11I. Programm
A. Problemaufriss
Das dominierende rechtswissenschaftliche Verständnis sieht internationale Gerichte als Instrumente der Streitbeilegung, die der Konsens der sie tragenden Staaten rechtfertigt und in deren Namen sie entscheiden.[1] Dieses Verständnis ist heute unzulänglich. Es blendet wichtige gerichtliche Funktionen und die legitimatorische Problematik aus, so dass es eine erfolgreiche Tätigkeit der internationalen Gerichte und ihre zeitgemäße Weiterentwicklung behindert. Es bedarf eines neuen Ansatzes.[2] Wir legen anhand von drei Grundbegriffen die Schwächen des herrschenden Verständnisses dar und unterbreiten ein neues, das internationale Gerichte als Träger öffentlicher Gewalt präsentiert. Die Begriffe lauten: Multifunktionalität, internationale öffentliche Gewalt und Demokratie.
Ausgangspunkt ist das Erstarken der internationalen Gerichtsbarkeit[3] in den letzten zwei Jahrzehnten, eine der markantesten jüngeren Entwicklungen im Völkerrecht.[4] Viele Gerichte sind heute Institutionen globalen Regierens, da sie helfen, gemeinsame Ziele in der Weltgesellschaft zu verfolgen und Kooperationsprobleme zu überwinden. Wie wenige andere Institutionen dienen sie dem Versprechen des Völkerrechts, zur internationalen Gerechtigkeit beizutragen. Dabei gehen sie über ihre traditionelle Funktion als 12bloße Streitschlichter hinaus, da ihre Entscheidungen auch normative Erwartungen stabilisieren und sogar erzeugen. Oft kontrollieren und legitimieren sie zudem andere Institutionen. Diese Multifunktionalität ist im Prinzip willkommen, birgt jedoch neue Probleme eines gouvernement des juges.[5] Im Mantel der Rechtserkenntnis sind internationale Gerichte zu Akteuren erstarkt und üben internationale öffentliche Gewalt aus. Diese Einsicht sollten Interpretation und Fortentwicklung des Rechts berücksichtigen.
Demgegenüber gehen viele Darstellungen des Völkerrechts weiterhin davon aus, dass internationale Gerichte nur als Institutionen der Streitbeilegung zu begreifen sind.[6] Entsprechend werden sie gemeinsam mit »guten Diensten« oder der politischen Schlichtung abgehandelt.[7] Unbestritten ist dieses Verständnis im positiven Recht angelegt. Art. 33 Abs. 1 SVN reiht schiedsgerichtliche und gerichtliche Entscheidungen in Mechanismen der »friedliche[n] Regelung von Streitfällen« (Kapitel VI SVN) ein, neben Verhandlung oder Vermittlung. Dies mag 1945, als Art. 33 SVN formuliert wurde, ja sogar noch 1990 plausibel gewesen sein. Die Akteurseigenschaft vieler Gerichte lässt es heute jedoch angeraten erscheinen, sie systematisch an einem ganz anderen Ort anzusiedeln, nämlich im Recht der internationalen Institutionen.[8]
Die herrschende legitimationstheoretische Analyse ist ähnlich defizitär wie die funktionale. Die traditionelle Sichtweise rechtfertigt internationale Gerichte aus dem Staatswillen, nämlich dem Konsens der streitenden Staaten.[9] Diese Legitimationskonstrukti13on beruht auf der genossenschaftlichen, privatrechtlich inspirierten Grundlegung des Völkerrechts.[10] Soweit sich internationale Richter zu ihren legitimatorischen Grundlagen äußern, haben sie sich dem oft angeschlossen. So schreibt der Appellate Body der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) ebenso programmatisch wie legitimationserheischend: »The WTO Agreement is a treaty – the international equivalent of a contract. It is self-evident that in an exercise of their sovereignty, and in pursuit of their own respective national interests, the Members of the WTO have made a bargain.«[11] Wir bestreiten nicht, dass der Konsens der Staaten eine weiterhin wichtige Legitimationsressource bildet. Er allein vermag viele Entscheidungen der letzten Jahrzehnte jedoch nicht mehr zu tragen.
Wir sind nicht die Ersten, welche auf die Defizite des herrschenden Verständnisses reagieren. Seit Langem sieht sich das staatenorientierte Grundverständnis von einem gemeinschaftsorientierten Ansatz herausgefordert, der internationale Gerichte als Organe der internationalen Gemeinschaft begreift und aufwertet.[12] In neuerer Zeit tritt zudem ein regimeorientiertes Grundverständnis auf den Plan, das internationale Gerichte im Lichte ihres Beitrags zur Global Governance deutet.[13] Diesen beiden Verständnissen sind wichtige Einsichten und Entwicklungen zu verdanken. Allerdings erweist sich ihr Zugang letztlich ebenfalls als unzureichend, wie eine Analyse anhand unserer Grundbegriffe ergeben wird.
