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Wertschätzung – Schlüssel zum Lebensglück
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort;
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
JOSEPH VON EICHENDORFF (1788–1857)
2.1Der Unterschied zwischen Wertschätzung und Respekt
Ich erinnere mich an meine Schulzeit: Es gab Lehrer und Lehrerinnen, vor denen ich Respekt hatte. Es gab aber auch Lehrer, die respektierte ich nicht nur, sondern schätzte sie aufgrund ihrer Persönlichkeit – soweit sie sich mir erschloss. Da war mein Englischlehrer in der Oberstufe, Herr Kölbl. Er legte nicht besonders viel Wert auf Disziplin, was manche Mitschüler ausnutzten. Waren sie zu unaufmerksam, konnte er durchaus wütend werden. Doch für mich war er ein wahrer Philosoph! Er beeindruckte mich mit seinen klugen Fragen, die wir – natürlich auf Englisch – der Reihe nach beantworten mussten. Zum Schluss gab er seine eigene Antwort. Er brachte sich dabei als Individuum ein, versteckte sich nicht hinter Lernzielen und Lehrplan. Er teilte uns etwas von sich selbst mit, was ich als Geschenk ansah. Manche seiner eigenen Antworten habe ich heute noch im Ohr. Ich bewunderte seine umfassende Bildung und seine souveräne Freundlichkeit, die er sich in einem langen Lehrerdasein bewahrt hatte. Herr Kölbl war der einzige männliche Lehrer, den ich nach meinem Abitur noch einmal – er war inzwischen pensioniert – privat besuchte, und wieder war ich hingerissen von seiner persönlichen Ausstrahlung, seiner nonchalanten Offenheit und seinem Wissensdurst. Gern hätte ich ihn noch öfter besucht, doch er zog weit weg.
Deutlich wird: Wir können jemanden wertschätzen, was gleichzeitig impliziert, dass wir Respekt – im Sinne von Achtung – vor ihm haben. Wir können jemanden aber auch nur respektieren, ohne ihn als Mensch wertzuschätzen.
Nicht zuletzt besteht auch die Möglichkeit – und Notwendigkeit! –, dass wir jemanden gedanklich und emotional nicht respektieren und ihn dennoch mit Respekt behandeln, weil er durch seine Funktion eine gewisse Autorität besitzt. Das kann z. B. der Polizist sein, der mich zum Vorzeigen meines Führerscheins auffordert, oder die Richterin, deren Urteilsspruch ich zunächst einfach akzeptieren muss, auch wenn er meinem subjektiven Rechtsempfinden in keiner Weise entspricht. Der Respekt gilt hierbei nicht unbedingt dem Menschen – den wir ja oft gar nicht persönlich kennen –, sondern der Tatsache, dass dieser Mensch dank seiner Position gewisse Befugnisse hat.
Dass diese Autorität unabhängig von unserer persönlichen Meinung oder Einsicht gilt, musste auch ich als Jugendliche lernen. Ich stand auf Kriegsfuß mit unserem Ortspolizisten, der mich immer wieder maßregelte, wenn er mich beim Fahrradfahren ohne funktionierendes Rücklicht antraf. Meiner Meinung nach war er ein kleinkarierter Wichtigtuer, der mich nur schikanieren wollte. Eines Abends, ich war vielleicht 13 oder 14 Jahre alt und auf dem Weg nach Hause, erwischte er mich wieder einmal mit nicht ausreichender Beleuchtung meines Fahrrads. In der Nähe befand sich der Arbeitsplatz meines Vaters und ich sah, dass in dessen Büro noch Licht brannte. Wütend forderte ich den Polizisten auf, mit mir zu meinem Vater zu gehen. Der Polizist willigte tatsächlich ein und siegessicher kreuzte ich mit ihm bei meinem verdutzten Vater auf. Wir schilderten ihm den Fall – und zu meiner grenzenlosen Enttäuschung schlug sich mein Vater auf die Seite des Polizisten und gab diesem recht. Ich empfand dies natürlich als Verrat und Feigheit vor dem Feind, zumal mein Vater es später, bei uns zuhause, nicht für nötig hielt, mir seine Entscheidung zu erklären. Wahrscheinlich war es ihm schon peinlich – und lästig! – genug gewesen, dass seine Tochter den Polizisten wegen einer solchen Lappalie zu ihm ins Büro geschleppt hatte. Heute ist mir klar, dass mein Vater ganz nüchtern unterschieden hatte zwischen seiner persönlichen Meinung und geltendem Recht, das der Polizist eindeutig auf seiner Seite hatte. Ich vermute, dass mein Vater die Tatsache eines fehlenden Rücklichts persönlich vollkommen unwichtig fand, doch er respektierte die Funktion des Polizisten als „Hüter des Gesetzes“ und verlangte dies auch von mir. Ein kluges Verhalten, das ich damals jedoch absolut nicht nachvollziehen konnte.
