EINLEITUNG: EINE NEUE EPOCHE MENSCHLICHER BEWEGUNG
Ich bin oft im Flugzeug quer durch das Land unterwegs, um mit Athleten, Coaches, Teams aus dem Profisport, Betreibern von CrossFit-Boxen, Firmen und Spezialkräften des Militärs zu arbeiten. Dabei komme ich zwangsläufig mit der armen Seele ins Gespräch, die an den Sitz neben mir gefesselt ist. Meist folgt bald die Frage: »Und was machen Sie beruflich?«
Dutzende Antworten schießen mir in so einem Moment durch den Kopf.
»Ich mache die besten Athleten der Welt noch besser«
»Ich arbeite für die Regierung, um die körperliche Fitness unserer Streitkräfte zu optimieren«
»Ich arbeite mit Athleten und Trainern, damit sie die üblichen Probleme, die zum Verlust von Drehmoment, Kraft und Leistung führen, verstehen und lösen können«
»Ich versuche die Bewegungsökonomie der Menschen von der auf Zufall basierenden ›Jagd nach Spannung‹ auf nachhaltigen und ertragreichen Drehmomentsbetrieb umzustellen«
»Ich entfache eine Revolution. Ich versuche Menschen in die Lage zu versetzen, ihr Leben ganzheitlich und schmerzfrei zu führen und sich optimal zu entfalten«
Nein, im Flugzeug erwähne ich von all dem nichts, im Gegensatz zu den folgenden Seiten. Ich sage einfach nur: »Ich bin Lehrer.« Schon werden die Augen glasig, und das Gespräch stockt. Aber gelegentlich ist mein Sitznachbar neugierig und fragt: »Was unterrichten Sie denn?« - vollkommen ahnungslos, wie sehr ich von Bewegung und Leistung besessen bin, aber kurz davor, es herausfinden zu müssen.
Was ich lehre - und was Sie in diesem Buch grundlegend kennenlernen werden -, ist ein multifunktionales, außerordentlich effektives Bewegungs- und Mobilitätssystem. Lernen und praktizieren Sie es, wenden Sie es an - und Sie werden sich in jeder Situation richtig bewegen. »Jeder« bedeutet: sowohl in Ruhe als auch während der anstrengendsten körperlichen Aktivität, beispielsweise während eines olympischen Wettkampfs oder eines militärischen Einsatzes.
Es handelt sich um ein Kraft- und Konditionssystem, das auch als Diagnosewerkzeug dient. Mit ihm können Sie übliche haltungs- und bewegungsbezogene Fehler, die zu eingeschränkter Leistung und womöglich Verletzungen führen, vorhersagen, aufdecken und beheben.
Mit einiger Übung entwickeln Sie sich so weit, dass Ihnen Ihre vollständigen physischen Möglichkeiten jederzeit zur Verfügung stehen, und zwar auf der Grundlage optimaler motorischer Kontrolle und größtmöglichen Bewegungsumfangs. Sie könnten das menschliche Pendant eines geschmeidigen Leoparden werden, immer aktionsbereit. Mein System gibt Ihnen die Werkzeuge, um die physischen Einschränkungen aufzuheben, die Sie davon abhalten, Ihr Potenzial auszuschöpfen.
Ist das, was ich lehre, radikal neu? Einerseits ja, andererseits aber auch nicht. Ich bin der bislang Letzte in einer langen Reihe von Lehrern, die Bewegung so optimieren wollen, dass ein Maximum an Leistung dabei herauskommt - konstant und ohne Verletzung.
Sicherlich beschäftigen sich Menschen schon seit langer Zeit damit. Es hat immer wieder neugierige und intelligente Menschen gegeben, die sich mit dem Körper auseinandergesetzt haben. Es gibt ein über 1000 Jahre altes Bild auf einer Münze, das einen Mann im Lotussitz zeigt - eine Haltung, die der Wirbelsäule und damit dem Rücken mehr Stabilität verleiht. Vor nicht ganz so langer Zeit, etwa vor 350 Jahren, schrieb der japanische Samurai Miyamoto Musashi über die Wichtigkeit, den Bauch anzuspannen und Knie und Füße in der richtigen Stellung zu halten: »Wende deine Kampfhaltung auch im Alltag an.« Eine im Grunde schon perfekte Anweisung aus Musashis berühmtem Text Das Buch der fünf Ringe.
In Wirklichkeit kennen wir bereits die sicheren, stabilen und Verletzungen vorbeugenden Haltungen des Körpers. Sie sind kein Geheimnis. Menschen waren schon immer davon fasziniert, herauszufinden, wie man Bewegungseffizienz optimiert. Deshalb gibt es so viele universell anwendbare Systeme, die lehren, wie wir uns, unabhängig von der Aktivität, sicher und effektiv bewegen. Wir sind hier die Nutznießer eines fantastischen Zusammenflusses von Wissenschaft, Theorie, Technologie, Disziplinen und Ausdrucksformen.
