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Eine andere Sichtweise
Auf die Stärken bauen
ZUR VORBEREITUNG
- Lesen Sie die Kapitel 1 und 2 von Wie anstrengende Kinder zu großartigen Erwachsenen werden.
- Halten Sie einen Stapel Karteikarten oder ein Writing Tablet und einen Stift bereit.
Die Hauptpunkte des Kapitels
- Fakten darüber, warum es so wichtig ist, dass Sie Ihr Kind positiv visualisieren.
- Übung, um positive Etiketten zu entwerfen.
- Beispiele, wie dieses positive Bild auch während anstrengender Zeiten beibehalten werden kann.
Dinge, die es zu beobachten gilt
- Welche Worte verwenden Sie, um Ihr Kind zu beschreiben?
- Wie reagiert Ihr Kind, wenn Sie etwas Positives über Ihr Kind sagen?
- Wie fühlen Sie sich, wenn jemand etwas Positives über Ihr Kind sagt?
Können die Erwartungen, die Sie an das Verhalten Ihres Kindes haben, dieses Verhalten unabsichtlich hervorrufen? Die Antwortet lautet: JA!
In einer berühmten Studie von A. S. King wurde einem Ausbilder für Schweißer gesagt, fünf Männer in seinem Kurs hätten das Potenzial, herausragende Schweißer zu werden. Tatsächlich waren die Männer nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden und nicht mehr und nicht weniger fähig als die anderen Kursmitglieder. Dem Ausbilder wurde gesagt, er solle damit lediglich über die hohe Begabung der fünf Männer informiert werden, er müsse sie deswegen nicht anders behandeln.
Am Ende des Kurses zeigten die Aufzeichnungen, dass die fünf zufällig ausgewählten Männer ...
- im Abschlusstest zehn Punkte mehr erreicht hatten als ihre Kollegen
- die Aufgaben in der Hälfte der Zeit der Kollegen lernten
- von ihren Kollegen zu den bevorzugten Arbeitspartnern gewählt wurden
- eine höhere Anwesenheitsquote hatten
Was war geschehen? Warum glänzten diese Männer, obwohl sie sich doch in Wirklichkeit nicht von den anderen unterschieden? Während der Ausbilder der festen Überzeugung war, bei diesen Männern nichts anders gemacht zu haben, zeigten Beobachtungen, dass er dies doch getan hatte. Dank dieser und weiterer Studien wissen wir heute, dass sich Ihr Verhalten verändert, wenn Sie etwas Gutes erwarten. Man bezeichnet dies als »Pygmalion-Effekt«.
Ein positives Bild führt dazu, dass Sie
- öfter lächeln
- mehr positives Feedback und mehr hilfreiche Hinweise geben
- mehr Informationen geben
- besser zuhören
- ausdrucksstärker, freundlicher und aufmunternder sind
- mehr interessante und herausfordernde Gelegenheiten bieten
Das Ergebnis: Die Person, von der Sie sich ein positives Bild aufgebaut haben, erlebt dadurch mehr Selbstvertrauen und erreicht eine höhere Leistung.
Ihre positive Sichtweise ist ein wesentlicher Faktor für den Erfolg Ihres temperamentvollen Kindes. Dieses positive Bild beginnt sich mit den Worten aufzubauen, die Sie zur Beschreibung Ihres Kindes wählen.
Temperamentvolle Kinder scheinen geradezu um Kennzeichnungen oder Etiketten zu betteln, leider nicht immer um positive. Daher ist es so wichtig, dass Sie sich der Etiketten bewusst werden, die Sie verteilen. Rufen diese Kennzeichnungen Assoziationen von Kindern hervor, die intelligent, kreativ, wissbegierig und künftige Führungspersönlichkeiten sind? Liefern sie Beschreibungen, die dazu führen, dass andere Sie darum beneiden, ein temperamentvolles Kind zu haben? Sorgen sie dafür, dass Sie vor Stolz kaum laufen können, anerkennend lächeln, glucksen vor Vergnügen und Erfolg erwarten? Das wollen wir uns einmal anschauen.
EINE ANDERE SICHTWEISE
Die Temperaturen waren in der vergangenen Woche stark gestiegen, und als Diane und ihre drei Jungs durch die Eingangstür des Zentrums hereinwirbelten, zerzauste eine warme Frühlingsbrise ihr Haar. Diane trug rosa Leggings mit einem langen Sweat-Shirt in Lila und Pink. Andy, ihr Jüngster, hing an ihrem Bein. Er wusste nicht so recht, ob er zur Familienzeit in den Kursraum für die Kinder gehen wollte. Wir zeigten ihm das Besprechungszimmer, in dem Diane sitzen würde, und ließen ihn einen Stuhl für sie aussuchen. Durch den Einwegspiegel zum Zimmer für die Kinder zeigte ich ihm die lila Knetmasse, die ihm in der Vorwoche so viel Freude gemacht hatte. Er sah auch seine Brüder, die bereits dabei waren, Würmer und Schlangen daraus zu formen, und entschied, es wäre vielleicht doch gar nicht schlecht mitzumachen. Wir gingen gemeinsam in den Kinderraum, und als es für Diane Zeit wurde, sich von ihm zu trennen, gab er ihr einen Kuss und umarmte sie, ohne zu weinen.
