unliebsame Politiker für zehn Jahre ohne weitere Angabe von Gründen in die Verbannung schicken konnten (nur noch die Stadt Syrakus auf Sizilien verfügte über ein ähnliches Verfahren, bei dem aber Olivenbaumblätter verwendet wurden). Diese Erfindung entsprang der Furcht der Athener, eine unter den maßgeblichen Führungspersönlichkeiten könnte sich zum Alleinherrscher, zum Tyrannen aufschwingen. In der Praxis diente diese Institution aber im 5. Jh. v. Chr. dazu, grundlegende Entweder-oder-Entscheidungen zu vereinfachen, indem man den Meinungsführer einer politischen Richtung oder Handlungsoption ins ehrenhafte Exil verbannte: also aus den Augen, aus dem Sinn. Der erste Ostrakismós ist für 487, der letzte für 417 v. Chr. überliefert. Später wurde die Institution stillschweigend aufgegeben, aber nicht abgeschafft.

Diese Óstraka, von denen man in Athen über 11 000 gefunden hat, tragen immer einen Namen eines Politikers, denn jeder Athener durfte einen ganz beliebigen Namen (es gab keine »Shortlist« von Verbannungskandidaten) auf eine Stimmscherbe ritzen. Das geschah maximal einmal pro Jahr und auch nur, wenn die Mehrheit der Volksversammlung, Ekklesía genannt, die Versammlung der männlichen, erwachsenen Bürger, für die Abhaltung eines Scherbengerichts votierte. Dann mussten mindestens 6000 Stimmen auf einen einzigen Mann fallen, damit dieser ins Exil geschickt werden konnte. Unser Óstrakon nennt Aristeides, Sohn des Lysimachos. Und tatsächlich musste Aristeides, den man »den Gerechten« nannte, im Jahr 483 v. Chr. ins Exil gehen. Er lag seinerzeit im Streit mit einem anderen Meinungsführer, Themistokles. Inhaltlich ging es in der Auseinandersetzung darum, wie man gegen die Bedrohung durch das Perserreich vorgehen sollte. Als die Perser dann 480 v. Chr. mit Heeresmacht nach Griechenland kamen, wurde Aristeides, wie alle im Exil weilenden Führungskräfte, im Rahmen eines »Burgfriedens« zurückbeordert und kämpfte als gewählter General, Stratege genannt (es gab in klassischer Zeit neun Strategen, die jährlich gewählt wurden), loyal an der Seite des Themistokles, der den athenischen Oberbefehl innehatte.

Was sagt uns aber diese 2500 Jahre alte Tonscherbe über die griechische Antike, außer der immerhin faszinierenden Tatsache, dass es sich um ein reales, physisches Überbleibsel einer spannenden politischen Richtungsentscheidung handelt? Grundsätzlich zeigt uns die Scherbe und die mit ihr verbundene Prozedur, dass bei den Griechen, zumindest den Athenern, eine ganz besondere politische Debattenkultur existierte, die bisweilen klare Richtungsentscheidungen erforderlich machte. Darüber hinaus zeigt die Institution des Scherbengerichts eine auffällige Erfindungsgabe für komplizierte Verfahrensweisen. Auf die Idee, in dieser Weise, einmal pro Jahr, aber nur auf Verlangen der Mehrheit abzustimmen und dann mit einem hohen Quorum als Regulativ gegen Politiker-Bashing, muss man erst einmal kommen!

Ein anderer Aspekt, der sich anhand der Óstraka aufzeigen lässt, ist die herausragende Bedeutung des Materials, das uns in diesem Fall in Form von kreativem Recycling begegnet: Die Keramik. Für die Antike meistens Alltagsgeschirr, sind viele erhaltene griechische und römische »Vasen« heute wertvolle Museumsstücke, und für bemalte Keramik aus Korinth oder Athen werden bei Sotheby’s Spitzenpreise erzielt. Keramik und ihre Nutzung war ein wichtiger Teil des Alltagslebens in der Antike. Ein ganzer Wirtschaftszweig ernährte sich von der Produktion dieser fragilen Ware, etwa die Meister und Händler im Töpferviertel Athens, dem Kerameikos.