Die Frage nach den Legitimationsressourcen internationaler 14Gerichte ist nicht rein akademisch, sondern reagiert auf öffentliche Diskurse. Besondere Aufmerksamkeit genießt die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit. Nicht wenige Autoren begreifen es als ebenso expansiv wie einseitig, wenn etwa staatliche Maßnahmen in wirtschaftlichen Krisensituationen oder zum Schutz der Umwelt beschnitten werden.[14] Dies betrifft nicht nur ferne Länder: Deutschland sollte die Bürgerschaftswahl der Stadt Hamburg 1,4 Milliarden Euro kosten. Diese Summe verlangte der klagende schwedische Energiekonzern Vattenfall als Schadensersatz dafür, dass die neue Regierung ein Wahlversprechen umsetzte und die ökologischen Auflagen an ein geplantes Kraftwerk entgegen vorausgegangenen Zusagen verschärfte.[15] Die hanseatische Demokratie hat nunmehr einen Preis. Akzeptanzprobleme haben auch Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), wenn sie etwa die Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter verbieten[16] oder ihnen das Wahlrecht zusprechen.[17] Der Gerichtshof der Europäischen Union lässt die Nichtbefolgung von WTO-Berichten ausdrücklich zu.[18] Einen deutschen Staatsbürger hat amerikanischer Ungehorsam gegenüber dem Internationalen Gerichtshof (IGH) das Leben gekostet.[19] Das Bemühen des An15klägers des Internationalen Strafgerichtshofs, sein kostspieliges Gericht endlich mit einer Verurteilung zu legitimieren, haben dieses Gericht in eine Legitimationskrise geführt.[20]
Die kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der internationalen Gerichtsbarkeit ist drängender denn je.[21] Wir sehen eine entsprechende Rekonstruktion der Tätigkeit internationaler Gerichte noch aus einem weiteren Grund als dringlich an. Zu Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts zeichnet sich eine neue internationale Ordnung ab, in der Staaten und regionale Zusammenschlüsse außerhalb des politischen Westens an Gewicht gewinnen und zunehmend gestaltend auf die internationalen Beziehungen einwirken. Das Projekt der Verrechtlichung und Vergerichtlichung der internationalen Beziehungen muss sich in diesem Kontext neu behaupten.[22] Es wäre dabei keine gute Strategie, Kritiken zu vermeiden, um das Projekt nicht selbst zu schwächen. Dies wäre ein Schritt zur Ideologisierung der internationalen Gerichtsbarkeit. Wir meinen, dass eine kritische Rekonstruktion mit den drei Grundbegriffen Multifunktionalität, internationale öffentliche Gewalt und Demokratie angemessener, überzeugender und letztlich erfolgversprechender ist.
16B. Neue Grundbegriffe für internationale Gerichte
1. Multifunktionalität
Unser erstes Anliegen lautet, internationale Rechtsprechung multifunktional zu erschließen und damit die eindimensionale Fixierung auf Streitbeilegung zu überwinden.[23] Sie sollte nicht aus einer beherrschenden Funktionszuschreibung heraus verstanden werden. Wenn ein Gericht »einen Fall entscheidet« und dabei »das Recht anwendet«, hat dies in aller Regel verschiedene rechtliche und soziale Konsequenzen, die man als Funktionen betrachten kann. Als Funktionen verstehen wir die Leistungen, die ein Akteur als Beitrag zu einem Ganzen erbringt. Festgehalten sei dabei, dass ein solcher Beitrag aus sich heraus eine Institution nicht legitimiert. Wir sehen die apologetische Versuchung funktionaler Argumente, aber unsere funktionale Analyse ist Instrument demokratisch inspirierter Kritik.
Ein Rechtsphänomen erschließt sich gemeinhin auf zwei Wegen: über seinen Begriff und seine Funktion. Die Arbeit am Begriff richtet sich auf eine Bedeutungsfestsetzung.[24] In diesem Sinne fassen wir – ganz konventionell – den Begriff des Gerichts als Institution, in der unabhängige und unparteiliche Personen nach vorgegebenen rechtlichen Maßstäben und in einem geordneten Verfahren in Rechtsfragen eine bindende Entscheidung treffen.[25] Die Institution wird so über ihre Tätigkeit definiert, die gemeinhin als Rechtsprechung gilt. In diesem Sinne sind internationale Gerichte aufgerufen festzustellen, was das Recht ist. Exemplarisch bestimmt Art. 38 IGH-Statut als Aufgabe des Gerichts, »die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden«.
17In der funktionalen Betrachtung geht es hingegen darum, den Beitrag dieser Institution oder charakteristischen Tätigkeit für ein größeres Ganzes anzugeben. Nun ließe sich, entlang den etablierten Lehren der Staatsfunktionen,[26] sagen, das sei eben die Rechtsprechung im Singular. Dies entspräche einem Funktionsbegriff, wonach eine Institution immer nur eine Funktion erbringt. Eine Funktion ist danach »diejenige Eigenschaft eines Systems, die eine bestimmte Eingabe (input) in das System mit einer bestimmten Ausgabe (output) verbindet«.[27] Eine solche Zusammenlegung von Begriff und Funktion erscheint jedoch...