2 Albtraum mit Praxisbezug
2.1 Aufbruchstimmung
Mit seiner beruflichen Entwicklung war Alois Moosberger durchaus zufrieden. Der Internist hatte sich wenige Jahre nach dem Medizinstudium habilitiert und war schließlich von Lausanne auf eine höchst attraktive Stelle in einer Münchner Klinik gewechselt. Überstunden fielen hier eher selten an, und so kam er meistens pünktlich nach Hause, wo leider niemand auf ihn wartete – seit Jahren schon war er Single. Einen wirklichen Freundeskreis hatte er nicht, und auch keines der Hobbys, die er im Lauf der Jahre halbherzig ausprobiert hatte, konnte ihn wirklich begeistern. Alois Moosberger lebte für seinen Beruf.
Der Mittvierziger wusste, was in ihm steckte. Er war ein ausgezeichneter Internist, und er träumte schon lange von einer eigenen Praxis. Was ihm als Einzelgänger jedoch fehlte, war eine konkrete Möglichkeit, vielleicht auch ein letztes Quäntchen Energie und Zutrauen, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Eines Tages stieß er im Ärzteblatt auf eine Annonce: „Internist sucht Partner für Praxisgemeinschaft in bester Münchner Lage ...“. Alois Moosberger griff zum Hörer und führte ein vielversprechendes Telefonat mit Herbert Hinterdorfer, 42 Jahre, ebenfalls Single. Hinterdorfer träumte Moosbergers Traum – er wollte die erfolgreichste Praxis Münchens aufbauen. Moosberger wusste: Das war sein Mann.
Diese Gewissheit wuchs bei den persönlichen Treffen. Sie gingen viermal zu einem dieser neuen Nobel-Italiener mit vorzüglicher Weinkarte, dann waren sie beim Du und sich absolut einig: Um eine Praxis in dieser Größenordnung aufzusetzen, waren sie wirklich ein Dream-Team – was für ein Glück. Gemeinsam würden sie viel erreichen können; die berufliche Zukunft lag in den wärmsten Farben vor ihnen, und Herbert kannte sogar einen versierten Rechtsanwalt, der den ansprechend formulierten Vertrag zur Gründung einer „Berufsausübungsgemeinschaft“ in München vorbereitete. Alois und Herbert unterzeichneten gern, die Zulassungsstelle hatte keine Einwände – der Anfang war gemacht.
Das gemeinsame Kind erhielt einen besonders schönen Namen: „Internistisches Zentrum Dres. Moosberger und Hinterdorfer“ stand auf dem blank polierten Schild neben dem Eingang. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn ein „Zentrum“ waren sie nun wirklich nicht. Aber es entsprach dem Selbstverständnis der frischgebackenen Praxisinhaber. Alles schien perfekt und Alois Moosberger kündigte leichten Herzens seine Stelle. Er startete voller Elan an der Seite seines neuen Kompagnons. Nicht im Traum hätte er vermutet, dass er gerade die größte Dummheit seines Lebens beging.
2.2 Ein Kaltstart
Aller Anfang ist schwer – das galt auch für die junge Praxis Moosberger-Hinterdorfer. Hier lief das Praxisgeschäft deutlich geruhsamer an, als die beiden Ärzte gehofft hatten. Der ganz große Patientenansturm blieb aus. Moosberger und Hinterdorfer reagierten zunächst überrascht und dann nervös. Nach einigen flauen Monaten war die Stimmung gereizt: Es fehlte entschieden am Umsatz. Die Praxisausstattung war erstklassig und in edlem Design, also alles andere als günstig – und die drei neuen Arzthelferinnen erwarteten pünktlich ihr Gehalt. Ihre Einstellung hatte zu ersten Reibereien geführt – man war sich uneins über die Qualität der Bewerberinnen. Schlimmer aber war, dass die monatlichen Bank-Raten wirklich zu drücken begannen.
Trotzdem war die Lage nicht hoffnungslos, darin waren sich die beiden einig. Sie hatten ja alles, was man in Gründerzeiten brauchte: große Pläne, Patienten, die anderen Patienten von ihrer neuen Praxis erzählten, und alle Zeit der Welt – denn als Singles konnten sie arbeiten bis zum Umfallen, und das taten sie auch. Ihr gemeinsames Projekt schweißte sie weiter zusammen. Alois Moosberger erinnerte sich später gern an diese Zeit, in der er mit Herbert an einem Strang gezogen hatte. Es fühlte sich an wie gute erste Ehejahre – man stand in guten wie in schlechten Zeiten zueinander, hielt die Kritik gemeinsam aus und feierte zusammen erste Erfolge. Unter dem Strich waren die beiden zufrieden: Alles schien irgendwie machbar, jedes Problem ließ sich lösen, ein Hauch von Goldgräberstimmung lag in der Luft. „Am Anfang muss man halt Gras fressen“, sagte Herbert zuweilen – „aber irgendwann wird die Welt da draußen wissen, dass es uns gibt.“
2.3 Goldene Zeiten
11 Monate dauerte die Durststrecke, fast über Nacht kam dann die Wende. Eine prominente Fernsehmoderatorin verirrte sich in die Praxis – und war von der Behandlung der beiden Mediziner begeistert. Sie war so begeistert, dass sie die Welt da draußen informierte – mit einem Interview in der Boulevardpresse. Das Lob der Moderatorin zeigte Wirkung, ab jetzt stand das Praxistelefon nicht mehr still. Berühmte und weniger berühmte, aber durchweg begüterte Menschen wollten von Moosberger-Hinterdorfer behandelt werden. Die Prominenten warteten bald wochenlang auf einen Termin – und ihre Prominenz übertrug sich allmählich auf ihre Ärzte. Die Gründungswehen schienen überstanden, endlich! Die erfolgreichste Praxis Münchens war kein Traum mehr. Im Schnitt arbeiteten sie 14 Stunden täglich und belohnten sich dafür auf ihre Weise. Zu Hause wartete immer noch niemand auf sie, das allgemeine Lebensgefühl stieg aber trotzdem. Nicht nur ihre Gesellschafterversammlungen fanden in Spitzen-Restaurants statt, auch ihre mittlerweile 5 Angestellten luden sie hin und wieder zum Essen ein. Alois entdeckte seine Leidenschaft für Oldtimer, Herbert kaufte sich seinen ersten Zigarrenschrank. Beide vergaßen allmählich, dass es nicht zwingend so weitergehen musste.