Respekt setzt also keineswegs Wertschätzung oder Sympathie voraus – doch Wertschätzung ist nicht ohne Respekt denkbar.15 Sie geht allerdings über Respekt hinaus, weil emotionale Wertschätzung mit Sympathie und Verbundenheit verknüpft ist, wie wir noch sehen werden.
Zur Verdeutlichung des Unterschieds sei abschließend die Frage gestellt: Haben Sie Ihre Großeltern nur respektiert oder auch wertgeschätzt, ja womöglich innig geliebt? Ich weiß aus vielen Erzählungen und eigener Erfahrung, dass es früher selbstverständlich war, alten Menschen mit Respekt zu begegnen, teilweise wurden sie sogar mit „Ihr“ angesprochen. Dieser Respekt war nicht unbedingt angeboren, sondern wurde den Kindern anerzogen, ja diktiert! Wenn die Großeltern allerdings liebevoll und warmherzig waren und kein Klima der Furcht aufkommen ließen, so verband sich der uns „verordnete“ Respekt schon bald mit Vertrauen und Zuneigung. Man liebte sie und kam gern zu ihnen. Waren die Großeltern – manchmal auch nur ein Großelternteil – jedoch streng, unnahbar und kühl, so blieb es beim Respekt; eine gewisse emotionale Distanz wurde nie durchbrochen.16 Anhänglichkeit setzt voraus, dass man sich mit seiner Zuneigung irgendwo „anhängen“ kann. Das ist nur möglich bei Menschen, die nahbar und aufgeschlossen sind und emotionale Verbundenheit mit ihrem Gegenüber anstreben.
2.2Wertschätzung – Sehnsucht des Menschen
Der Freiburger Medizinprofessor und Psychotherapeut Joachim Bauer schreibt in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“: „Kern aller (menschlichen) Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben. Wir sind aus neurobiologischer Sicht auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“ Und weiter: „Nichts aktiviert die Motivationssysteme des Menschen so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und – erst recht – die Erfahrung von Liebe.“17
Was Bauer hier mit den nüchternen Worten des Wissenschaftlers darlegt, ist den meisten Menschen nicht bewusst: Hinter fast allem, was wir anstreben und tun (oder auch lassen), verbirgt sich der Wunsch nach Wertschätzung. Er kann sich in sehr verschiedenen Formen ausdrücken – in der Sorge um das perfekte Aussehen oder um das eigene Ansehen, im beruflichen Ehrgeiz ebenso wie im Machthunger, im Streben nach Statussymbolen ebenso wie im ehrenamtlichen Engagement oder im leidenschaftlich betriebenen Freizeitsport. Was Letzteres betrifft, so fällt auf, dass zunehmend mehr Menschen – man denke nur an die zahllosen Marathonläufe – ihr Ansehen durch sportliche Leistungen aller Art zu steigern versuchen. Auch das Smartphone wird immer mehr zur Selbstdarstellung genutzt – Bilder, Blogs, Facebook-Einträge und -kommentare, Chatrooms, Twitter und viele andere Möglichkeiten zeigen, wie begehrt und beliebt diese Plattformen sind, um von den Mitmenschen in irgendeiner Form positive Rückmeldung und Zuwendung („Likes“!) zu erhalten. Ganz zu schweigen von der überbordenden Kommunikation per WhatsApp, die (abgesehen vom manchmal wichtigen Informationsaustausch) auch als ein Ruf nach Aufmerksamkeit und Antwort verstanden werden kann. Es ist – auch – die latente Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, die Menschen zum permanenten Kommunizieren motiviert.
Bauer stellt lapidar fest: „Das meiste, was wir im Alltag tun, ist direkt oder indirekt dadurch motiviert, dass wir wichtige Beziehungen zu andren Menschen gewinnen oder erhalten wollen.“18 Faszinierend ist in diesem Zusammenhang der Begriff der „Resonanz“, den Hartmut Rosa in seinem gleichnamigen Buch19 mit wissenschaftlicher Gründlichkeit als ein Grundbedürfnis des Menschen entfaltet. Der Mensch, so Rosa, bedarf der Reaktion, ja: der Antwort des Mitmenschen, um sich wahrgenommen und wertvoll zu fühlen. Natürlich können uns auch ein Tier, eine Pflanze oder lebendige Materialien aller Art faszinierende Resonanzerfahrungen schenken. Doch schon die ältere der beiden Schöpfungsgeschichten macht deutlich, dass der Mensch den Mitmenschen nicht entbehren kann: Adam ist erst zufrieden, als Gott ihm eine „Gefährtin macht, die um ihn sei“20.
Rosa unterscheidet zwischen „Resonanzerfahrungen“ und kontinuierlichen...