Obwohl wir darauf achten müssen, ältere Lehren und Systeme nicht zu vergessen, gibt es bestimmte Faktoren, die ein »Goldenes Zeitalter menschlicher Leistung« ausgelöst haben. Die Menschen waren schon immer stark, aber heutzutage sind außerordentliche physische Fähigkeiten eher die Regel als die Ausnahme. Moderne Menschen haben sich körperlich nicht besonders weiterentwickelt, dennoch beweisen wir immer wieder, dass das Unmögliche möglich ist. Was hat sich verändert? Was unterscheidet moderne Athleten so sehr von körperlich gleichen Vorfahren?
Motorische Kontrolle: Der bewusste und unbewusste Ausdruck idealer Biomechanik oder Bewegung. Wenn einem Athleten die motorische Kontrolle fehlt, um eine Bewegung zu absolvieren, dann fehlt ihm die Technik, um die Bewegung korrekt auszuführen.
Bewegungsumfang: Das Ausmaß, in dem Sie ein Gelenk in eine vorgegebene Richtung bewegen können. Wenn Ihnen etwa Bewegungsumfang über Kopf fehlt, sind Sie aufgrund einer Einschränkung eines oder beider Schultergelenke nicht in der Lage, die Arme in die ideale Über-Kopf-Haltung zu heben.
Das Goldene Zeitalter körperlicher Leistung
Was das Leben heute so aufregend macht, ist der Umstand, dass wir uns in einer Zeit optimierter menschlicher Bewegung befinden. Körperbeherrschung kann sich jeder aneignen. Wir erleben einen Quantensprung in der Qualität und Wiederholbarkeit der Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers. Wenn wir uns das Maximum menschlicher Leistungsfähigkeit als eine Art Goldenen Schnitt vorstellen, dann hat die heutige Generation an Trainern und Athleten das Äquivalent eines Fibonacci-Sprungs mit Lichtgeschwindigkeit erreicht.
Es ist verrückt, aber sogar meine Mutter ernährt sich glutenfrei und gibt gelegentlich mit ihrem Rekord im Kreuzheben an.
Was ist los? Was unterscheidet die Zeit, in der wir leben, so von früheren Zeiten? Der Unterschied besteht darin, dass das Zusammenwirken vier verschiedener Faktoren ein neues Goldenes Zeitalter menschlicher Leistungsfähigkeit geschaffen hat.
Faktor 1: Durch das Internet und die modernen Medien können Ideen weltweit geteilt werden, anstatt in den Köpfen oder Aufzeichnungen weniger Wissender zu verharren. Vor zehn Jahren musste man lange suchen oder Glück haben, um einen Trainer für Gewichtheben zu finden. Heute sind Reißen und Stoßen, die beiden olympischen Disziplinen, weit verbreitet.
Was ist ein geschmeidiger Leopard?
Die Frage »Was bedeutet das, ein geschmeidiger Leopard zu werden?« stellen Sie vollkommen zu Recht, und sie verdient eine Antwort.
Mich haben Leoparden schon immer fasziniert: kraftvoll, schnell, anpassungsfähig und heimlich - total krasse Typen.
Im Alter von 14 Jahren sah ich zusammen mit meinem Vater den Film Gallipoli, der von zwei australischen Sprintern handelt, die im Ersten Weltkrieg in der Türkei kämpfen. Zu Beginn wird Archy, ein hoffnungsvoller Leichtathlet, von seinem Onkel Jack trainiert. Der aufmunternde Dialog ging so:
Jack: Was sind deine Beine?
Archy: Federn. Stahlfedern.
Jack: Was werden sie tun?
Archy: Mich über die Strecke schleudern.
Jack: Wie schnell kannst du laufen?
Archy: So schnell wie ein Leopard.
Jack: Wie schnell wirst du laufen?
Archy: So schnell wie ein Leopard!
Jack: Dann wollen wir mal sehen.
Das Mantra »So schnell wie ein Leopard!« behielt ich stets im Gedächtnis. Aber erst nachdem ein befreundeter Navy SEAL mir sagte: »Weißt du, Kelly, ein Leopard macht kein Workout«, nahm die Idee, ein geschmeidiger Leopard zu werden, Gestalt an.
Natürlich macht ein Leopard kein Workout! Ihm stehen seine körperlichen Fähigkeiten jederzeit zur Verfügung. Er kann stets mit voller Kraft angreifen und sich verteidigen. Im Gegensatz zu Menschen muss er sich nicht aufwärmen, er braucht nicht erst seine Gesäßmuskeln zu aktivieren und seine Körpertemperatur zu erhöhen -er ist einfach bereit.
Offensichtlich spielen wir nicht in derselben Liga wie ein Leopard. Wir müssen uns vor anstrengender Aktivität aufwärmen, wir müssen üben und uns gute Bewegungsmuster aneignen. Das bedeutet aber, dass wir darauf hinarbeiten sollten, das Beste aus uns herauszuholen, um dann die motorische Kontrolle und den gesamten Bewegungsumfang zu nutzen, mit denen wir jede Aktion hinbekommen. Leoparden müssen nicht an ihrer Geschmeidigkeit arbeiten. Die meisten von uns dagegen können sich schon allein deshalb...