2.4 Arbeitsteilung?
Nach einem knappen Jahr nach der „Wende“ bemerkte Alois Moosberger, dass sich sein Kompagnon zu verändern schien. Es fehlte zunehmend an Zuverlässigkeit – Hinterdorfer begann, seine Pflichten zu vernachlässigen. Morgens kam er oft später in die Praxis, er ließ Patienten ohne Vorankündigung warten und brachte die Damen am Empfang in Erklärungsnot. Was war da los? Moosberger war ratlos.
Anfangs konnte er Hinterdorfers Ausfälle noch kompensieren – wenn es ging, behandelte er dessen Patienten einfach selbst. Die Arzthelferinnen banden rhetorische Schleifen: Herr Dr. Hinterdorfer habe eine Autopanne. Er stecke im Stau fest. Er sei gerade selber beim Arzt. Das Praxisteam hoffte auf eine Phase, die bald vorübergehen werde. Und Moosberger überlegte, ob sein Partner vielleicht einfach eine kleine Pause brauchte. Immerhin arbeiteten sie beide zu viel.
Doch diese Phase ging nicht vorüber. Dr. Hinterdorfer kam mittlerweile täglich zu spät in die Praxis, ohne seinem Partner eine Erklärung zu geben. Der Unmut der Patienten, die zum Teil monatelang auf einen Termin bei ihm gewartet hatten, wuchs – und Moosberger bekam den Unmut ab. Auch das Praxispersonal spürte, wie die Stimmung kippte. Moosberger arbeitete immer mehr, er war zunehmend erschöpft und allmählich gingen ihm neben der Lust auch die Ausreden aus. Gerüchte über Hinterdorfer machten die Runde, einige Patienten erkundigten sich am Empfang über angebliche Liebschaften, Alkohol und Party-Exzesse.
Nach einigen Monaten hatte Alois Moosberger genug. Er war fertig mit den Nerven, ratlos und wütend. Als sein Partner mittags im Sportoutfit in der Praxis erschien, meldete Moosberger mit knappen Sätzen Gesprächsbedarf an. Sofort. Hinterdorfer zuckte mit den Schultern und nickte. Er sah ohnehin nicht so aus, als wolle er sich gleich in die Arbeit stürzen. Also folgte er Moosberger in dessen Büro und schloss die Tür. Das klärende Gespräch entwickelte rasch eine Lautstärke, bei der auch Arzthelferinnen und Patienten viel Neues erfuhren – ein heftiger Schlagabtausch, der weit über die Grenzen Münchens für neuen Gesprächsstoff sorgte.
Immerhin: Hinterdorfers Erklärung für sein Verhalten war originell. Sein Outfit stehe nicht für Arbeitsverweigerung, sondern für seine hohe Einsatzbereitschaft – nachts und an den Vormittagen akquiriere er damit gezielt Kunden für die Praxis. Und zwar dort, wo die zahlungskräftigen Patienten der Zukunft seien: in den Szenebars, Clubs und Restaurants, am See oder auf dem Golfplatz. Er sei quasi rund um die Uhr für die Praxis unterwegs. Alois Moosberger verschlug es allmählich die Sprache. Nicht ein einziges seiner Argumente drang durch – und dass er die Praxis unmöglich alleine stemmen könne, ja, dass sich bereits die ersten Patienten abwandten, interessierte seinen Partner nicht nachhaltig.
Für einige Tage zeigte Hinterdorfer etwas guten Willen und erschien fast pünktlich zur Arbeit, doch bald schon glänzte er wieder durch Abwesenheit. Moosberger ackerte den ganzen Sommer lang, er kam morgens als erster und machte spätabends das Licht aus. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass immer mehr Patienten ausblieben. Der Ruf der Praxis litt spürbar und von Hinterdorfers „akquirierten“ Patienten fand kein einziger den Weg in die gemeinsamen Behandlungsräume. Seinen Geschäftspartner sah Alois Moosberger häufiger in der lokalen Regenbogenpresse als an ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz. Die Situation war unerträglich geworden.
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