Gebrannter Ton überdauert die Zeiten wie kaum ein anderes Material und ist deshalb für die Archäologen von eminenter Bedeutung. Da Gefäße aus Ton (die Archäologen sprechen von Vasen – von italienisch vaso; mit dem gebräuchlichen deutschen Wort für ein Behältnis für Schnittblumen hat der Begriff jedoch nichts zu tun) leicht zu Bruch gehen und im Gegensatz zu wertvollen Metallprodukten nur in Ausnahmefällen – wie beim Scherbengericht – wiederverwendet werden können, bilden die Millionen Tonscherben aus der Antike, die die Zeiten überdauert haben, eine der wichtigsten Quellen für die Archäologie. Das betrifft einerseits kunst- und kulturgeschichtliche Sachverhalte, denn viele der griechischen Vasen sind mit wunderbaren Motiven aus der Mythologie und auch aus dem Alltagsleben bemalt. Andererseits aber bilden die Überreste der griechischen (wie überhaupt antiker) Keramik die Grundlage eines chronologischen Gerüstes, das auf der Analyse der relativen Abfolge von Stil- und Formentwicklungen sowie Herstellungsweisen basiert.

Dieser von ästhetischen Fragen völlig unabhängige Aspekt antiker Keramik wird angesichts der kunstgeschichtlichen Bedeutung wertvoller Vasen oft etwas vernachlässigt. Die Experten, die ihr Leben damit zubringen, etwa korinthische Keramik systematisch in ein chronologisches Gerüst einzuordnen und auf ihre relative und absolute Chronologie hin abzugleichen – in vielen Fällen können Vasen sogar definitiv bestimmten Malern zugeordnet werden –, gehören nicht immer zu den Stars der Branche (und manche von ihnen haben auch vergessen, dass es außer Tonscherben noch andere Dinge auf der Welt gibt). Ohne sie wären viele chronologische Einordnungen und absolut chronologische Anpassungen von archäologischen Funden aber kaum möglich. In jedem Fall ist uns die (Alltags-)Keramik wichtiger, als sie den Griechen oder Römern war. Sie haben sie achtlos nach Gebrauch weggeworfen. Wir freuen uns heute über jeden Neufund von noch so kleinen Scherben in den Müllhalden antiker Siedlungen, erst recht, wenn Namen wie Aristeides, Themistokles oder Perikles darauf eingeritzt sind.

Für einen weiteren Aspekt, der sich aus unserem Scherbengerichtsbeispiel ergibt, müssen wir Abb. 2 und den griechischen Autor Plutarch bemühen, der rund 500 Jahre nach diesen Ereignissen seine Informationen darüber aufschrieb: Plutarch berichtet uns in seiner Biographie des Aristeides (Kap. 7), dass ein Bauer an diesem Ostrakismós des Jahres 483 v. Chr. teilnahm und seinen Nachbarn in der Volksversammlung bat, ihm doch behilflich zu sein, den Namen Aristeides auf eine Scherbe zu ritzen. Auf die Frage des hilfsbereiten Nachbarn, was er denn gegen diesen Aristeides habe und ob er ihn überhaupt kenne, gab der Bauer zu verstehen, dass ihn an diesem ihm unbekannten Politiker lediglich ärgere, dass er sich »der Gerechte« nennen lasse. Der Angesprochene, der, wie gebeten, den gewünschten Namen auf die Scherbe ritzte, war natürlich niemand anderes als Aristeides »der Gerechte« selbst.

Ganz erstaunlich ist aber das Óstrakon in Abb. 2, auf dem der Name Aristeides mit unsicherer, zittriger Hand, der zur Identifizierung eines Bürgers nötige Vatersname darunter dann zunächst falsch geschrieben und im Anschluss durchgestrichen wurde. Die gleiche unsichere Hand hat auch den Namen des »Demos«, des dörflichen Verwaltungsbezirks von Athen, in welchem Aristeides zu Hause und in dem sein Name in die Bürgerliste eingetragen worden war – nämlich den des Demos »Alopeke« –, fehlerhaft eingeritzt und durchgestrichen. Darunter findet sich jedoch mit anderer, kräftiger, gut lesbarer Handschrift neu geschrieben der zunächst verhunzte und dann durchgeschriebene Vatersname »Lysimachos« (im Genitiv, im Sinn von »Sohn des Lysimachos«). Hier hat ganz klar ein hilfsbereiter Mitbürger mit besseren Schreibfertigkeiten ausgeholfen; vielleicht wirklich Aristeides, der Gerechte, selbst?

Abb. 2: Óstrakon mit Einritzungen von unterschiedlicher Hand

Auch wenn wir skeptisch bleiben und trotz dieses Óstrakons nicht annehmen wollen, dass die viel zu schöne Anekdote Plutarchs den Tatsachen entspricht (Funde von seriell, mit gleicher Hand beschriebenen Óstraka mit einem einzigen Namen, die wohl von den Gegnern vor der Versammlung verteilt worden waren, lassen Zweifel berechtigt erscheinen), wirft der Sachverhalt doch ein Licht auf eine für die...

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