Nachdem wir uns alle im Besprechungszimmer versammelt hatten, kündigte ich der Gruppe an, wir würden gleich zur Sache kommen – zu den schlechten Tagen.
»Sie wissen ja«, sagte ich, »zu diesen Tagen, an denen Ihr Kind morgens um 10 Uhr bereits drei Auszeiten hatte. Wenn nichts von dem, was Ihr Kind macht oder was Sie machen, richtig ist. Wenn Sie ernsthaft überlegen, ob Sie es schaffen werden, noch einen Tag mit diesem Kind auszuhalten.«
»Oh«, seufzte Sarah. »Diese Tage!«
»Sie sollen ganz ehrlich sein«, sagte ich. »Unterdrücken Sie jegliche Zensur und lassen Sie sich einfach einmal gehen.«
»Super!«, rief Diane.
Brent stützte sein Kinn in die Hand und sah mich unter seiner Kappe heraus an. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich so richtig ungezügelt und frei fühlte, daher zog ich einen Stapel Karteikarten heraus und teilte jedem drei davon aus. »Schreiben Sie ein Wort oder einen Satz auf, der Ihr Kind an schlechten Tagen beschreibt«, machte ich zur Aufgabe. »Anschließend werden die Karten in der Mitte des Tisches gemischt und nach dem Zufallsprinzip gezogen und vorgelesen.«
Die Vertraulichkeit ließ einige interessante Etiketten beziehungsweise Kennzeichnungen entstehen.
Diane zog drei Karten und las sie freiwillig als Erste vor: »aufsässig«, »fordernd« und »kleiner Rotzlöffel«.
Ich zog eine Augenbraue in Richtung Brent hoch. Er grinste und hob unschuldig seine Hände. Ich glaubte ihm nicht. Die anderen lachten, ihre Stimmen wurden lauter, als es rund um den Tisch lebendiger wurde. Phil schnappte sich drei Karten, um zu sehen, was für Schätze da noch verborgen lagen. Er las: »emotionale Achterbahn«, »perfektionistisch« und – er hustete nervös, bevor er das letzte Kärtchen vorlas – »krankhaft pingeliger Quälgeist«.
Die Gruppe war unsicher, wie sie reagieren sollte. Einige lachten, andere stöhnten, einerseits wegen der Härte der Worte, andererseits weil sie die zugrunde liegende Wut spürten. Es herrschte Stille, bevor John drei Karten zog. »Negativ«, »irrational« und »weinerlich«, las er vor. Sarah griff nach dem Haufen. »Ungehorsam«, »manipulierend«, »muss immer sein eigenes Ding machen«, fügte sie hinzu.
Ich schrieb jedes Wort und jeden Satz an die Tafel. Im Raum verbreitete sich eine bedrückte Stimmung. Unbewusst ließen einige die Schultern hängen, als an der Tafel eine scheinbar überwältigende Herausforderung sichtbar wurde.
- Aufsässig
- Fordernd
- Kleiner Rotzlöffel
- Emotionale Achterbahn
- Perfektionistisch
- Krankhaft pingeliger Quälgeist
- Negativ
- Irrational
- Weinerlich
- Ungehorsam
- Manipulierend
- Muss immer sein eigenes Ding machen
- Stur
- Ablehnend
- Herrschsüchtig
»Was erstaunt Sie an der Liste?«, fragte ich.
»Es ist wirklich ernüchternd, wenn man das so geballt an der Tafel liest«, antwortete Phil mit matter Stimme. »Mir war nicht klar, dass ich so negativ eingestellt bin.«
»Ich empfinde Scham«, flüsterte Sarah. »Aber von meiner Familie höre ich immer, ich müsse ihm sagen, dass er böse ist. Sie sind der Meinung, dass er Ärger macht, weil ich ihm nicht sage, dass er böse ist. Es ist doch beschämend, ihm zu sagen, dass er böse ist, oder?«
»Das ist beschämend«, stimmte ich zu. »Und Studien zeigen, dass die Erwartung einer Katastrophe eine selbsterfüllende Prophezeiung werden kann.«
»Ja, genau«, stimmte...